Wut

Sie ahnte, dass es ihr nicht mehr allzu lange gelingen würde, den Ausbruch der Tränen zurückzuhalten. Aus welchem Grund es ihr so wichtig war, sich die Angst, die inzwischen von allen ihren Sinnen Besitz ergriffen hatte, nach außen hin auf keinen Fall ansehen zu lassen, wusste sie selber nicht so recht; wahrscheinlich hatte es in irgendeiner Weise mit der in ihrer Familie von Generation zu Generation übertragenen Vorstellung zu tun, sich eher umbringen als sich seines Stolzes berauben zu lassen. Allerdings war es dort, wo sie aufgewachsen war, auch keineswegs üblich, junge Mädchen auf gewalttätige Ereignisse wie das, in das sie soeben geraten war,vorzubereiten. Gewalt, das war etwas, von dessen Vorhandensein man selbstverständlich wusste, doch das eigene Leben blieb davon gemeinhin unberührt. Folglich fehlte ihr jetzt nicht nur jedwede Übung darin, mit den eigenen Empfindungen fertig zu werden, sondern, was viel schwerer wog, auch die im Umgang mit den Nationalgardisten, die sich heute wieder einmal wie von Sinnen aufführten. Doch auch die vermutlich den Arbeitervorstädten entstammenden Jugendlichen, mit denen sie wie Vieh zusammengetrieben, festgenommen, abtransportiert und eingesperrt worden war, unterschieden sich in Sprache, Kleidung und Verhalten derart stark von allem, womit sie sich vertraut fühlte, dass sie vor ihnen kaum weniger Furcht verspürte als vor den Soldaten.
Alles, was sich in den letzten vier oder fünf Stunden ereignet hatte, kam ihr so unwirklich und fremd vor, als sei sie unversehens in einen Albtraum geraten. Noch nie in ihrem Leben war sie derart auf sich allein gestellt gewesen wie heute, weshalb zu ihrer Angst noch das grässliche Gefühl kam, nie und nimmer der Aufgabe gewachsen zu sein, unbeschadet aus dem Irrsinn, der sie umgab, heraus zu kommen. Sie würde versagen, sich selbst und der Familie Schande bereiten. Fieberhaft rang sie darum, sich einen gangbaren Ausweg auszudenken; doch bislang hatte sich nicht eine einzige rettende Idee einstellen wollen. Anscheinend blieb ihr nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, nichts anderes tun zu können als abzuwarten, was auf sie zukäme, und sich währenddessen nach Kräften darum zu bemühen, sich keine zusätzliche Blöße zu geben. Denn davon immerhin meinte sie ausgehen zu können: Ließe sie erkennen, wie sehr es jetzt schon gelungen war, sie einzuschüchtern, böte dies womöglich einen hochwillkommenen Anlass, sie, indem man sich an ihrer Angst und Hilflosigkeit weidete, noch weit ärger zu demütigen als bisher schon.
Sie presste die Lippen ganz fest aufeinander, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und zog Arme und Beine ganz dicht an den Körper heran, was sie aber ebenso wenig vor der unaufhaltsam in ihr hoch kriechenden Kälte bewahrte, wie das arg knappe, seit ihrer gewaltsamen Festnahme nur noch in Fetzen an ihr herunterhängende Sommerkleid, das sie ausgerechnet heute das erste Mal angelegt hatte; in Erwartung eines heißen, unbekümmerten Spätsommernachmittags, den sie mit einigen Freundinnen in den Geschäften und Cafés der Altstadt hatte zubringen wollen.
Trotz des ruhigen, gefassten Eindrucks, den nach außen hin zu erwecken ihr zu ihrer eigenen Verwunderung noch ziemlich gut gelang, war sie von lähmender Niedergeschlagenheit erfüllt. Es gab doch nun wirklich nichts, was sie sich vorzuwerfen hatte; außer vielleicht, wieder einmal ein wenig zu unbedacht gehandelt zu haben. Zugegeben, manchmal verhielt sie sich für ihr Alter recht unbefangen, womöglich ließ sich auch sagen naiv. Doch rechtfertigte das, wie eine Schwerverbrecherin gejagt, eingefangen, verprügelt und weggesperrt zu werden? Gewiss nicht! Allerdings wäre es wohl auch ziemlich töricht, würde sie jetzt so tun, als habe sie nie zuvor von den teils überaus hitzigen politischen Auseinandersetzungen gehört, die zuweilen im Zentrum der Stadt ausgetragen wurden. Immerhin war sie von ihrem Vater, der sich beruflich des öfteren mit den gemeinhin durchaus ernstzunehmenden Folgen derartiger Begebenheiten zu befassen hatte, wiederholt davor gewarnt worden, sich länger als unbedingt nötig oder ohne triftigen Grund in der Altstadt aufzuhalten, da die neuerdings an Zahl und Schärfe zunehmenden Krawalle in der Regel gerade in deren engen und unübersichtlichen Gassen zum Ausbruch kämen.
