Zeitlose Gedanken

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Tula

Mitglied
Zeitlose Gedanken


Wären Gedanken wirklich frei,
dann liefen sie nicht im Kostüm
des Zeitgeists, der sich ungestüm
durch alle Fugen drückt, wie Brei...

Wären Gedanken wirklich frei,
zerrissen sie das enge Kleid
des Reims, der stets nach einem Stock
des Dirigenten - Sprache - tanzt.

Trügen Gedanken kein Gewand,
nach irgendeiner Vorschrift oder Mode,
dann tollten sie herum wie kleine Kinder,
die nackt am Strand die Zeit verspielen...

Der eine oder andere, der fände einen Stein,
der völlig einzigartig wär' (wie jeder nun mal ist,
denn keiner gleicht dem anderen
).
Mit Stolz dem Denk-Erzeuger dargebracht,
sagt' dieser sicher wieder: „Nein!“ (wie schon so oft...) -
„Der hat doch keinen Wert. - Wirf ihn zurück!“
(Doch ahnte nicht, dass „Wert“ nicht mehr
als nur ein kleiner Knopf an einem Hemde ist
).

Wär' der Gedanke wirklich frei,
dann stürzt' er sich samt Stein in jenen Strom,
auf dem der Mensch und seine Werte treiben...
Er würde nicht stromauf noch -abwärts schwimmen;
ein wildes Brodeln, das wär' sein letzter Gruß.

Dann riss er an den Ufern aller Dinge, alles Seins,
und schließlich alles fort, bis nichts mehr blieb
als nur ein Lumpenfrack
und zäher Brei...
 

Label

Mitglied
Hallo Tula

Dein Gedicht fasziniert mich. Zum einen gefällt mir der zugrundeliegende Gedanke und Teile der Ausführung wirklich gut, andererseits empfinde ich die vierte Strophe als eine Kata..

Jedenfalls gelingt es mir dort nur teilweise dem Gedankengang zu folgen/nachzuvollziehen, dann löst sich für mich jede Ähnlichkeit zu etwas Verdichtetem auf.

kann natürlich sein, dass dies ein gewünschter Effekt ist, um die Gedankenfreiheit beispielhaft zu demonstrieren, da die nachfolgenden Strophen formal wieder einem Gedicht gleichen, die Gedanken aber zusehends verwirbelter werden.

Im Gesamtblick lösen sich die Strukturen vom zunächst gereimten zu immer weniger geformten auf.
Interessant, sehr sogar, wenn auch gewöhnungsbedürftig.

Lieber Gruß
Label
 

Tula

Mitglied
Hallo Label

vielen Dank für die ausführliche Antwort; damit bin ich jetzt eine Erklärung schuldig. Ob gelungen oder nicht, die Idee war die folgende:

Grundidee: sicherlich klar, unsere Gedanken sind nicht “wirklich” frei, sie unterliegen einer ständigen Prägung durch unsere Zeit, Gesellschaft und Umwelt; auch wenn das logisch erscheint (wir müssen uns bekanntlich anpassen, um zu überleben), wir bilden uns allzuoft ein, uns unsere Meinung “selbst gebildet” zu haben.

Es geht als Reimgedicht los und löst sich nach und nach auf, das war Absicht. Beim lauten Lesen wird der aufmerksame Leser dennoch feststellen (hoffe ich :)-) ), dass es trotzdem nicht holpert, eine gewisse Metrik wird aufrechterhalten. Da das Werk unter “Ungereimtes” läuft, dürfte dies entschuldbar sein.

Die freien Gedanken sind nackt (ohne die schon in der ersten Stophe eingeführte, 'lästige Bekleidung' des “Zeitgeists”) und wie kleine Kinder (unschuldig, unbefangen, unvoreingenommen).

Der Denk-Erzeuger ist der Mensch selbst, er erkennt leider nicht die Einzigartigkeit eines jeden Gedanken (Vergleich mit den Steinen, auch in Anspielung auf den berühmten “Stein der Weisen”), d.h. auch neue und 'gute' Gedanken werden wieder verworfen usw. - Der Wert (eines Dinges, Steins etc.) ist nichts weiter als ein belangloser Knopf am Hemd, d.h. wieder mit Bezug auf die oben genannte lästige Bekleidung, welche den Zeitgeist, sozusagen als geistige Zwangsjacke, symbolisiert.

