Zauberland

Marc Hecht1

Mitglied
1

Der Himmel über Hamburg war grau. Seit Tagen wehte ein scharfer Wind von der Nordsee. Dazu kam Nieselregen.
Im Stadtteil Rothenburgsort blieben an diesem Vormittag die Passanten stehen und sahen auf den Fluss. Direkt vor ihnen, am Elbufer, fuhr doch wahrhaftig ein Bus voller Menschen auf das Wasser zu, mitten hinein in die Elbe. Immer tiefer und tiefer, bis er schließlich zur Flussmitte trieb und abdrehte, auf die Stadt zu. Strahlend weiß und ungewöhnlich, ein Bus auf der Elbe. Und in blauen Lettern war der Name RIVERBUS weithin zu lesen.
Als Tom Brandberg sein Handy aus der Tasche zog, schwankte er. Denn jemand stand auf seinen Schultern. Er versuchte, den Halt zu bewahren, war ungeduldig: „Rena! Was gibt’s?“ Er hörte zu, balancierte. „Keine Ahnung! Ich bin mitten auf der Elbe!“ Wieder hörte er nur kurz zu, unterbrach: „Nein! Ich kann hier nicht weg! Fiete steht auf meinen Schultern! Er ruiniert mir gerade den Anzug! Man darf hier nicht die Fenster öffnen, er fotografiert aus der Dachluke. Was? Ja, Riverbus, die Pressefahrt. Damit machen wir morgen auf.“ Er stützte sich ab, weiter um sein Gleichgewicht bemüht, wurde wütend: „Sofort? Wie denn? Soll ich etwa rausspringen und an Land schwimmen? Ich komme, sobald ich kann!“

2.

Nur wenige Besucher liefen über die Landungsbrücken zum Hafen hinab. Es gab heute keine Schlangen vor den Ständen und Souvenirläden, keine Hafenrundfahrten, die Barkassen lagen vertäut an den Piers, die Kräne und Docks am anderen Elbufer waren nur verschwommen zu sehen, im grauen Licht.
Selbst die Rickmer Rickmers, das berühmte Museumsschiff an Brücke eins, lag heute einsam da, grün und schaukelnd im kräftigen Wind. Auf der Mole davor hatten sich Pfützen gebildet. Abweisend sah das aus. Ein paar Möwen umkreisten die Rickmers, segelten kreischend über den Dreimaster und schossen wieder davon.
Eine junge Frau eilte vom Hafen weg. Sie trug einen blauen Mantel, hatte sich einen Schal umgelegt. Es war kühl. Schnell schritt sie aus; niemand stand heute im Weg, anders als sonst, wenn sich die Touristen hier drängten. Schon kurz hinter den Landungsbrücken bog sie ab und ging auf einen Backsteinbau zu. Dunkelrot und sechs Stockwerke hoch. Mit einem Dutzend Fahnen auf dem Dach, die abwechselnd das Wappen von Hamburg und das Logo des Hamburger Courier zeigten. Viele Menschen strömten hinaus und hinein.
Sie war spät dran, eilte durchs Foyer zum Fahrstuhl. Der Mann vom Sicherheitsdienst erkannte sie und ließ sie schnell passieren. Im dritten Stock stieg sie wieder aus, ging den Flur hinab. Ein dunkelblauer Teppich verschluckte ihre Schritte.
Zwei Kolleginnen kamen ihr entgegen. Sie nickte ihnen zu, aber zu ihrem Erstaunen grüßte keine der beiden zurück. Die eine weinte, die andere versuchte zu trösten. Beide blickten zu Boden, beachteten sie nicht. Erstaunt ging die junge Frau weiter, zu ihrem Büro.