Als verursachte es ihr nicht schon Unbehagen genug, einsehen zu müssen, dass es nicht sehr gescheit gewesen war, seine Warnungen leichtfertig in den Wind geschlagen und sich der einfältigen Vorstellung hingegeben zu haben, Unbeteiligte genössen das Vorrecht, unbeteiligt zu bleiben, begann sich nun auch noch das schlechte Gewissen in ihr zu regen; denn angesichts der Umstände ließ sich nicht mehr bestreiten, dass sie sich ihrem Vater gegenüber kürzlich arg ins Unrecht gesetzt hatte.
Anlässlich einer erneuten Verhaftungswelle, die, wie er besorgt angemerkt hatte, jedes bisher gekannte Maß zu sprengen drohte, hatte er ihr während eines gemeinsamen Abendessens seine Ansichten über die zunehmenden politischen Spannungen und deren Hintergründe und Auswirkungen, die man tagtäglich in den Straßen der Stadt beobachten könne, darzulegen versucht. Ihr aber waren gerade ganz andere Dinge durch den Kopf gegangen, die mit dem, wovon er sprach, nicht das Geringste zu tun hatten. Eine Weile lang hatte sie trotzdem so getan, als höre sie ihm zu, doch schließlich waren ihr seine wie üblich recht langatmigen Ausführungen so sehr auf die Nerven gegangen, dass sie seine Rede voller Ungeduld mit der dann auch erheblich patziger, als es für gewöhnlich ihre Art war, ausgefallenen Erklärung unterbrochen hatte, dass sie mit dem von ihm thematisierten Vorgängen weder etwas zu tun habe, noch zu tun haben wolle, und außerdem die Anschauung vertrete, dass, wer glaube an politischen Veranstaltungen teilnehmen zu müssen, über deren wahre Anliegen man letzten Endes nur Mutmaßungen anstellen könne, doch wohl auch wissen müsse, auf was er sich einließe, und also auch selbst die Verantwortung trüge für das, was ihm blühe, würde man seiner habhaft werden. Überdies, hatte sie dann noch hinzugesetzt, sei sie, was ihm eigentlich bekannt sein dürfe, mit ihren beinahe achtzehn Jahren allemal alt genug, um selbst auf sich aufzupassen und auch selbst zu entscheiden, wann sie sich wo aufzuhalten gedenke.
Ihr Vater hatte überrascht aufgeschaut, gedankenverloren die Stirn kraus gezogen und milde gelächelt; seine Rede aber nicht wieder aufgenommen. Seither war über diese Angelegenheit zu Hause nie mehr gesprochen worden; jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Es kostete sie einige Überwindung sich vorzunehmen, sich bei ihm, wäre sie erst einmal wieder zu Hause, für ihr ungehöriges Benehmen zu entschuldigen.

*​
Abgesondert von den anderen Inhaftierten, die sich, zumindest schien ihr das so, größtenteils kannten und sich im hinteren Drittel des Raumes zu unterschiedlich großen Gruppen zusammen gefunden hatten, in denen eng beieinander auf dem nackten Steinboden gesessen, sich angeschmiegt und getröstet, Wunden versorgt und trotz des strikten Verbotes ununterbrochen miteinander geflüstert wurde, war sie als Einzige nahe der Tür hocken geblieben. Anfangs noch einigermaßen zuversichtlich und stets auf dem Sprung, denn es könnte ja nicht mehr lange dauern, bis der Irrtum erkannt wäre und sich herausstellte, dass sie nicht dazu gehörte, sondern bloß durch Zufall und Unachtsamkeit zwischen die vor den heranwogenden Sicherheitskräften fliehenden Teilnehmer der Protestdemonstration geraten war, und demnach völlig zu Unrecht in dieser bedrückenden, modrig kalten und bis auf eine dürftige Notbeleuchtung lichtlosen Katakombe unter dem städtischen Stadion festgehalten wurde.