Der Gedanke wird nicht stromauf- oder abwärts schwimmen, das würde ja eine Richtig beinhalten, die es aber im Kontext des Gedichts natürlich nicht geben kann. So kommt es zum 'dramatischen Ende', zurück bleibt die Zwangsjacke als Lumpenfrack und der in der ersten Strophe genannte Brei, sozusagen als eine letzte ironische Aussage des Gedichts.

So hatte ich es mir jedenfalls durchdacht. Ob es den Lesern gefällt ? - Falls nicht, werde ich mich damit trösten, dass unser sogenannter Geschmack ja auch Resultat einer Prägung ist, zumindest bis zu einem gewissen Grade. Bei Musik als Modeerscheinung wird das sehr deutlich.

LG
Tula
 

revilo

Mitglied
Hallo....mir gefällt der Text nicht sonderlich...hat wenig mit Lyrik zu tun.....als ich ihn zum ersten Mal las, habe ich nach 3 Strophen abgebrochen, weil alles sehr gedrechselt klingt....jetzt habe ich mich durchgequält...als ich fertig war, hatte ich den Anfang bereits wieder vergessen.....erinnert mich ein wenig an hätte hätte Fahrradkette.....
sorry....nichtbösesein.....LG revilo
 

Tula

Mitglied
Hallo revilo

neee, böse bin ich nicht, lieber ehrliche Kritik, als schweigende Leser.

Der sprachliche Stil ist ja Absicht, ob gedrechselt oder nicht, ist eben nicht jedermanns Sache.

Ich verstehe, dass Dir der Inhalt als solcher auch nicht gefällt. Vielleicht habe ich mich bei diesem doch etwas inspirieren lassen. Ich lese gerade Fernando Pessoa, philosophisch angehauchte Lyrik, manchmal verträumt, manchmal fast naiv, dann wieder schwerer verständlich. Ist ja auch 100 Jahre alt und hat trotz seiner Berühmtheit im Stil (auch in seiner Sprache) mit moderner Lyrik heute wenig zu tun.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
pharisäergesang

Wären Gedanken wirklich frei,
zerrissen sie das enge Kleid
des Reims, der stets nach einem Stock
des Dirigenten - Sprache - tanzt.
Wie gut, daß Deine Gedanken so frei sind.

Obwohl sie doch immer "geprägt" sind, wie Du schreibst?

Wie gut, daß diese Sprüche von der unentrinnbaren "Prägung" das Wort "Gedanken" völlig gedankenlos zum Subjekt nehmen.

Denn Gedanken, die mich etwas erkennen lassen, sprengen jede Prägung, oder nutzen sie wie Schriftzeichen, oder durchleuchten sie wie mathematische oder sprach-archäologische Strukturen und Schichtungen.

Wem Reime ein enges Kleid sind, der sollte sich was anderes anziehen. Ich liebe weite Kleidung und Sprachmelodien, Reime wie offene Verse, beides.
 

revilo

Mitglied
Vielleicht habe ich mich bei diesem doch etwas inspirieren lassen. Ich lese gerade Fernando Pessoa, philosophisch angehauchte Lyrik, manchmal verträumt, manchmal fast naiv, dann wieder schwerer verständlich. Ist ja auch 100 Jahre alt und hat trotz seiner Berühmtheit im Stil (auch in seiner Sprache) mit moderner Lyrik heute wenig zu tun.
ok, das geht mir auch häufig so.....aber es ist m.E. nicht so gut, wenn man sich zu sehr anpasst oder gar imitiert...ob das hier passiert ist, vermag ich nicht zu beurteilen, weil ich den Autor nicht kenne...

Lg revilo
 

Tula

Mitglied
Ach Mondnein,

als heuchlerischer Geistlicher möchte ich hier wirklich nicht verbleiben! - Und Du hast doch so recht, der Vergleich mit “weiter Kleidung” trifft es gut.
Wie der Titel sagt, es geht hier um Gedankenspiele und auf keinen Fall um irgendeine Verallgemeinerung oder Besserwisserei. Was wäre Lyrik ohne freie Gedanken...

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo revilo

ich kann Dir versichern, ich habe hier nicht imitiert, sondern mich “etwas” inspirieren lassen, d.h. von den teilweise übertrieben rationalen Gedankengängen des genannten Autors. Thema und Stil selbst sind von mir, letzteren könnte ich auch nicht ohne Weiteres übertragen, da hat jede Sprache ihre eigene Melodie.