3

„Buttsche spielt verrückt!“
Sie hatte die Tür hinter sich noch nicht geschlossen, als Rena schon vom Schreibtisch aufsprang und auf sie zukam. Ganz aufgelöst stand Rena da, kastanienrot und füllig, dicht vor ihr, offenbar außerordentlich besorgt.
„Was ist denn los?“ Verwirrt sah die junge Frau auf, „die Müller ist mir gerade auf dem Flur entgegengekommen, die hat geweint!“
Rena nickte heftig. „Buttsche spielt verrückt“, sagte sie noch einmal. Und ihr Blick war flehentlich, als erwarte sie eine umgehende Lösung für dieses Problem. Es sprudelte aus ihr heraus: „Es ist furchtbar, Gini, ganz furchtbar! Wir mussten heute Morgen schon alle antreten, unten im Foyer. Sei froh, dass du nicht dabei warst!“
„Aha?“ Gini legte den Schal über die Stuhllehne, knöpfte den Mantel auf. „Und warum?“
Rena sah ihr dabei zu, wie sie einen Bügel in den Mantel schob, wollte etwas erklären, winkte dann aber resigniert ab: „Er spielt einfach verrückt! Offenbar hat er die neuen Quartalszahlen auf den Tisch bekommen! Die IVW-Zahlen, die harte Auflage.“
Gini verstand. „Und die waren wohl schlecht?“, fragte sie furchtsam.
„Ja!“ Rena nickte wieder heftig, „unter aller Sau!“
Eine Weile war Schweigen, Gini hängte den Bügel an die Garderobe, musste alles einen Moment verdauen und drehte sich dann um.
„Und nun?“, fragte sie.
„Und nun?“, Rena ließ sich auf ihren Stuhl fallen, „keine Ahnung! Er will offenbar alles umkrempeln, sofort! Keine Ressorts mehr, jeder macht alles. Und er will wohl sogar Leute entlassen!“
„Ach Gott!“ Auch Gini setzte sich, sah verstört umher.
Doch Rena ließ ihr kaum Zeit zum Nachdenken: „Er führt Gespräche, schon die ganze Zeit. Um fünfzehn Uhr sind wir dran.“
„Was?“ Gini fuhr auf, sah auf ihre Armbanduhr.
„Also, ich mach‘ da nicht mit!“, Rena winkte entschieden ab. „Dann soll er mich lieber gleich entlassen! Ich kann so nicht arbeiten! In so einem ..., wie nennt er das?“
Gini sah abgelenkt auf. „Newsdesk.“
„Genau! Newsdesk! Aber das ist im Grunde auch nur ein anderes Wort für Großraumbüro! So kann ich nicht arbeiten!“ Rena wurde jetzt weinerlich: „Seit sechsundzwanzig Jahren bin ich in diesem Verlag! Und nun kommt Buttsche daher, und macht das alles kaputt, mit seinen verrückten Ideen!“
„Jetzt warte doch mal ab!“ Gini versuchte, ihre fast doppelt so alte Kollegin zu beruhigen. „Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm.“
„Doch! Das wird schlimm! Ich kenne Buttsche!“ Rena sah wütend auf: „Ein verzogener Rotzlöffel ist der! Ich seh‘ den noch vor mir! Früher, als Kind! Wenn er zu Besuch bei seinem Onkel war. Das hättest du erleben sollen! Wie der die Vorzimmerdamen tyrannisiert hat! Eine böswillige Göre war der!“
„Ja! Aber das bringt doch nichts, immer wieder darauf ...“
„Nein, tut es nicht!“ Rena sah resigniert auf, „weiß ich selbst! Aber stell‘ dir das doch bitte nur mal vor! Mit sechzig Leuten in einem Raum! Jeden Tag, immer! Nee! Also, da mach‘ ich auf gar keinen Fall mit!“

4

Tom Brandberg war froh, als sie wieder an Land kamen. Der Anruf von Rena hatte ihn erschreckt, er war nicht mehr richtig bei der Sache, seitdem.
Alles hatte er nicht verstanden, im Gewirr der Journalisten und Fotografen um ihn herum, und mit Fiete auf seinen Schultern. Aber es klang nicht gut.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt, neben Fiete am Steuer, war er schweigsam. Sah aus dem Fenster, betrachtete den Michel, dessen Kuppel im diesigen Licht kaum zu erkennen war.
Tom Brandberg war 43 Jahre alt. Sein Haar wurde an den Schläfen bereits grau. Auffällig waren seine teueren Anzüge. Stets trug er Dreiteiler, meist sogar mit Einstecktuch. Das war sein Spleen, über die Jahre.
Er hatte Weltstars interviewt, in seinen schicken Dreiteilern. Robert Redford, Anna Netrebko, Ringo Starr – nach Hamburg kam immer viel Prominenz.
Er war der mit den Anzügen. Und er pflegte seinen Spleen, immerhin: Ein stadtbekannter Journalist war er so geworden!
Fiete bog in die Helgoländer Allee ein, sie fuhren hinunter zum Hafen, vorbei am mächtigen Bismarck-Denkmal. Tom sah missmutig auf. Immer ist irgendetwas, dachte er, es kehrt einfach keine Ruhe mehr ein.
Die Stimmung im Verlag war schlecht. Die Auflage sank. Sank und sank! Es musste gespart werden, an allen Ecken und Enden.
Und dann war auch noch der Alte von Bord gegangen. Heinrich Brodersen, schlohweiß und weise, die Inkarnation eines hanseatischen Zeitungsverlegers.
Einfach umgekippt war der Alte, in seinem Büro. Mit gerade mal 70 Jahren war er auf den Teppich gefallen, hatte eine halbe Minute lang angstvoll und mit aufgerissenen Augen an die Decke gestarrt, geröchelt, bevor seine Augen sich schlossen und das Leben ihn verließ.
Heinrich Brodersen musste – im Sinne des Wortes – aus dem Verlag getragen werden.
Und jetzt war Berthold da, sein Neffe. Warum, das wusste keiner so genau. Ein familiärer Quereinsteiger jedenfalls, viel zu jung und ohne Erfahrung. Die Verunsicherung im Verlag war entsprechend groß.
Fiete bremste scharf, riss Tom aus seinen Gedanken.
„Bis dann!“, der Fotograf hatte es eilig.
Tom stieg aus, sah dem Auto nach, wie es sich auf der nass glänzenden Straße in die Kolonne einreihte, ging dann schnell durch den Nieselregen auf das Verlagsgebäude zu.