Doch mit zunehmender Zahl der Stunden, die verronnen waren, ohne dass ihre Hoffnung sich erfüllt hatte, war ihr diese, wie sie sich mittlerweile eingestand, aus nichts als der eigenen Einfalt gespeiste Zuversicht vollständig abhanden gekommen. An ihre Stelle war die bange Gewissheit getreten, dass es schon einem Wunder gleich käme, ließe man sie nach den vielen von Gewalt nur so strotzenden Übergriffen, die sie im Lauf des Tages hatte mit ansehen müssen, ungeschoren davonkommen.
Als das Gefühl, Kräften ausgeliefert zu sein, auf die sie nicht den geringsten Einfluss hatte, so stark wurde, dass sich ihr der Magen zusammenzukrampfen begann, sah sie sich veranlasst, sich mit der Frage zu befassen, ob es wirklich so klug gewesen war wie ursprünglich gedacht, sich von den anderen Jugendlichen ferngehalten zu haben; schließlich verfügten die offenbar über allerhand Erfahrung darin, Lebenslagen wie diese zu meistern. Zudem schmerzte es sie nicht wenig zusehen zu müssen, wie die anderen sich gegenseitig Zuspruch und Ablenkung verschafften, die auch ihr gut getan hätten. Anderweitig befand sie sich jedoch auch durchaus im Zweifel, ob die anderen es überhaupt zulassen würden, dass sie sich ihnen anschloss; zu tief schien ihr die Kluft zwischen denen und ihr, und zu verfestigt das über Generationen gewachsene Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Klassen, denen sie angehörten. Zu guter Letzt hegte sie auch noch die Befürchtung, es könnte ihr als nachteilig angerechnet werden, unterließe sie nicht alles, was den Verdacht nähren könnte, sich mit Leuten gemein gemacht zu haben, die, wie man sagte, mit ihren öffentlichen Kundgebungen Staat und Gesellschaft zu zersetzen trachteten. Denn woher sollten diejenigen, die über kurz oder lang eine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal treffen würden, auch wissen, dass der Kontakt erst hier drin zustande gekommen und ihr sowieso alles vollkommen zuwider war, was mit den Themen Politik, Wirtschaft und Recht zu tun hatte?
Bei allem Grübeln darüber, was zu tun wohl das Beste wäre, schaffte sie es nicht, zu einem Entschluss zu kommen, der ihr länger als nur für ein paar Sekunden überzeugend schien. Denn ganz gleich, wie sie sich auch entschiede, es war einfach nicht auszuschließen, dass sie mit allem, was sie sich ausdachte, ihre Lage möglicherweise noch verschlimmerte. So verharrte sie, wo sie war, biss, um das unkontrollierte Vibrieren ihrer Kinnlade zu unterbinden, die Zähne fest aufeinander und begann sich auszumalen, was sie alles unternähme, wäre sie wieder daheim: Ein langes, heißes Bad nehmen. Sich ein ausgiebiges Mahl gönnen. Ein Telefongespräch führen mit dem Vater, der gerade in der Hauptstadt weilte. Und dann für ein, zwei Stunden im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen, möglichst mit der beruhigend schnurrenden Katze auf dem Schoß, und ein bisschen von dem Jungen träumen, dem sie unlängst ein paar Mal in dem Supermarkt, in dem sie einzukaufen pflegte, begegnet war, und dann so schnell als möglich alles vergessen, was sich an diesem abscheulichen Tag zugetragen hatte.
Wenngleich ihr auch nur eine sehr ungenaue Vorstellungen darüber zu eigen war, was mit denjenigen geschah, die in unregelmäßigen Abständen zur Tür hinaus geschleift und, wie sich deutlich vernehmen ließ, unter beständigem Prügeln durch die schier endlosen unterirdischen Flure weggetrieben wurden, hatte sie nach einiger Zeit geradezu herbeizusehnen begonnen, endlich selber an der Reihe zu sein; denn mehr noch als die Angst vor dem, was man ihr antun könnte, zehrten das Warten, das Frieren und die Ungewissheit an ihrer merklich dahinschwindenden Kraft.
