Zeit schwimmt davon

Ofterdingen

Mitglied
Mit einer höflichen Verbeugung vor Franke:


Auf der anderen Straßenseite stehen und sehen, wie deine Freundin zur Bushaltestelle kommt. Du bemerkst zuerst den alten Mann gar nicht, der sich eine Zigarette dreht. Dann hörst du das Klicken seines Feuerzeugs, bekommst Rauch ins Gesicht. Vor ihm steht eine übergroße indische Baumwolltasche. Nach einer Weile bückt er sich, holt ein Laken heraus und brennt mit der Zigarette zwei Löcher hinein, zwei Augen wie mit Kajal umrandet. Er wirft das Laken. Ist es ein Fischernetz? Er wirft es über deine Freundin. Sie zappelt, er hebt sie sich auf die rechte Schulter und geht davon. Bald kommt er wieder. Sein Gang ist leicht geworden. Das Laken hängt immer noch über seiner Schulter. Er greift danach, schaut ungläubig, denn es ist leer. Und nass. Vor ihm und im Kreis breitet sich ein See aus.

Jahre später schwimmt er an deinem Haus vorbei. Du bist mit den Kindern im Garten und dein glockenhelles Lachen dringt in das geöffnete Fenster des Autos. Das Wasser steigt und nimmt den Wagen mit und das Lachen.

Dann dieser Tag im April, als du dich alleine auf den Weg machst. Dein hölzernes Boot nur notdürftig zusammengefügt. Vielleicht kannst du einen letzten Blick erhaschen von dem, was hinter dir liegt.

Schließlich dieses Floß. Es hat länger gehalten, als du dachtest. Dann trieb ein Schreibtisch auf dich zu. Du hast dich heftig an ihm festgehalten, dich hochgezogen und nach der alten Schreibfeder gegriffen und dem Fässchen Königsblau. Das Papier ist feucht geworden, die Tinte zerläuft darauf, doch du setzt bedächtig Wort für Wort. Wieder schreiben, schreiben, als wäre da noch alle Zeit der Welt.
 
Zuletzt bearbeitet:

York

Mitglied
Hallo Ofterdingen -

ich finde deine Idee der Wiederaufnahme von Texten interessant - weiß allerdings nicht, wie die Ursprungsautor:innen damit umgehen...?

Wo es schwierig für mich wird, ist die Reflexion solcher Wiederaufnahmen. In diesem Text von Franke z.B. hatte ich Vorbehalte gegen den Ausdruck "glockenhelles Lachen". Auf meinen Einwand hatte dann Ji reagiert und wir haben es dort diskutiert.
Jetzt schreibst du wieder "glockenhelles Lachen", da du es aus dem Ursprungstext übernommen hast. Nur wird das Ganze irgendwann zu einem täglich grüßenden Murmeltier...

Da ich die Idee der Wiederaufnahme eines Textes aber gut finde, werde ich dazu angeregt, ob man dies nicht ausbauen könnte:
Wenn du einen - wahrscheinlich besser kurzen - neuen Text von dir hier ins Forum stellst mit der bewußten Anregung, diesen neu zu schreiben.
Dies würde ich dann nicht als ein Besser oder Schlechter sehen, sondern könnte Geschmacksfragen und Stile beleuchten, die ja ganz unterschiedlich sein können und auch sollten. Ich denke, dass könnte spannend sein, wenn mehrere daran mitarbeiten.

Was hälst du davon?

Gruß
York
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Kann man machen, Ofterdingen – aber cui bono? Immerhin hast Du nachträglich angemerkt, wen Du hier persiflierst.

Allerdings müsste diese Persiflage dann auch einen eigenen Sinn ergeben. Das tut sie für mich nicht. Der Text ist einfach nur schnell zusammengestopselt, mit vielen Wortwiederholungen (dreimal ein Satzanfang mit „Dann“), unvermitteltem Zeitenwechsel vom Präsens/Perfekt ins Präteritum („Dann trieb ein Schreibtisch“) und zu vielen „und“.

Kann es sein, dass Du einfach nur provozieren wolltest?