5

„Tom!“
Gini sprang auf. Rena blieb am Schreibtisch sitzen, mit verweinten Augen.
Es war ein kleines Büro. Drei überladene Schreibtische waren in Hufeisenform angebracht, an den Wänden gab es Regale voller Bücher und Zeitschriften. Ein paar Hamburgensien und ein größeres Ölbild vom Michel zierten die Wände. Der Blick durchs Fenster ging nicht auf die Elbe, sondern auf die andere Seite, in einen größeren Hinterhof.
„Buttsche spielt verrückt!“ Gini fuchtelte mit den Händen. „Er hat die neuen Quartalszahlen bekommen, die harte Auflage. Und jetzt ist er außer sich! Und wir sollen ...“
„Was heißt spielt?“, Tom, dessen Schreibtisch die Stirnseite des Hufeisens bildete, warf aufgebracht die Aktentasche auf seinen Stuhl. Wütend sah er seine beiden Kolleginnen an: „Der ist verrückt! Vor zwei Tagen hat er erst festgelegt, dass wir über die Ressorts in der nächsten Woche sprechen wollen!“ Er winkte verächtlich ab, „und jetzt kriegt er ein paar Zahlen auf den Tisch, und ...“
„Die Auflage ist offenbar unter aller Sau“, unterbrach ihn Rena, doch Tom wischte das ungeduldig weg: „Ja! Deshalb wollten wir ja nächste Woche auch darüber reden! Aber plötzlich krempelt er alles um! Was denkt der sich? Ich habe Termine!“ Wütend sah Tom auf, hielt sich dann aber die Hand vor die Stirn und wurde theatralisch: „Ach so, mein Fehler! Buttsche denkt ja gar nicht! Buttsche ist ja noch ein Kind! Und spielt nur ein bisschen Verleger!“
Gini und Rena schwiegen resigniert, starrten vor sich hin.
„Wisst ihr, als ich Kind war, habe ich zum Beispiel immer gern Kaufmannsladen gespielt“, Tom sah amüsiert auf, „Kennt ihr das?“ Und dann, mit verstellter Stimme: „Ein halbes Pfund Mehl, bitte - oh, gern, bitteschön, die Dame – dankeschön, der Herr!“
Rena, an ihrem Schreibtisch, lachte verächtlich. Gini jedoch straffte sich, als wolle sie den Ernst der Lage noch einmal betonen. „Er will mit allen Ressorts sprechen. Um fünfzehn Uhr sind wir dran“, erklärte sie.
„Was? Heute?“ Tom blickte auf.
„Ja! Also nimm das ernst und komm mal ein bisschen runter!“
Er wurde störrisch. „Ich will nicht runterkommen!“ Erregt ging er im kleinen Büro auf und ab. „Hör zu, Gini, das weißt du doch im Grunde genauso gut wie ich! Buttsche ist ein Kind! Der spielt nur Verleger!“
„Nein! Er ist dein Verleger! Die Dinge sind ja nun einmal, wie sie sind. Also reiß dich zusammen! Wenigstens für Rena und mich!“
Tom jedoch blieb trotzig, ging weiter auf und ab: „Sein Onkel war mein Verleger! Aber der … der ist einfach nur plötzlich da! Ich bitte dich, bis vor kurzem hat der ...“, Tom blieb stehen, „was hat der noch mal gemacht? Schiffsbeteiligungen verkauft?“
Rena nickte heftig: „Genau! Und der Alte würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie ...“
„Hört auf damit!“ Gini, die Jüngste in der Runde, unterbrach wieder streng: „Das bringt doch nichts!“
Und dann, zu Tom gewandt: „Buttsche ist dein Verleger! Da kannst du dich auf den Kopf stellen! Und wir haben nachher einen Termin mit ihm! Als Ressort! Und wenn du da mit so einer Haltung reingehst, sind wir wohl alle quasi schon arbeitslos!“
Tom winkte ab: „Blödsinn!“
„Na, dann hör dich mal um!“ Gini funkelte ihn an. „Der zieht das jetzt durch, mit seinem Newsroom ..., keine Ressorts mehr, und so weiter, der zieht das knallhart durch! Also! Sei nett, wenn wir da reingehen! Nett und freundlich, wie sich das gehört!“