Als dann schließlich wieder einmal die Tür krachend aufgeflogen war und gleich fünf Uniformierte grimmigen Gesichts auf sie zusteuerten, sie wortlos packten, teils an den Armen, teils an ihrem dabei noch weiter zerreißenden Kleid über den Boden und durch die Tür hinaus auf den Flur zerrten und mit präzise gezielten Stößen ihrer langen Holzknüppel vor sich herzutreiben begannen, war es weitaus schlimmer als das, auf was sie sich innerlich vorbereitet hatte. Doch ärger noch als die körperlichen Qualen, setzte ihr eine überaus heftige Scham zu, deren Grund sie nicht begriff.
Nachdem sie um ein paar Ecken gebogen waren und sich der Flur, durch den die Gardisten sie vor sich hertrieben, zu einem rundherum mit Gittertüren ausgestatteten Raum erweitert hatte, hielten sie plötzlich an und umringten sie dermaßen eng, dass es ihr unmöglich gemacht war, ihnen zu entweichen. Unter dem beifälligen Grinsen der anderen zog schließlich einer von ihnen, ein eigentlich recht hübscher und nicht einmal unsympathischer junger Bursche, ein merkwürdiges Gerät aus seiner Tasche und sprühte ihr aus wenigen Zentimetern Abstand eine ätzende Flüssigkeit ins Gesicht, sie dabei mit keckem, unschuldigem Grinsen interessiert beobachtend, als erprobe er ein neues und außerordentlich lustiges Spiel. Schlagartig fühlte sie sich, als hielte man ihren Kopf in lodernde Flammen hinein. Ihre Atmung drohte zu versagen, und der Blutdruck ihr den Schädel zu sprengen. Ihre Beine gaben nach; sie würgte und erbrach sich, wobei ein paar Spritzer auf die Uniformen derjenigen gerieten, die nicht schnell genug gewesen waren, sich zur rechten Zeit in Sicherheit zu bringen.
Die daraufhin umso kräftiger ausgeteilten Stockhiebe spürte sie kaum noch, und nahm auch nicht mehr wahr, wie sie in großer Hast aus dem Stadiongebäude heraus, über das taghell erleuchtete Oval des Spielfelds geschleift und mit derbem Schwung in eine der Zellen eines dort parkenden Gefangenentransporters geworfen wurde, in der sie dann kopfüber und mit zwischen Sitzfläche und Wand verkeilten Schultern hängen blieb, das Gesicht dicht über dem mit Unrat bedeckten Boden.

*​
Sie begann zu sich zu kommen, als einige Zeit später der Dieselmotor gestartet wurde, fauchend aufheulte und sich das Fahrzeug schaukelnd in Bewegung setzte. Der Wagen fuhr ruckartig und mit hoher Geschwindigkeit, dass sie kaum wusste, wie sie es anstellen sollte, sich auf das als Sitzgelegenheit dienende, heimtückisch glatte Brett hoch zu hieven und anschließend auch darauf sitzen zu bleiben; es mangelte an jeder Art Vorrichtung, an der sie sich hätte festhalten können.
Aus den benachbarten Zellen konnte sie hin und wieder Rufen oder wütendes Hämmern gegen die Trennwände vernehmen, und ganz dicht neben ihr, wahrscheinlich nur getrennt durch eine drei oder vier Zentimeter dicke Sperrholzplatte, wimmerte und schluchzte es unablässig, nur manchmal übertönt von Schmerzensschreien oder Wutgeheul, wenn der Fahrer, was er vermutlich weniger aus Notwendigkeit denn aus schierer Bosheit tat, wieder einmal mit voller Kraft auf die Bremse gestiegen war, wobei, wie sie deutlich hörte, jedes Mal einige der Eingeschlossenen den Halt verloren und krachend zu Boden schlugen.
Immerhin minderte die kühle Zugluft, die der Fahrtwind durch eine offene Dachluke hereinströmen ließ, den widerwärtigen, beklemmenden Gestank des Reizgases und des Erbrochenen, der ihrer Haut und ihrer Kleidung anhaftete, soweit ab, dass sie es wagen konnte, ein paar Mal vorsichtig durchzuatmen, woraufhin ihre Gedanken langsam wieder etwas an Klarheit gewannen. Sie gab sich viel Mühe, sich mit einem weniger in Mitleidenschaft genommenen Fetzen ihres Kleides das noch immer höllisch brennende Gesicht abzureiben, und stemmte sich anschließend mit den Beinen und dem Rücken gegen die kunststoffbeschichteten Wände des winzigen Abteils, um nicht so wie bisher unausgesetzt darin herumgeschleudert zu werden.