Gruß, Ciconia
 

Ofterdingen

Mitglied
York schrieb:

"Wenn du einen - wahrscheinlich besser kurzen - neuen Text von dir hier ins Forum stellst mit der bewußten Anregung, diesen neu zu schreiben.
Dies würde ich dann nicht als ein Besser oder Schlechter sehen, sondern könnte Geschmacksfragen und Stile beleuchten, die ja ganz unterschiedlich sein können und auch sollten. Ich denke, dass könnte spannend sein, wenn mehrere daran mitarbeiten.

Was hälst du davon? "

Gute Idee. Ich stelle jetzt hier mal einen Text rein, den ich gerade erst angefangen habe. Macht damit, was ihr wollt:

Sie hielt ihr Glas Sekt hinter dem Rücken verborgen, als sie das Großraumbüro betrat. „Die haben schon genug“, dachte sie. „Muss aufpassen. Die Schreibtische sehen noch arg trocken aus und der Chef steht in Flammen.“
Sie dachte das, weil der Kerl eine unangenehme Hitze verbreitete, während er wie ein Feuerball an ihr vorbeischoss und hinter ihr stehen blieb. Doch statt sie wie sonst in den Po zu kneifen, schrie er „Her!“ und riss ihr das Glas aus der Hand. „Weihnachten ist vorbei“, krähte er, „das muss gefeiert werden. Obwohl, wenn das nächste Jahr wieder so lausig wird, können wir uns glatt alles schenken.“
„Schenken?“ fuhr Herr Pichelsteiner vom Kopierer hoch, auf dem er vornüber gelehnt gedöst hatte. Es machte nichts, wenn er hin und wieder eine Schlafpause einlegte, man brauchte keinen besonders wachen Kopf für die Arbeiten in dieser Firma. „Schenken? Weihnachten?“ wiederholte er. „Bekomme ich etwas geschenkt?“
„Ich, ich, ich. Immer denken Sie nur an sich selber, Pichelsteiner. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Frau Körbchen!“ Er ließ seinen Blick über ihre Bluse gleiten. „Die hat mir ihr Glas Sekt abgetreten. Warum tun Sie nicht auch mal sowas!“
„Körber, Herr Glufenmichel, nicht Körbchen“ wies die junge Dame ihn scharf zurecht.
„Werden Sie nicht unverschämt!“, brüllte der Chef. „Ich heiße Glupfenbichler.“
Sie errötete leicht und merkte, wie sich unter ihren Achseln Schweißtropfen bildeten. Das war ihr in der Erregung so rausgerutscht. Selbstverständlich hieß er Glupfenbichler, doch nannten ihn hinter seinem Rücken alle Glufenmichel. Den Ausdruck hatten sie von dem Kollegen Eberle aufgeschnappt. Der kam aus Schwaben und hatte ihnen erklärt, Glufe sei in seinem Dialekt die Bezeichnung für eine Stecknadel, einen Gegenstand von sehr geringem Wert, und ein Glufenmichel sei ein äußerst kleinlicher Mensch, ein Erbsenzähler, ein Korinthenkacker, und das Wort passte haargenau auf ihren Chef, der ein Idiot war und wegen jeder Lappalie ein Riesen Theater machte.
Herr Pichelsteiner konnte sein Grinsen nicht ganz verbergen. Der Chef merkte es und fuhr ihn an: „Und Ihnen werde ich fünf Euro und zwei Cent vom Lohn abziehen. Meinen Sie, ich hätte nicht gesehen, wie sie eine Büroklammer auseinander gebogen haben? Und die Büroklammern sind Firmeneigentum, das wissen Sie ja wohl.“
„Entschuldigen Sie, aber sind fünf Euro zwei Cent nicht etwas übertrieben für eine simple Büroklammer? So ein Ding ist doch nicht mehr wert als ein, zwei Cent.“
„Materialwert. Der Rest ist Bearbeitungsgebühr. Wenn das Lohnbüro das verbuchen soll, ist ein Eingriff in die Software notwendig. Zeitaufwendig ist das, wie Sie sich denken können, und Zeit ist Geld.“
„Aber ich …“
„Wollen Sie etwa leugnen, dass Sie die Büroklammer verbogen haben?“
„Nein, Herr Glupfenbichler. Ich musste mein Handy aufmachen und ich hatte nichts anderes.“
„Sie wollten also im Büro privat telefonieren?“
„Nein, ich möchte nur gern meine Sachen in Ordnung halten.“
„Das dürfen Sie ja. Aber nicht während Ihrer Arbeitszeit.“
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ofterdingen,