6

Es wurde ein denkwürdiges Gespräch.
Berthold Buttsche Brodersen, 31 Jahre alt und seit drei Monaten Chef des Verlagshauses, hatte an seinem Schreibtisch gesessen, die meiste Zeit vorgebeugt. Ohne Jackett, die Ärmel seines weißen Hemdes waren aufgekrempelt, die Krawatte saß locker.
Es war noch immer das Büro eines großen Verlegers. Gediegen, hanseatisch, mit Elbblick. Bilder von Eitner und Nolde hingen an den Wänden, von Kallmorgen und Modersohn. Und dazu gab es viele Fotos: Heinrich Brodersen mit Helmut Schmidt. Heinrich Brodersen mit Max Schmeling, mit Uwe Seeler. Mit sämtlichen Bürgermeistern seit Klaus von Dohnanyi. Heinrich Brodersen beim Matthiae-Mahl im Rathaus.
Aber der Mann, der jetzt am Schreibtisch saß, wirkte nicht wie der Verleger einer hanseatischen Traditionszeitung. Eher wie ein selfmade man, tatkräftig und bauernschlau. Er saß da, im gediegenen Büro seines verstorbenen Onkels. Und zur Begrüßung fragte er: „Ah, Sie sind der mit den Anzügen? Ich hab’ schon gehört.“
Tom nickte, lächelte, schwieg mühsam. Er spürte Ginis flehenden Blick.
„Machen Sie auf Tom Wolfe von Hamburg?“
Konsterniert sah Tom auf, wollte etwas entgegnen, aber sein Verleger hielt sich jetzt nicht weiter mit Begüßungsfloskeln auf, vor sich auf dem Schreibtisch hatte er ein halbes Dutzend aufgeschlagener Zeitungen liegen, eine davon zog er jetzt heran.
„Also, das Ressort Hamburg und die Welt!“, sagte er, „ja, ich lese da immer Geschichten ...“, er überflog einen Artikel, „... wie diese Story über Herrn ..., wie hieß er noch? Min Ho Kim? Kim Ho Min? Dieser koreanische Koch ...? Mit seinem Restaurant am Rödingsmarkt?“
„Ja!“, Gini sah engagiert auf, „die Geschichte ist von uns, das war ...“
„Der Koch, der die schärfsten Nudeln in der ganzen Stadt macht? Das waren Sie?“ Buttsche unterbrach unwirsch.
„Ja! Das fanden wir interessant, weil ...“
„Interessant? Für wen? Für unsere wenigen, noch verbliebenen Leser vielleicht? Damit die sich das Maul verbrennen können? An den überteuerten Nudeln Ihres koreanischen Kochs?“
Gini und Rena schwiegen konsterniert. Tom jedoch war nicht gewillt, sich das in diesem Ton weiter anzuhören, begehrte auf: „Also, das Ressort heißt ja nun einmal Hamburg und die Welt, deshalb suchen wir ...“
Doch der junge Verleger unterbrach unwirsch: „Ach was!“ Er wischte den Einwand weg, noch bevor er überhaupt ausgesprochen war, zog ungeduldig eine zweite Zeitung heran: „Oder diese Stylistin ...? Die Wohnungen nach dem Jing-und-Jang-Prinzip einrichtet? War das auch von Ihnen?“
Gini nickte vorsichtig: „Feng Shui. Und sie ist sogar Innenarchitektin. Sybille von Marmstorf, eine sehr interessante Frau ...“
Buttsche sah wieder unwillig auf: „Und glauben Sie, dass unsere Leser in Barmbek oder Altona jetzt in Scharen zu Frau von Marmstorff in Pöseldorf rennen? Weil sie ihre Zwei-Zimmer-Wohnungen dringend Jing-und-Jang-mäßig einrichten lassen wollen?“
Tom war konsterniert. Entsetzt sah er aus dem Fenster.
Und sein junger Verleger legte nochmal nach: „Das ist doch alles Hippster-Scheiß! Normale Menschen interessieren sich nicht für so was!“
Eine Weile war Schweigen. Tom saß vorgebeugt da, Gini erkannte seinen ungläubigen Blick. Rena blickte verlegen auf den Boden.
Berthold Brodersen, an seinem Schreibtisch, hatte jetzt offenbar das Gefühl, ein wenig zu laut und heftig geworden zu sein, jedenfalls ließ er sich auf dem Stuhl zurückfallen, wurde ruhiger: „Ich weiß, ich weiß!“ Er fuchtelte durch die Luft, „mein Onkel hat nie etwas auf die Redaktion kommen lassen! Die Redaktion war immer heilig! Und was Sie da schreiben, ist ja auch nicht alles schlecht.“ Buttsche sah die drei fest an: „Aber es ist auch nicht unbedingt nötig. Wir müssen uns von einigen Ressorts verabschieden. Müssen schlanker werden, das frisst uns sonst auf, wir müssen ...“
Tom hatte genug: „Wenn Sie uns entlassen wollen, dann sagen Sie es doch einfach!“, platzte er heraus.
Brodersen sah erstaunt hoch: „Entlassen?“ Der Verleger stand auf, ging vor seinem Schreibtisch hin und her. „Wer hat denn etwas von entlassen gesagt? Ist das der Flurfunk, der hier gerade durchs Haus geht?“
„Ja“, erklärte Tom fest, „zumindest ein Teil davon.“
