Zehn Finger

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lietzensee

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Zehn Finger

Ich habe zehn Finger. Sie sind gute Werkzeuge. Doch strengt das Bedienen der Werkzeuge meinen Verstand oft an. Die Finger können alles tun - aber vorher muss ich ihnen lehren, wie sie es tun sollen. Ohne Verstand sind die Finger ja dumm. Es gab eine Zeit, es muss sie gegeben haben, als sie verloren auf den Tasten lagen. Sie waren blind, sobald meine Augen zum Bildschirm aufblickten. Wie mühsam war es, meine Finger zu trainieren, die faulen, kleinen Tierchen. Aber ich habe es geschafft. Der linke, kleine Dicke muss sich strecken, noch ein Stück nach oben, aber nicht zu weit. Dann mit Schwung auf die Taste. So trifft der Ballen das Q und ich lese den Buchstaben auf dem Bildschirm. Lange musste ich sie babysitten, bis sie ihre Wege auf den Tasten zu finden begannen.
Doch schließlich wurden die Kleinen selbstständig. Sie wurden brauchbar. Ich denke jetzt nur noch ein Wort und auf den Tasten erledigen meine Finger den Rest. Meine Gedanken erscheinen direkt auf dem Bildschirm. Das ist genial. Nur manchmal, wenn ich spätabends tippe, beschleicht mich Angst. Dann lese ich flimmernd, was ich selbst erst halb gedacht hatte. Was ich noch nicht zu denken wagte, steht plötzlich schwarz auf weiß vor mir. Muss ich nun auch meine Gedanken hüten? Sie babysitten wie kleine Tierchen?
Nein, natürlich nicht. Gedanken auf dem Bildschirm kriechen nicht aus dem Verstand. Sie schwingen aus den Tasten. Der Verstand stört diese Schwingung nur. Weil er erst denkt und dann befehlen will, hinkt er dem schnellen Schlag der Tasten hinterher. Wir sind zehn Finger. An uns hängt ein Verstand. Doch ernst nehmen wir ihn schon lange nicht mehr.
 



 
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