Zaubermond

Manic Peter

Mitglied
Zaubermond

Du wirst dich deiner gerechten Strafe nicht entziehen. Nicht wenn Gina ermittelt. Ihre Augen lügen, täuschen Naivität vor. Ein Lächeln wie ein Frühlingswind, der die Sorgen davon bläst. Du wähnst dich in Sicherheit. Aber Gina ist erbarmungslos. Nachts ist sie die Katze, die ums Haus schleicht. Tagsüber ist sie ein Gemälde, pastellfarbener Traum. Verwirrend und trügerisch, wie die Welt, in der sie lebt. Eine Welt unterteilt in Schwarz und Weiss, Tag und Nacht, Sieg und Niederlage. Gina kennt keine Niederlage. Sie kennt dein Flehen um Gnade. Die Gerechtigkeit siegt und Gina führt den Kampf fort.

Timo seufzte und legte das Heft zur Seite. Die Nacht war nicht mehr jung und der Mond reflektierte sein Licht an Timos blasser Haut. Hilfesuchend drehte er sich nach seinem Wecker um, der ihm aber keine der brennenden Fragen beantworten konnte, die sich ihm stellten. «Warum ich?», war die häufigste Frage. Er richtete sie an den Wecker, das Kissen, die Nacht. Warum ausgerechnet er? Sein Bein zwischen Armaturenbrett und dem Sitz des Fahrzeuges eingeklemmt. Auch andere Personen waren am Unfall beteiligt. Doch seine Freunde lachten wieder, riefen sich Scherze zu und gingen mit federnden Schritten auf ihren zwei gesunden Füssen. Sie besuchten ihn nicht mehr, als ob ihnen ihre Gesundheit peinlich wäre.

Gina war sein Trost. Gina die Agentin. Ihre Augen strahlen nachts glutrote Gefährlichkeit aus. Du ahnst nichts. Der Plan scheint nicht gefährdet. Schlauheit siegt. Der Fuchs umschleicht das Hühnerhaus. Die Falle schnappt zu.

Timo schreckt hoch. Er war eingenickt und hatte einen Moment geglaubt, sein Unfall wäre ein Traum, aus dem zu erwachen eine Erlösung sei. Doch augenblicklich sah er wieder sein ganzes zukünftiges Leben vor sich: Krücken, Prothesen, hinkender Gang, ein windiger Platz in der Metro, die Hoffnung auf ein klimperndes Geldstück in der blechernen Schüssel. Ein gnädiger Gott soll mir die Augen verschliessen, dachte Timo. Und er schloss die Augen und schlief ein, während wenigstens der Mond Mitleid empfand und sein Licht dämpfte.

Gina tritt aus ihrem Versteck. Den Revolver im Anschlag, wie sie es gelernt hat. Doch hat sie nicht auch gelernt, sich nie alleine in Gefahr zu begeben? Wer mag noch in dunklen Verstecken lauern? Es gibt aber kein Zurück mehr, die Situation ist eindeutig, das Beweismaterial ausreichend. «Hände über den Kopf!» Du gehorchst sofort und lässt Deine Waffe fallen. Ginas Vorahnung. Ein Schatten löst sich aus dem Dunkel hinter ihr, zielt, der Finger betätigt den Abzug. «Achtung!», schreit ein Mann. Noch rechzeitig. Gina dreht sich um ihre trainierten Hüften und schiesst. Der Schatten sinkt in sich zusammen. Gina löst die Handschellen aus ihrer Gesässtasche und wendet sich wieder dir zu. Noch immer hältst du die Hände über dem Kopf und zitterst nun vor Angst. Nachdem Gina dich gefesselt hat, durchdringt ihr Blick suchend die Dunkelheit. Woher kommt die Stimme, die sie gewarnt hat? «Hier!», will Timo rufen, aber es kommt nur erstickter Laut aus seiner Kehle. Seine Lippen sind trocken, sein Atem geht stossweise. Er setzt sich im Bett auf, Ginas Welt rast mit Lichtgeschwindigkeit von ihm fort. Sofort tastete er nach seinem Bein. Doch er konnte nur das leere Lacken erfühlen. «Verfluchte Scheisse», stiess er hervor und meinte einerseits das fehlende Körperteil, andererseits diesen falschen Moment, um aufzuwachen. Was blieb ihm anderes, als Träume? In seiner Realität würde ihn Gina nicht einmal eines Blickes würdigen.