Buttsche sah die drei auf dem Sofa missbilligend an: „Und der andere Teil? Na, egal! Geben Sie nicht so viel auf Flurfunk!“ Er ging wieder hin und her: „Sehen Sie, es gibt im Moment sechs Ressorts im Blatt, die sich alle mit Hamburg beschäftigen.“
Überrascht sah Tom auf: „Tja, wir sind ja auch der Hamburger Courier,“ sagte er.
Doch sein junger Verleger wurde unwirsch: „Sechs Ressorts! Politik in Hamburg, Wirtschaft in Hamburg, Kultur in Hamburg, Sport in Hamburg, Leben in Hamburg, Hamburg und die Welt. Das frisst uns auf!“
Hilflos sahen die drei sich an, Rena und Gini blickten wieder betreten zu Boden, Tom jedoch wurde sarkastisch: „Ja, das ist nun einmal so, bei einer Tageszeitung, das haben wir uns ja nicht ausgedacht.“
Der Verleger sah ihn einen Moment an, ließ sich dann auf dem Stuhl zurückfallen, wurde verbindlicher: „Ich weiß, dass Sie natürlich Ihre Schwierigkeiten mit mir haben. Der Neffe vom Verleger! Und der soll jetzt die Geschäfte führen, in dieser schwierigen Zeit!“ Wieder blieb er stehen: „Und offenbar finden es einige ja regelrecht witzig, dass ich gelernter Schifffahrtskaufmann bin. Und kein Verlagskaufmann, wie mein Onkel.“
Er sah auf, der Hauch von Verständnis verflog wieder: „Aber ich bin wenigstens ein Kaufmann! Verstehen Sie? Und als Kaufmann kann man halt rechnen. Und das könnt ihr Journalisten offenbar nicht. Oder ihr wollt es nicht. Ihr wollt einfach immer weiter euer Ding machen, bis alles den Bach runtergeht. Ihr steckt den Kopf in den Sand, wollt nichts sehen und nichts hören von der Realität und haltet euch allesamt für mindestens so wichtig wie der Papst!“
Wieder war eine Weile Schweigen. Von der Elbe her ertönte eine Schiffshupe, die langsam verhallte.
„Das stimmt nicht. Ich halte mich nicht für so wichtig“, erklärte Rena fest.
Erstaunt sah der Verleger sie an, ignorierte das aber, ging jetzt zur gegenüberliegenden Wand, drehte sich um und klatschte in die Hände: „Also ..., folgendes: Metropolregion! Schon mal davon gehört?“
Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern zeigte auf eine imaginäre Landkarte an der Wand: „Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen. Alle um Hamburg rum. Eine riesige Metropolregion! Die geht bis Lüneburg, bis Schwerin, bis Lübeck! Ein ganz großes Ding!“
Die drei auf dem Sofa nickten, Gini und Rena tauschten einen besorgten Blick.
„Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte Tom.
Sein junger Verleger jedoch ignorierte das: „Vier Landesregierungen! Und die EU mischt auch noch mit! Die haben da jedenfalls ein paar Programme aufgelegt. Eben zum Zusammenwachsen der Region.“
Wieder nickten alle, konnten sich aber keinen Reim darauf machen.
„Kurz gesagt – der Hamburger Courier wird künftig beim weiteren Zusammenwachsen unserer Metropolregion ein bisschen mithelfen.“
Gini und Rena sahen sich wieder besorgt an.
„Und das sollen wir drei machen?“ Toms Frage sollte spöttisch klingen, aber Berthold Brodersen stimmte ihm ungerührt zu: „Genau, Herr Brandberg, ganz genau! Da kommen Sie dann ins Spiel.“
Tom schwieg wieder, überrascht jetzt. Und Buttsche gestikulierte: „Wir werden künftig mehr aus den ländlichen Regionen um Hamburg berichten!“
„Und das sollen wir machen?“, fragte Tom noch einmal, jetzt entsetzt.
„Ja! Das heißt, nicht nur Sie. Wir werden künftig drei Außenredaktionen in der Metropolregion haben. In jedem Bundesland eine. Erstmal für ein Vierteljahr! Und Sie habe ich für Schleswig-Holstein eingeplant.“
Wieder war es lange still.
„Und unser Ressort? Hamburg und die Welt?“, fragte Tom.
„Wird aufgelöst“, erklärte der Verleger knapp.
„Was? Einfach so?“
„Natürlich! Beides können Sie ja wohl schlecht machen. Und überhaupt“, Buttsche wurde jetzt fast jovial: „Das ist doch allemal besser, als über Jing-und-Jang-Tanten zu schreiben! Oder nicht? Da schreiben Sie dann über handfeste Leute! Das interessiert die Menschen doch viel mehr! Bauer Piepenbrink! Seine Sorgen und Nöte! Trecker kaputt ..., und nun? So was gefällt den Lesern!“
Tom war fassungslos. Lange herrschte wieder Schweigen.
„Und wo ist das?“, fragte Gini schließlich, „ich meine, wo sollen wir ...“
„Moment!“, Buttsche ging zum Schreibtisch, suchte einen Zettel zwischen den Zeitungen, las ab: „Brökel, Wilstermarsch. Kurz hinter Glückstadt.“