Da in einer der Pausen in der Schule irgendwann einmal darüber gesprochen worden war, dass man Wohnsitzlose und andere in der Innenstadt nicht gern gelittene Leute aus dem Stadtgebiet herauszuschaffen und in dem Ödland jenseits ihrer Grenzen auszusetzen pflegte, verbiss sie sich in die Hoffnung, dass dieses Verfahren auch in ihrem Fall zur Anwendung käme, der Transporter bald irgendwo anhalten und man sie und die anderen hinausjagen würde; wobei es ihr völlig gleichgültig wäre, wo und wie das vonstatten ginge. Sie wollte einfach nur raus aus diesem ihr Platzangst verursachenden, menschenunwürdigen Käfig; selbst auf die Gefahr hin, dass ihr zum Abschied eine weitere Abreibung zuteil werden könnte, was, wie gleichfalls berichtet worden war, gemeinhin dazugehörte.
Doch die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Als sie es nicht mehr länger ertragen konnte, nicht zu wissen, wohin sie eigentlich unterwegs waren und wie spät es wohl sein könnte, und es ihr unter großer Anstrengung gelungen war, sich zu dem sehr weit oben angebrachten, kaum handtellergroßen Zellenfenster hoch zu hangeln, war sie überrascht, dass die Stadt noch schlief und weit und breit kein Mensch zu sehen war. Die Straßenbeleuchtung brannte noch, und nur ganz selten sah sie Licht in einem der Fenster der die Straße säumenden Mietskasernen.
Nachdem sie eine Weile lang hinausgeschaut hatte, begriff sie, dass man sie im Kreis auf dem die Stadt umgebenden Schnellstraßenring herumfuhr. Resigniert ließ sie sich wieder auf den Sitz hinunter sinken und begann leise vor sich hin zu schluchzen.
Als sie endlich anhielten, und sie erneut durch das Fenster hinaus spähte, konnte sie erkennen, dass sie vor der Einfahrt des erst kürzlich fertig gestellten Polizeihochhauses standen. Das Tor schwang ferngesteuert auf und der Wagen schraubte sich durch mehrere Kellergeschosse abwärts, ehe er durch ein erstaunlich ausgedehntes Labyrinth von Tunneln, Tiefgaragen und abzweigenden Gängen fuhr, das ihr wie eine ganz eigene, in sich geschlossene und irgendwie surreale Welt vorkam; nachgerade dazu geschaffen, Menschen, die irgendjemandem, der über Einfluss verfügte, in die Quere geraten waren, spurlos verschwinden zu lassen.
Mit einem letzten harten Tritt auf die Bremse wurde das Fahrzeug jählings gestoppt, und sie vernahm, dass mehrere Leute aus der Fahrerkabine ausstiegen und weggingen. Daraufhin tat sich geraume Zeit wieder einmal nichts. Schon wieder hieß es untätig warten zu müssen, ohne zu wissen, auf was.
Dann, gerade war bis auf ein gelegentliches schwaches Wimmern oder Räuspern Ruhe eingekehrt, wurden die Türen unter ohrenbetäubendem Poltern und Brüllen aufgerissen, die Insassen einzeln aus den Zellen herausgezogen und umgehend in unterschiedlichen Fahrstühlen nach oben verfrachtet; wobei sich diejenigen, die es gewagt hatten, sich über die unnötig rüde Behandlung zu beklagen, noch ein paar kräftige Ohrfeigen oder auch Tritte ins Gesäß einhandelten.
Sie selber wurde von einem älteren Mann, der sich ihr gegenüber völlig korrekt verhielt und den Eindruck erweckte, möglichst wenig von dem, was sich um ihn herum tat, mitbekommen zu wollen, in eine der oberen Etagen geführt, wo man ihr in unpersönlicher Routine die Fingerabdrücke abnahm, sie erst vor einer Messlatte stehend fotografierte, und dann in einem wohl eigens zu diesem Zweck konstruierten Gerät, dessen Sitz nach jeder Aufnahme auf eine andere Seite geschwenkt wurde. Nach diesem absurden Ritual, das sie widerstandslos über sich hatte ergehen lassen, wurde sie von einem anderen Uniformierten zu einem weiteren Fahrstuhl gebracht und nochmals einige Stockwerke höher gefahren, wo ihr zu verstehen gegeben wurde, dass sie sich auf einen neben einer der vielen Türen bereitstehenden Stuhl zu setzen und zu warten habe.