Gina schaut sich um. Die Stimme beschäftigt sie. Sie ist nicht auf Hilfe angewiesen. Und doch hat ihr die Stimme das Leben gerettet. Sie schüttelt sich den kurzen Moment der Todesgefahr von den Schultern. Ihr Gesicht entspannt sich und nimmt wieder die Sanftheit einer Sommerwiese an. Der Tag beginnt seine Runde und mit ihm Ginas Leben als harmlose Schuhverkäuferin in einer Stadt, in der alle Stiefel auf Hochglanz poliert sind. Doch dieser Tag ist nicht wieder jeder andere, die Welt ist nicht mehr unversehrt, die Risse sind spürbar und beinahe unerträglich nagt die Ungewisstheit in ihr. «Zaubermond» hat es ihr Vater genannt.

Timos Tage zogen sich dahin. Das Nichtstun frass in seinem Verstand, sein Hunger nach Bewegungen wuchs mit jeder Stunde der Untätigkeit. Seine Agentenhefte mit Gina lagen verstreut auf dem Fussboden. Seine Gedanken blieben immer öfter bei seinem kurzen nächtlichen Abenteuer hängen. So greifbar und wirklich war ihm die Situation vorgekommen. Dagegen schien ihm sein körperlicher Zustand eine Illusion. Ich verliere noch den Verstand, dachte er. Er hatte sich selber satt, sein Selbstmitleid kotzte ihn an. Und so fasste er den Entschluss, seiner Zukunft, wie immer sie auch aussehen mochte, entgegenzutreten.

Doch plötzlich reisst es ihn fort, und weil er nicht weiss, was mit ihm geschieht, sucht er noch Halt an seinem Laken, doch da ist kein Laken mehr, da sind Schuhe, die verstreut auf dem Fussboden liegen. Gina eilt herbei. «Haben Sie sich verletzt?» Erst jetzt realisiert Timo, dass sein Bein unter einem Holzregal eingeklemmt ist. Mit einem verzweifelten Ruck befreit er sich und steht auf. «Danke, es geht mir gut!» Er blickt ungläubig an sich hinab und betrachtet sein Bein. «Ich muss wohl versehentlich das Regal umgeworfen haben».
«Macht nichts», sagt Gina «das kann jedem passieren. Diese Regale sind nicht sehr stabil gebaut». Ihr Lächeln ist so sanft wie ein seidener Schal, der sich um Timos Hals schlängelt.
«Kenne ich sie nicht irgendwoher?», fragt Gina unvermittelt, während sie das Regal wieder aufzurichten versucht. Timo muss leer schlucken. «Nein», sagt er mit wenig überzeugender Stimme. Für einen Moment dreht sich die Erde nicht weiter, ein Aussetzer, die Nadel der Zeit bleibt für einen winzigen Bruchteil hängen. Und als der Herzschlag wieder einsetzt, dem Nachgeben des Bodens bei einem Erdbeben gleich, gleitet Gina das Regal aus den Händen. «Achtung!», ruft Timo und bekommt das Regal gerade noch zu fassen. Da stehen sie nun, Gina die Agentin und Timo, der ehemals einbeinige Krüppel, mit erhobenen Armen unter einem alten Schuhregal, näher als sie sich jemals zuvor waren, hätten kommen können, denn es gibt keinen Umstand in dieser Dimension, die ein solches Zusammentreffen zustande bringt. Da wird Gina auch bewusst, woher sie diesen Mann kennt. Es ist nicht sein Gesicht, das trotz seiner Verwirrung und der dunklen Augen die sanften Züge zeigt, die in diesem Raum der Geschichte gute Menschen so klar von den bösen unterscheidet, sondern seine Stimme ist es, die sie kennt. Sie schliesst die Augen, um ihr Geheimnis nicht zu verraten, doch insgeheim weiss sie, dass es nichts mehr zu verraten gibt. «Zaubermond» hat ihr Vater es genannt, «eines Tages triffst du ihn im Zaubermond». Gina öffnet die Augen wieder und spürt erst jetzt, dass sie das Gewicht des Regals nun wieder alleine trägt, denn obwohl sich Timo dagegen wehrte, zog es ihn zurück in Welt, in der er nicht erwachen wollte, die nicht für ihn geschaffen war.