7

Die Lichter der Großstadt tanzten auf dem Wasser. Hinter der Elbphilharmonie war der Mond aufgegangen. Das schlechte Wetter hatte sich verzogen, der Himmel war sternklar.
„Ach, komm schon!“ Gini sah bittend auf.
„Nein!“ Tom starrte stur in sein Bierglas.
Es war der Abend nach dem Gespräch. Sie saßen auf einem der Restaurantschiffe, auf dem Oberdeck. Die Silhouette des Hafens war prächtig. Beide hatten jedoch keinen Blick dafür.
„Nein?“ Gini sah ihn verständnislos an. „Was willst du denn sonst machen? In diesem Newsroom verschwinden?“
„Nein!“
„Also ..., dies willst du nicht, das willst du nicht ...“, Gini blickte ihn hilflos an. Tom aber stierte weiter in sein Glas.
Hin- und hergerissen war er, seit dem Gespräch mit seinem Verleger. Kurz hatte er überlegt, direkt noch einmal in dessen Büro zu marschieren. Um sofort zu kündigen.
Er hatte es dann nicht getan. Hatte stattdessen seine Reportage vom Riverbus heruntergeschrieben. Hatte Fotos ausgesucht, Texte redigiert, dies und das mit der Grafik besprochen, alles, wie immer. Aber er war geschockt, seit diesem Gespräch. Und tödlich beleidigt.
Ungehalten sah er sich jetzt um. Auf die vielen Menschen, auf die Lichter und den Hafen.
Gini nippte an ihrer Weinschorle, nickte ihm aufmunternd zu: „Rena macht auf jeden Fall mit! Die Provinz macht ihr nichts aus, hat sie gesagt.“
„So?“
„Ja! Und mir macht das eigentlich auch nichts aus. Provinz kann auch spannend sein. Sieh‘ es doch mal positiv!“ Sie sah ihn wieder bittend an: „Die bezahlen uns sogar die Unterkunft! Und Hamburg ist dabei doch nicht aus der Welt! Das sind doch keine achtzig Kilometer ...“
Unwirsch sah er auf. Gini und Rena schienen sich mit den neuen Aussichten schon gut angefreundet zu haben. In Windeseile.
Er fühlte sich allein, wurde sarkastisch: „Spannend, sagst du? Ja! Die Provinz ist bestimmt super-spannend! Deshalb heißt sie ja auch Provinz!“ Er winkte verächtlich ab: „Bauer Piepenbrink! Trecker kaputt! Das muss dringend auf Seite eins!“ Tom nahm einen großen Schluck, stellte das Glas hart ab, sah beleidigt umher.
„Ach komm! Wir machen das erstmal.“ Ginis Blick war bittend.
„Erstmal? Wenn wir das jetzt machen, dann geht das die nächsten Jahre so!“
„Nein, nach drei Monaten soll alles noch mal besprochen werden. Lass uns doch einfach erstmal sehen ...“
Er schwieg, blickte über das Hafenpanorama, auf das schwarze Gewirr der Kräne und Docks am anderen Ufer.
„Drei Monate!“, sagte Gini, „das ist doch nichts!“
Tom sah sie an, beugte sich dann vor und atmete resigniert durch: „Weißt du, was das Schlimmste ist?“ Er fuchtelte mit den Händen, wartete ihre Antwort nicht ab: „Wie man im Verlag mit uns umspringt! Das finde ich schlimm!“ Empört sah er auf: „von heute auf morgen! Ab in die Pampa! Quasi mit der Pistole auf der Brust!“
Sie nickte: „Ja. Aber es hätte alles noch viel schlimmer kommen können! In diesem Newsroom, womöglich. Oder gleich arbeitslos ...“
Er jedoch wollte von der Realität nichts hören, wurde melancholisch: „Das ist es eben! Man wird vor die Wahl gestellt: Pest oder Cholera!“ Empört sah er sie an: „Newsroom! Glaubst du ernsthaft, dass ich da reingehe? Man geht doch auch nicht freiwillig in eine Irrenanstalt!“