*​
Während des langen Wartens war sie eingedöst, sodass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass ein zivil gekleideter Mann unbestimmbaren Alters aus der Tür herausgetreten war und sich vor ihr aufgebaut hatte. Sie wurde erst wach, als er sie roh an den Schultern packte und ungestüm hin und her rüttelte. Als sie erschrocken die Augen aufriss, ließ er sie los und befahl barschen Tons, ihr in sein Büro zu folgen.
Drinnen hieß er sie, sich auf einen etwa in der Mitte des ungewöhnlich geräumigen, aber nur spärlich möbilierten Raums stehenden Hocker zu setzen. Er war alt, abgestoßen und wackelte sehr; augenscheinlich wollte man damit ausdrücken, was man von denen hielt, die darauf Platz zu nehmen hatten. Er selber pflanzte sich behäbig in einen hinter seinem ausladenden Schreibtisch stehenden dick gepolsterten Drehsessel, und starrte zu ihr herüber; ohne etwas zu sagen, ohne seinen Namen zu nennen oder nach dem ihren zu fragen.
Etwas anderes, als sie missbilligend anzustarren, fiel ihm offenbar nicht ein; denn jedes Mal, wenn ihr die Erschöpfung die Augen zufallen oder den Kopf allmählich nach unten sinken ließ, räusperte er sich, als wollte er etwas sagen, tat dies, schaute sie wieder zu ihm hin, jedoch nicht, sondern stierte sie einfach nur weiter an.
Bald hatte sie genug davon; mochte passieren, was wollte. Ganz gleich, ob es nun seine persönliche Eigenart war, oder eine der in seiner Behörde üblichen Zermürbungsmethoden; in ihren Augen war es eine schier unerträgliche Zumutung, ihm zusehen zu müssen, wie er strotzend vor Selbstzufriedenheit dasaß, sie unverwandt angaffte, beharrlich schwieg und die ganze Zeit über mit den Fingern auf der Tischplatte herumtrommelte.
Um der beklemmenden Situation ein Ende zu bereiten, begann sie, in der Hoffnung, ihn, gab sie ich recht kindhaft, womöglich milde zu stimmen und von ihrer Harmlosigkeit überzeugen zu können, mit unsicher bebender Stimme und schamhaft zu Boden gerichteten Augen zu schildern, wie sie durch bloßen Zufall in die unmittelbar nach ihrem Ausbruch auch sogleich ausufernden Handgreiflichkeiten zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften geraten wäre, und sich ihr in dem furchtbaren Durcheinander nicht wie ihren Freundinnen, die einfach geistesgegenwärtiger als sie gewesen seien und durch eine sich unerwartet öffnende Tür eines Bürogebäudes entschlüpft wären, keinerlei Möglichkeit zum Entkommen geboten habe.
Weiter kam sie mit ihren Ausführungen nicht, da er ihr mit einem durch die Zähne gepressten Zischlaut und verneinenden Schütteln des Kopfes zu verstehen gab, dass sie den Mund halten sollte. Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, sich den Zorn, den sein anmaßendes Verhalten in ihr aufflammen ließ, nicht ansehen zu lassen. Sie sah wieder hoch und nahm sich vor, fortan seinem Blick Stand zu halten. Sie versuchte es auch, konnte es aber nur fünf, sechs Sekunden lang durchhalten. Sein trotz des selbstherrlichen Gehabes schäbiger, würdeloser Auftritt war einfach zu widerwärtig.
Seine wässerigen, ausdruckslosen Augen schienen aus ihren Höhlen hervorquellen zu wollen, und die schwammigen Gesichtszüge mit der kraftlos herunterhängenden, fleischigen Unterlippe legten die Vermutung nahe, es mit einem ausgewiesenen Schwächling zu tun zu haben. Er hatte sich das schüttere, ölige Haar quer über den Schädel gekämmt, was allerdings erst recht auf die Glatze aufmerksam machte, die er damit vermutlich zu verdecken suchte. Und selbst auf die nicht geringe Entfernung, in der sie ihm gegenüber saß, ließ sich erkennen, dass seine dunkelrot angelaufene Gesichtshaut grobporig und von geplatzten Adern und Mitessern nur so übersät war; wohl ein Trinker, dachte sie. Wäre die Konstellation eine andere, ging ihr durch den Kopf, müsste man ihn seiner Hässlichkeit wegen eigentlich bemitleiden. Doch die schmierige, unverfrorene Art, in der er ihren nur sehr mangelhaft bedeckten Körper anstarrte, ließ sie diesen Gedankengang augenblicklich wieder vergessen.
