Zeit des Novembermonds

Ofterdingen

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Zeit des Novembermonds

In der Stadt breitete sich ein feuchter, grauer Morgen aus. Die Vögel, die sonst den anbrechenden Tag bejubelten, schwiegen verstimmt und die Menschen, welche durch die Straßen trotteten, hatten verregnete Gesichter. Einige schienen in ihrem Leben wohl auch in niederprasselnden Hagel geraten zu sein und zwischen allen zog bald ein unangenehm kühler Nebel auf.

Eigentlich konnte man diese ganze Woche vergessen, mehr noch, die ganzen letzten zwei Monate, dachte Rainer, denn die hatten sich eingetrübt, als der Ex-Lover von Ingrid wieder aufgetaucht war - und sie hatte sich von ihm bereitwillig wegschnappen lassen. Sie konnte Rainer nicht wirklich erklären, was sie an dem Kerl fand. Groß sei er, dabei korpulent und er habe einen dicken Bauch. An seinem Äußeren störe sie sich allerdings nicht, denn da sei eine unglaubliche Tiefe, die sie mit ihm verbinde.

In dieser Tiefe sah sie ihn nicht als den schlichten Kunstlehrer an, der er war, sondern als großen Künstler. Allerdings schienen nicht allzu viele diese Ansicht zu teilen, meinten nur, dass er nicht gut sei für Ingrid. Von solchen Meinungen ließ sie sich jedoch nicht beirren, sagte allen, man solle nicht versuchen, sie von ihren Fehlern abzuhalten, denn sie wolle diese nun einmal alle selber machen. Immerhin schien der andere Mann - im Gegensatz zu Rainer - noch fast alle seine Haare auf dem Kopf zu haben, und dass er ein Fass voller psychischer Probleme war, nahm sie nicht bloß in Kauf, sondern das schien sie geradezu zu ihm hin zu ziehen.

Sie glaubte in ihrem Verhältnis zu dem Kerl eine große Tiefe zu sehen. Doch war diese wirklich so schwindelerregend, wie es ihr schien? Und falls sie etwas in der Richtung sein sollte: Lockte sie da nicht ein Abgrund, der sich als wenig heroisch erweisen würde, ein Sturz, ein Absprung, der keineswegs von der senkrechten Wand eines hohen Alpengipfels träumen ließ, sondern nur mit dem viel banaleren Abgrund des Kerls zu tun hatte, oder in letzter Instanz mit einem Abgrund, der ihr eigener war. Sie würde in sich selber hineinspringen, ohne es zu wissen. Und der Sprung, der Sturz würde zwar weh tun, aber auf irgendeinem sehr gewöhnlichen Pflaster enden. Warum, fragte Rainer sich, erkundet sie ihre Abgründe nicht lieber mit mir zusammen? Was für ein Mist, dass psychische Probleme für nicht wenige Frauen einen Reiz hatten.

Rainer kannte diverse ähnliche Fälle aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Da war zum Beispiel Maritza, eine vierzigjährige Uni-Wissenschaftlerin, die ständig ihre Bettpartner wechselte. Nur mit einem, sagte sie, hätte sie sich ein Zusammensein über Jahre vorstellen können. Ihn habe sie wirklich geliebt, liebe ihn noch. Ja, ein Borderliner sei das gewesen, einer, den es zwischen den zärtlichsten, heftigsten Gefühlen und selbstmörderischer Aggressivität hin und her gerissen habe. Keine Beziehung habe er lange durchgehalten, auch die mit ihr nicht. Eines Tages sei er einfach weg gewesen und nie mehr wiedergekommen. Das sei Jahre her, aber irgendwie sei er immer noch da: Wenn sie irgendwann zu Plätzen komme, wo man ihn vielleicht treffen könnte, fresse das auch heute noch ihre Nerven auf. Sie fürchte dann, mit ihm zusammenzutreffen, und wünsche es sich insgeheim doch.

„Hast du ihn denn seither mal wieder gesehen?, fragte Rainer sie.

„Nein“ gab sie zur Antwort, „er ist wie Löwenzahn, dessen Schirmchen in alle Richtungen davonfliegen und sich nicht mehr einfangen lassen.“

„So wie du“, sagte Rainer.

„Ja. Nein. Ich bin ganz brav“, versetzte sie. „warte nur auf den Richtigen, der kommt und mich davon bläst. Ja, du magst Recht haben, auch mein Name ist Löwenzahn.“

„Löwenzahn“ stöhnte Rainer leise. “Was soll ein Mann wie ich noch mit solchen Weibern?“ Er sagte dies nicht laut, dachte es nur, der Satz blieb selbstverständlich für fast jedes Ohr unhörbar. Und doch hallte er für ihn um die ganze Welt.

Und es gab da Gesa, die einmal in einer Lebenskrise zusammengebrochen und in einer psychiatrischen Klinik gelandet war. „Nichts wie raus, dachte ich damals“, sagte sie. „ Aber als ich endlich draußen war, merkte ich, wie flach plötzlich alles war. Mit keinem von diesen oberflächlichen Typen hätte ich mir etwas vorstellen können, und ich litt unter den Menschen, bis ich dann Alf traf. Ich merkte sofort, dass auch er in einer Klinik gewesen war, denn wir Ehemaligen erkennen uns sofort an Zeichen, die anderen geheimnisvoll und verborgen bleiben mögen, mit denen wir uns aber entgegen leuchten, als ob wir ein Bild der Sonne auf der Brust trügen.“

Während er durch die feuchten, grauen Straßen ging, fielen ihm solche Sachen wieder ein und er versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn einem von der Brust eines Anderen eine Sonne entgegen leuchtete oder wenigstens ein fahler Mond und wenn einem da ein Mensch entgegen träte, der schauen und einen erkennen würde. Und man könnte dann, dachte er beglückt, eine fremde, seltsam vertraut werdende Hand spüren, die einen an Stellen packte, die bisher irgendwo weit da drinnen hinter so einer Art Nebelwand gelegen hatten, und auf einmal sähe man, dass da etwas war, bisher verborgen und jetzt im hellen Licht.

Rainer zeigte auf seine Brust, als Ingrid ihn am Abend besuchte. Ihr Blick folgte seinem Finger. Da war ein Löwenzahnschirmchen gelandet, doch man sah keine Sonne und keinen Mond.. „Schau genau hin, dann kannst du eine Schlange entdecken, die aus dem Paradies“, sagte er. „Tut mir Leid, wenn ich dich enttäusche, Ich habe zwar auch meine Abgründe, aber keinen vorzeigbaren Schaden, bin nur ich selber, na ja, oder höchstens insofern verrückt, dass ich dich immer noch will.“
 
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