„Dies willst du nicht, das willst du nicht! Was willst du denn überhaupt?“ Gini sah ihn verständnislos an, „die Zeiten sind nun mal schwierig! Es bringt doch nichts, jetzt beleidigte Leberwurst zu spielen, ich meine ...“
„Beleidigte Leberwurst? Hör‘ mal zu, Gini!“, er holte theatralisch aus: „Vor einem Jahr war ich noch in Berlin! Hauptstadtkorrespondent! Da hab’ ich mit Sigmar Gabriel gefrühstückt! Und die Kanzlerin hat mich persönlich zum Sommerfest eingeladen! Wusstest du das?“
„Ja. Das hast du schon mal erzählt. Und?“
„Und?“ Tom lehnte sich empört zurück. „Und dann hat der Verlag gesagt: ‘Nee, die Auflage geht zurück, die Hauptstadtredaktion specken wir ab‘.“
„Ja. Das weiß ich.“
„Nur deshalb bin ich ja wieder nach Hamburg gekommen.“
„Ja! Das weiß ich doch alles!“
Gini sah nüchtern auf, Tom aber gestikulierte, „‚wir brauchen Sie hier’, haben sie gesagt! Und mir dieses Ressort gegeben, Hamburg und die Welt ...“
Beleidigt sah sie ihn an: „Was war daran denn schlecht?“
Wieder winkte er ab, melancholisch: „Nein, das war ok. Aber eigentlich war es nicht das, was ich wollte!“ Er sah auf: „Und anfangs hatte ich sechs Reporter! Jetzt, ein Jahr später, sind wir nur noch zu dritt. Und nun stecken sie mich in die Provinz!“
Sie sah ihn an, verständnislos über das Gejammer: „Na und? So ist das eben! Die Zeiten sind schlecht!“ Wütend blickte sie auf: „Du willst das alles offenbar gar nicht sehen! Und führst dich manchmal auf wie eine Diva! Herr Hauptstadtkorrespondent!“ Sie winkte ab, „diese Provinz-Geschichte ist doch wohl allemal besser als Großraum! Oder gleich als arbeitslos! Oder etwa nicht?“ Wütend funkelte sie ihn an.
Tom jedoch, in seinem Kummer, nahm es nicht zur Kenntnis. Verächtlich wedelte er wieder mit der Hand: „Von Berlin nach Brökel! Innerhalb von einem Jahr! Das musst du dir mal vorstellen! Das ist wie Champions League und Kreisklasse! Brökel, mehr Provinz kriegt man in einen Namen gar nicht rein!“ Empört blickte er ihr jetzt ins Gesicht: „Aber du scheinst es ja gar nicht erwarten zu können! Endlich weg von Hamburg! Nach Brökel, ins Gelobte Land!“
Sie winkte ab, genervt von seinem Gejammer; „Achtzig Kilometer! Das ist doch nichts! Gar nicht der Rede wert!“ Gini versprühte wieder ihren Optimismus: „Sieh es als Chance!“ Bittend sah sie auf: „Ach komm, Tom! Drei Monate! Lass uns doch einfach mal gucken!“
Er jedoch blieb skeptisch, winkte der Kellnerin für noch ein Bier und schüttelte müde den Kopf. Verfiel dann ins Grundsätzliche: „Es ist alles so komisch geworden, in unserem Beruf! Spürst du das nicht auch? Man rangiert heute irgendwo zwischen Ladendieb und Trickbetrüger, als Journalist. Also, ganz weit unten. Und man kann es einfach niemandem mehr recht machen!“ Resigniert sah er sie an: „Und wenn die Welt ansonsten gerade über alles Mögliche in Streit geraten ist, in einem sind sich komischerweise immer alle einig: Journalisten sind Arschlöcher!“
„Nein!“ Sie versuchte ihn zu beruhigen, kannte seine theatralischen Ausflüge ins Selbstmitleid. „Es gibt auch viele, die unsere Arbeit gut finden. Außerdem: Nun mach es doch mal nicht so dicke und so grundsätzlich!“
Tom jedoch schüttelte den Kopf: „Als ich anfing, war das alles noch ganz anders.“
„Ja! Es ist eben, wie es ist! Und es sind doch nur drei Monate.“
„Vorerst drei Monate.“
„Ja. Vorerst.“
„Ich weiß es nicht“, sagte Tom.