Kann es sein, dass Du einfach nur provozieren wolltest?
Tja, da bin ich mir noch nicht sicher, wie ich damit umgehen soll. Du hast dies bereits ja bei einem Text eines anderen Autoren gemacht.

Als Autor habe ich dann ein Problem damit, wenn mein Text so verfälscht ankommt. Das macht den Ursprungstext dann doch lächerlich, vor allem wenn vollkommen unlogische Sachen eingebaut sind.

Beispiel:

Auf der anderen Straßenseite stehen und sehen, wie deine Freundin zur Bushaltestelle kommt. Du bemerkst zuerst den alten Mann gar nicht, der sich eine Zigarette dreht. Dann hörst du das Klicken seines Feuerzeugs, bekommst Rauch ins Gesicht. Vor ihm steht eine übergroße indische Baumwolltasche. Nach einer Weile bückt er sich, holt ein Laken heraus und brennt mit der Zigarette zwei Löcher hinein, zwei Augen wie mit Kajal umrandet. Er wirft das Laken. Ist es ein Fischernetz? Er wirft es über deine Freundin. Sie zappelt, er hebt sie sich auf die rechte Schulter und geht davon. Bald kommt er wieder. Sein Gang ist leicht geworden. Das Laken hängt immer noch über seiner Schulter. Er greift danach, schaut ungläubig, denn es ist leer. Und nass. Vor ihm und im Kreis breitet sich ein See aus.
Den Rauch der Zigarette kann ich nur ins Gesicht bekommen, wenn der alte Mann auf meiner Straßenseite neben mir steht. Dann allerdings hat er ein Problem das Laken aus dieser Entfernung über meine Freundin zu werfen.

Der Text wirkt tatsächlich sehr zusammengeschustert.

Als Moderator muss ich dazu sagen, dass ich nicht möchte, dass dies hier in der Kurzprosa zur Gewohnheit wird. Es gibt auch so etwas wie Respekt vor den Texten der Autoren.

Liebe Grüße
Manfred
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Ciconia,

Danke für deinen Kommentar. `Cui bono?´ bedeutet, wenn ich das richtig weiß, `Wem nützt das?´ oder `Was bringt das?´ Mit dieser Frage könnte man bei jedem Text in der Leselupe anklopfen, oder was meinst du?

"Kann es sein, dass Du einfach nur provozieren wolltest?´ Nein, war bloß Spieltrieb, das Homo-ludens-Prinzip. Und mein Versuch der Anverwandlung war ansonsten als ein Kompliment für den "persiflierten" Text gemeint. Nur ganz wenige reizen mich zu solcher Auseinandersetzung.

Ich habe übrigens nicht vor, das zu einer Gewohnheit zu machen, und falls mich doch mal wieder der Rappel packen sollte, werde ich vorher beim Autor des Vorbild-Textes nachfragen, ob ihm/ihr meine Aktion Recht ist.

Gruß,

Ofterdingen
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Manfred,

Auch dir Dank für deinen Kommentar. Du hast Recht, mein Text ist schnell schnell entstanden, doch möchte ich noch etwas zum Thema Zigarettenrauch anmerken: Du dachtest vielleicht eher an eine vier- oder sechsspurige Verkehrsader in der Großstadt, ich dagegen sah eine schmale Straße in der Altstadt vor mir, und da kann man schon Zigarettenrauch von der anderen Seite ins Gesicht bekommen, was insbesondere ein Tabakrauchgegner wie ich sehr wohl wahrnehmen wird.

Gruß,
Ofterdingen
 



 
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