Verwirrt richtete er sich im Bett auf. Er hatte den ganzen Tag geschlafen und würde wohl nachts wachliegen. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Er erinnerte sich nur vage an seinen Entschluss, sich dem Schicksal zu stellen, und als der Mond im Fenster stand, blätterte Timo wieder in Ginas Heften.

Du wirst dich deiner gerechten Strafe nicht entziehen. Nicht wenn Gina ermittelt. Ihr Blick gleitet über die dunklen Hausfassaden. Ein Lächeln wie ein Sommertag, der das Leben leicht erscheinen lässt. Kein erkennbarer Feind. Aber Gina setzt die Suche fort. Nachts ist sie die Katze, die ums Haus schleicht. Tagsüber ist sie ein Summen, losgelöste Melodie. Verwirrend und trügerisch, wie die Welt, in der sie lebt. Ihre Werte geraten ins Wanken. Der Tag bietet keinen Schutz und die Nacht bringt keinen Sieg. Gina kennt dieses komplizierte Gefühl nicht, sie kennt das Flehen um Gnade. Die Gerechtigkeit triumphiert zum Schluss. Niederlagen schmerzen.
«Gina», flüstert eine Stimme, «bist du das?» Gina will ihre Waffe ziehen, doch dann erkennt sie den Klang dieser Stimme. Vor ihr steht gross und schwarz der Mann vom Schuhgeschäft. Der Mond lässt Schatten um seinen Mund spielen. «Zaubermond», flüstert sie. «Ich weiss nicht, wo ich bin», sagt die Stimme des Mannes. Doch seine Lippen bewegen sich nicht. «Du bist hier bei mir», sagt Gina. Ihre Worte erscheinen ihr zwar naiv und doch so richtig. Sie nimmt ihn bei der Hand. «Komm, wir müssen hier weg, hier sind wir in Gefahr», sagt Gina, denn jederzeit kann sich wieder ein Schatten hinter einer Mauer lösen. Zusammen rennen sie durch die Nacht, ohne Ziel, das Ziel ist der heranziehende Morgen, seine glühenden Wangen berühren schon die Hauskuppen und Laternenpfähle. Timo rennt, wie er noch nie in seinem Leben gerannt ist, durch enge Strassenzüge hinaus auf freie Felder und Wiesen. Als der Himmel genug von seinem Morgentau über die beiden Flüchtenden ausgeschüttet hat, bleibt Gina endlich stehen, sie kann nicht sprechen, ihre Lungen versprühen den Atem als feinen Nebel in den neuen Tag. Ungläubig betrachtet Timo die Frau an seiner Seite und er möchte schreien vor Glück, aber auch ihm versagt die Stimme, denn seinem Körper sind die Anstrengungen des Laufens fremd geworden. So stehen sie beide da, keuchend und erschöpft, beide mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Gina hat ihren Retter, der Mann mit den schwarzen Augen, der sie vor der tödlichen Kugel bewahrt hat, gefunden. Und Timo seine Retterin, die ihm seine düsteren Gedanken zu zerstreuen vermochte.
«Ich heisse Gina», sagt Gina, als sie wieder sprechen kann und weil sie keinen vernünftigeren Satz zu sagen vermag. Ich weiss, möchte Timo sich erklären, sagt aber nur «schön, dich kennen zu lernen». So gehen sie stumm Hand in Hand in den jungen Morgen. Ein verliebtes Paar, würde ein zufälliger Zuschauer vermuten, mit sich selber zufrieden. Doch obwohl ihre Herzen brennen, wissen sie beide ob der Fragen, denen sie sich bald wieder stellen müssen. «Zaubermond» hat es Ginas Vater genannt. «Zaubermond» muss ihnen als Antwort vorläufig genügen.
 



 
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