Als er dann schließlich doch zu reden anfing, warf er ihr, ohne dass er auch nur im Geringsten auf ihre Einlassung von vorhin eingegangen wäre, vor, sie hätte mit den anderen Radikalen – bei diesem Wort verzog er angewidert sein Gesicht – die zur Sicherung der Demonstranten eingesetzte Beamten der Nationalgarde angegriffen und des Weiteren auch noch Staatseigentum beschädigt; dafür könne man jede Menge Zeugen beibringen. Mit solchen wie ihr, schrie er plötzlich und ohne jeden nachvollziehbaren Anlass los, würde man schon noch fertig werden, sei ihre Familie auch noch so bekannt und einflussreich. Sie solle sich da keinerlei Illusion hingeben.
Sie unterließ es, den Mann, der sich offenbar sehr gern reden hörte, wobei sich vor Eifer kleine Speichelbläschen in den Mundwinkeln bildeten, ein weiteres Mal anzusprechen, auch wenn alles, was er sagte, nichts als an den Haaren herbeigezogener Unfug war. Sie saß in sich zusammengesunken auf dem Schemel, die Unterarme auf die Oberschenkel gepresst, sah auf ihre Füße hinunter und schwieg. Sie wusste sich am Ende ihrer Kraft, war benommen und fühlte sich tief verletzt. Sollte er doch machen mit ihr, was er wollte, nur dass diese elende Aufführung, die er da vor ihr veranstaltete, bald ein Ende hätte. Ihr Vater würde ohnedies dafür sorgen, dass dem Mann für das, was er sich ihr gegenüber herausnahm, ordentlich der Kopf gerade gerückt werden würde.
Nach einiger Zeit fiel ihm dann doch auf, dass ihm nicht zugehört wurde. Sein Monolog brach schlagartig ab, er sprang auf und in überraschender Wendigkeit um seinen Schreibtisch herum, und richtete sich massig und angriffslustig vor ihr auf, mehrmals eine Frage wiederholend, die ihm sehr wichtig zu sein schien, ihr es aber nicht wert war, beachtet zu werden. Nachdem er nach einigem Zuwarten keine Antwort erhalten hatte, hieb er ihr ohne jede Vorwarnung und mit einer solchen Wucht die geballte Faust ins Gesicht, dass sie seitwärts von dem Hocker kippte und erst in einiger Entfernung hart auf dem Linoleumboden aufschlug, wobei ihr die Braue über dem linken Auge aufriss und das Blut nur so herausschoss.

*​
Sein Angriff war für sie so überraschend gekommen, dass sie zuerst gar nicht begriff, was sich ereignet hatte, und gerade so liegen blieb, wie sie hingefallen war. Sie würde sich unterstehen, sich zu rühren oder die Augen zu öffnen, damit er womöglich noch einmal zuschlüge. Gleichzeitig hoffte sie inständig darauf, dass ihm, sähe er, wie er sie zugerichtet hatte, Bedenken kämen und er sie von da an anständig behandeln oder vielleicht sogar Sanitäter herbeirufen würde, damit die ihre Wunde sie versorgten.
Aber der Mann wollte nicht ablassen von ihr, sondern stelzte – womöglich wollte er ihr auf diese Weise seine Überlegenheit unter Beweis stellen – mit übertrieben kühnen Bewegungen zu ihr hin und stellte sich, ein gemeines, unbeherrschtes Funkeln im Blick, breitbeinig über sie. Dann drehte er sie mithilfe eines Fußes flach auf den Rücken, hob mit der Spitze seines Schuhs den in Fetzen herunterhängenden Saum ihres Kleides an, schob ihn betont langsam bis in Höhe ihres Bauchnabels zurück und begann, begehrlich ihren nur mehr mit einem knappen Schlüpfer bekleideten Unterleib zu mustern; in einer Art, als habe er es mit einem soeben erlegten Stück Wild zu tun.
Als mit einem Mal ein Faden des ihm aus den Mundwinkeln triefenden Speichels auf einem ihrer Oberschenkel auftraf, wollte sie nach ihm treten, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Überwältigt von Ekel und Scham war sie trotz größter Anstrengung vollkommen außerstande, auch nur eines ihrer Gliedmaßen zu bewegen. Ihre Atmung geriet durcheinander, und ihr Blut begann so unbändig und laut in ihren Ohren zu tosen, dass sie meinte, es müsse ihr den Kopf sprengen.
