Woran ich mich nicht erinnere I

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Ralf Langer

Mitglied
Woran ich mich nicht erinnere I

Wie lange

Ich schlafe.
Es ist Nacht. Das Telefon klingelt im Flur. Davon werde ich wach.
Ich höre die Stimme meines Vaters: brüchig, verschlafen.
„Was?“
Pause. Dann
„Ja, ich verstehe.“
Pause. Und wieder: „Ja.“

Ich höre wie der Telefonhörer auf die Gabel fällt.
Vater öffnet die Tür zum Kinderzimmer. Er wirkt besorgt und seltsam unschlüssig.
Als er sieht, dass ich wach bin, bleibt er in der Tür stehen. Er kratzt sich den Kopf,
schaut einen Moment zurück in den Flur, und wieder zu mir.
Dann setzt er sich ans Bett.

„Opa ist tot“ ,sagt er.
Ich lausche dem Klang der Worte, suche nach einer Antwort.
„Wie lange?“, höre ich mich sagen.
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Knapp und überzeugend erzählt.
Gruß Klaus Kuckuck
 

York

Mitglied
Hallo Ralf,

auch mir gefällt dein Text sehr gut. Ich mag die Verknappungen und auch dieses nicht ganz eindeutige Ende.

Dein Text beschäftigt mich auch, da ich für mich gerade kläre, was (für mich) Kurzprosa ist und wo die Grenzen sind zur Kurzgeschichte - auf der einen Seite - und auf der andern Seite zum Gedicht. Ist dein Text nicht (schon) Lyrik? Und gibt es hier (benennbare) Kriterien?

Vielleicht gibt es dazu Meinungen / Anregungen? Vielleicht hast du da auch eine Haltung, warum du den Text unter "Kurzprosa" postest?

Gruß
York
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo York,

das ist eine gute Frage. Wo endet Prosa und wo beginnt das Gedicht?
Hm, ja ich habe eine gewisse Einstellung dazu:
Meine Deutung und letztendlich Entscheidung zu dieser Frage liegt im Sinn des Wortes selbst. Ich glaube da gibt es zwischen dem Romancier und dem Lyriker zwei unterschiedliche Herangehensweisen.
In dedr Prosa benutzt der Schreiber Worte um einen narrativen Zusammenhang von A und B zu beschreiben. Worte sind ihm ein Werkzeug zur Schilderung von Zusammenhängen, Entwicklungen und Ereigisfolgen mit der Zeit.
In der Regel beschreibt er kausale Zusammenhänge.

Nicht so der Dichter:
Wie soll ich sagen. Ein Gedicht besteht aus drei Teilen: Dem Wort, der Struktur und dem Klang. Dies alles bilden eine Einheit. Das Wort ist hier mehr bzw. sogar etwas ganz anderes als das Wort in der Prosa. Hm, vielleicht ist es so, das das Wort dem Dichter etwas "heiliges" ist.
Es ist nicht nur sein Inhalt, es ist auch sein Klang, sein liedhaftes,und eben seine Metaphorik, die es dem Sinn nach(meta- phorein = Herübertragen/ziehen) mit anderen Worten und Ideen verbindet.

Also ist, um ein Bild zu bedienen, zum Beispiel, das Meer in der Prosa das was es ist( viel Wasser), in der Lyrik ist es aber auch die Quelle des Seins, es impliziert den Ort eines Übergangs, und als Klang ist es offen, am Zeilenende wird durch das gehauchte leicht simmhafte eine Erwartungshaltung geweckt.
Meer hat auch Konnotationen (meer - mehr -mär). Es öffnet Übergänge zu anderen teis sehr Kontroversen Worten, und bildet daurch andere Spannungsbezüge.

Hm, so in etwa sehe ich das.
Im vorliegenden Fall bin ich tatsächlich bemüht auch etwas lyrisches aus dieser kurzen Skizze zu machen. ( was mir bis jetzt nicht gelang)
So oder so wird es vermutlich noch weitere Miniaturen geben, die ich unter dem "Titel" :

Woran ich mich nicht erinnere

zusammenfassen möchte.

Dir einen herzlichen Gruß

Ralf
 

York

Mitglied
Hallo Ralf -

danke für die Ausführungen! Ich muss noch etwas drüber nachdenken, glaube aber, dass ich den Zuschreibungen gut folgen kann.
Ich denke, was mich gerade umtreibt, ob es mit der Kurzprosa nicht einen Zwischenbereich gibt / geben kann?
Aber das habe ich noch nicht zu Ende gedacht...

Gruß
York
 

York

Mitglied
Und zu Ji und zu Frankes Foren Text:

Franke schreibt dort als ein Kriterium, dass Zeilenumbrüche in den Bereich der Lyrik gehören. Dies würde ja den Text von Ralf eher der Lyrik zuordnen. Obwohl es bei der wörtlichen Rede ja auch wieder was anders ist. Aber die ersten drei Zeilen und der zweite Abschnitt wären demnach eindeutig Lyrik, oder?
Aber Franke schreibt auch, dass sich die Bereiche zunehmend vermischen, insofern ist mein gewähltes "eindeutig" schon falsch...

Franke schreibt auch, dass Aphorismen nicht zum Bereich der Kurzprosa zählen...
Ich habe ein Buch mit dem Titel: "Kurzprosa schreiben". Dort listet die Autorin viele Spielarten der Kurzprosa auf. Neben dem Aphorismus auch die Vignette, die Parabel, die Skizze, die Fabel, Groteske und sogar den Witz. Hier wird die Kurzprosa sehr weit gefasst. (Wobei ich nicht unbedingt sagen will, dass es richtig ist).

Gruß
York
.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Hallo Ralf,

für mich ist das eindeutig Kurzprosa. Das als kurzer Beitrag zur Diskussion. Aber eigentlich ist mir das auch nicht so wichtig.

Wichtiger für mich ist, wie mich der Text gepackt hat. Du hast diese Szene aus der Sicht des kleinen Jungen erzählt, und genau das hat in mir Erinnerungen hervorgerufen. Ich kann mich an drei ähnliche Szene erinnern, als ich in etwa in dem Alter war wie dein Prot (oder auch du selbst). Da war immer etwas Geheimnisvolles, etwa Tuscheln der Eltern, ein Anruf und diese Stille, als wohl die Nachricht durch den Hörer kam, und dann kamen die Eltern zögerlich und weihten uns Kinder ein. Solche Momente prägen sich ein, man weiß noch genau, wie und wo es war.

Und eine solche Szene hast du wunderbar lebendig und glaubwürdig in dieser kurzen Prosa in Worte gepackt. Danke dafür und für die Erinnerungen, die zwar traurig sind, aber eben auch zur Vergangenheit gehören.

LG
Cellist
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo in die Runde!

Für mich zählt der Text eindeutig zur Kurzprosa, weil ihm die lyrische Verdichtung fehlt. Wäre es unter Lyrik gepostet, hätte man es ein Prosagedicht genannt, mit ähnlicher Diskussion.
Ja, die Zeilenumbrüche. Ralf bewegt sich ja eher in der Lyrik und es geht auch mir bei meinen Kurzprosatexten oft so, dass ich mich regelrecht zwingen muss, diese Zeilenumbrüche nicht zu setzen.

Mir hat diese Kurzprosa sehr gut gefallen. Als mir damals der Tod meines Opas mitgeteilt wurde, habe ich als Kind ähnlich pragmatisch reagiert.

Liebe Grüße
Manfred
 



 
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