8

Er war an diesem Abend zu Fuß nach Hause gegangen. Von den Landungsbrücken war er die Michelwiese hinaufgestiegen, vorbei an der prächtigen Kirche, mit dem Erzengel über dem Haupteingang, der wütend seinen Speer auf den besiegten Satan zu seinen Füßen richtet. Schon als Kind hatte ihn dieser Anblick erschreckt, und auch jetzt noch gefiel er ihm nicht. Schnell marschierte er weiter, bis rauf zum Großneumarkt.
Es gab immerhin viel zu bedenken! Die Dinge hatten sich verändert, seit heute Vormittag. Abrupt. Die Perspektive hatte sich geändert.
Von Berlin nach Hamburg – noch vor vierundzwanzig Stunden hatte er das als Karriereknick angesehen.
Jetzt jedoch, seit heute Vormittag, erschien es ihm wie gar nichts! Denn jetzt kam offenbar die nächste Station in der Abwärtsspirale seiner Karriere. Jetzt hieß es: Berlin, Hamburg, Brökel.
Über die Poolstraße ging er auf den Brahmsplatz zu, bog dann links ab, marschierte die Karolinenstraße hinauf bis ins Grindelviertel. Immer ist irgendwas, dachte er, man kommt einfach nicht mehr zur Ruhe.
Nach seiner Rückkehr aus Berlin, vor etwa einem Jahr, hatte er alles umgekrempelt. Alles hatte in Trümmern gelegen. Mit Dörte war es damals zu Ende. Eigentlich war es schon vorher zu Ende gewesen.
Er war ausgezogen, aus der gemeinsamen Wohnung, hatte sich ein Appartement in den Grindelhochhäusern genommen, im 12. Stock.
Und jetzt, als er gerade alles neu sortiert hatte, gerade etwas Ruhe eingekehrt war, kam diese Sache mit Brökel.
Müde ging Tom Brandberg den Grindelberg hinauf, es war ein langer Weg gewesen, von der Elbe.
„Metropolregion“, mehrmals murmelte er das Wort. Und seine Gedanken sprangen hin und her.
 



 
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