Unfähig, die Gefühle, die in ihrem Inneren tobten, zu ertragen, flehte sie darum, in Ohnmacht zu fallen oder besser noch gleich zu sterben; Hauptsache, es wäre endlich vorüber. Doch nichts davon geschah; stattdessen flackerte das Leben wieder auf in ihr, schmerzhaft und klar. Als sie es wagte, die Lider ein wenig anzuheben, sah sie, dass er noch immer quer über ihr stand, den wollüstigen Blick auf ihren Unterleib geheftet, unaufhörlich mit seiner dicken, blauroten Zunge über die nassen, zuckenden Lippen fahrend. Das gewahrend, bemächtigte sich ihrer, ohne dass irgendein äußeres Zeichen dies verriet, eine nie gekannte Wut. Noch nie hatte es jemand gewagt, sie so zu demütigen. Es war eine eiskalte, berechnende Wut, die in Sekundenschnelle jede andere Empfindung in ihr erstickte; selbst für die Angst ließ sie keinerlei Raum mehr. Obwohl sie spürte, dass sie inzwischen die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt hatte, rührte sie sich nicht. Sie war fest entschlossen, auf ihre Gelegenheit, sich zur Wehr zu setzen, zu warten, ganz gleich was man inzwischen mit ihr anstellen mochte.
Als er nach einigen weiteren, endlosen Minuten genug gesehen zu haben schien, trat er einen Schritt zurück, versetzte ihr einen derben Tritt in die Rippen und herrschte sie an, sie solle aufstehen und sich wieder auf ihren Platz hocken; so feinfühlig, wie sie jetzt tue, hätte sie sich lieber geben sollen, bevor man sie geschnappt habe. Dann lief er, ihrer währenddessen spottend mit unflätigen, anzüglichen Bemerkungen, wie sie sie noch niemals hatte anhören müssen, eine Weile lang ziellos durch den Raum und schließlich zu dem bodentiefen, die ganze Zimmerbreite einnehmenden Fenster, vor dem er in etwa anderthalb Meter Abstand stehen blieb und auf die sich in der Dämmerung des anbrechenden Morgens allmählich abzeichnende Silhouette der Stadt hinaus starrte. Wie er so dastand, die Hände tief in den Taschen vergraben und unablässig auf den Zehen wippend, vermittelte er den Eindruck, als wäre er außerordentlich zufrieden mit dem, was er soeben vollbracht hatte.
Sie erkannte ihre Chance, und aus unbekannten Quellen durchströmte sie unversehens eine Kraft, die sich heiß bis in die kleinsten Verästelungen ihres Körpers ergoss.
Geräuschlos begann sie sich aufzurichten, wischte sich mit einer hastigen Bewegung der einen Hand das Blut und die Tränen aus den Augen, streifte zugleich mit der anderen die hinderlichen Sandalen ab, schnellte hoch und sprang in zwei, drei kraftvollen Sätzen auf den ihr nach wie vor den Rücken zukehrenden und daher nichtsahnenden Mann zu, verkrallte sich in seinen Anzug und stieß ihn mit roher Gewalt zum Fenster hin, wo sie ihn mit einer Kraft und Gewandtheit, die sie nie in sich vermutet hätte, von den Füssen riss, im Halbkreis um sich herum schwang und krachend gegen die Scheibe schleuderte.
Zu ihrer grenzenlosen Verwunderung federte das Glas zuerst einmal weit aus, und sie befürchtete schon, es bräche nicht, ehe es dann doch mit einem explosionsartigen Knall zerbarst und den Weg in Tiefe frei gab, in die sie sich, ihn noch immer in eiserner Umklammerung haltend, ohne jedes Zögern hinunterwarf.
Während sie fielen, ein in ihrer Wahrnehmung erheblich länger dauerndes Ereignis als in der Wirklichkeit, weidete sie sich an dem von besinnungsloser Angst und dümmlichem Unglauben verzerrten Gesicht des wehleidig winselnden Mannes, der wild mit den Armen in der Luft ruderte.
Ihr selber kam kein einziger Laut über die Lippen. Sie staunte über ihre Gelassenheit und war sich gewiss, die verloren gegangene Würde wiedererlangt zu haben.
 



 
Oben Unten