Nun sollte man dennoch nicht den Mut verlieren, hier auf der Lupe auch mal Neues auszuprobieren. Auch darauf kam es mir an. Die kontroverse Reaktion der Leser zeigt mir, dass sich das dennoch gelohnt hat.

LG
Tula
 

Walther

Mitglied
Hi Tula,

das kernproblem deines texts ist dessen mangelnde verdichtung. eine gute idee knapp und originell zu präsentieren - das ist die aufgabe von lyrik. die langgedichte, deren funktion eine andere ist, wollen wir hier einmal ausklammern.

also: reduziere die gute idee, die du wesentlich in S1 und S2 bereits entwickelt hast, auf ihren kern. dann wird der text ein guter.

wichtig: die form ist träger, nicht selbstzweck. wem die kleider zu eng sind (hier die form), soll und darf sie zerreißen. ich selbst schreibe vers libre und formlyrik. es kommt immer darauf, wie sich sujet und umsetzung zusammenfinden - nur das zählt.

lieber gruß W.
 

Tula

Mitglied
Hallo Walther

vielen Dank für Deine Worte, ich werde sie mir zu Herzen nehmen. Dass in der Kürze die Würze liegt, ja das vergisst man leider schnell.

Als "Fallbeispiel" darf ich es wohl noch stehen lassen, d.h. nicht weil ich den gut gemeinten Rat ignoriere. Ich werde das Thema sicherlich irgendwann noch einmal angehen, aber dann in einer anderen Form, also "nochmal ganz von vorn".

LG
Tula
 

Walther

Mitglied
lb. Tula,

warum kürzt du den text nicht einfach? S4 und S6 könnten ohne verlust an aussage ersatzlos wegfallen. den verbliebenen text müßte man etwas bearbeiten, aber nicht viel.

du brauchst das thema nicht komplett neu anzugehen.

lieber gru0 W.
 

Tula

Mitglied
Hallo Walther

da kann ich jetzt wohl nicht mehr nein sagen! - ich werde es also versuchen.

Ich hatte nur Bedenken, dass der Stein dann wieder in den tiefen Brunnen plumpst...

Lass mir nur etwas Zeit, ich muss mir Kernaussage und Form wirklich nochmal durchdenken.

LG
Tula
 

revilo

Mitglied
....ich habe dir auch keine Imitation unterstellt.....da nehme ich für mich in Anspruch...ich habe mit 17 reihenweise schlecht Bukowsi- Kopien verfasst...
 

Tula

Mitglied
Hallo revilo

dann warst Du schon als junger Mensch sehr anspruchsvoll!

Keine Sorge

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Die Gedanken sind frei

Wären Gedanken wirklich frei,
dann liefen sie nicht im Kostüm
des Zeitgeists, der sich ungestüm
durch alle Fugen drückt, wie Brei...

Lässt Du Gedanken wirklich frei,
zerreißen sie das enge Kleid,
in dem Mensch nach einem Stock
des Dirigenten - Mode - tanzt.

Trägt der Gedanke kein Gewand,
nach irgendeinem Maß und Ton gestrickt,
dann hüpft und tollt er wie ein Kind,
das nackt am Strand den lieben Tag verspielt...

Lässt Du ihn spielen ohne Zwang,
entdeckt er Dir im kargsten Sand
den schönsten Stein, den jemals jemand fand...
Vielleicht sogar den einen, den
der Dichter schon in Ur besang...


PS:
diese alte Version lasse ich hier stehen, damit zukünftige Leser die Diskussion (siehe unten) nachvollziehen können.


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Zeitlose Gedanken


Wären Gedanken wirklich frei,
dann liefen sie nicht im Kostüm
des Zeitgeists, der sich ungestüm
durch alle Fugen drückt, wie Brei...

Wären Gedanken wirklich frei,
zerrissen sie das enge Kleid
des Reims, der stets nach einem Stock
des Dirigenten - Sprache - tanzt.

Trügen Gedanken kein Gewand,
nach irgendeiner Vorschrift oder Mode,
dann tollten sie herum wie kleine Kinder,
die nackt am Strand die Zeit verspielen...

Der eine oder andere, der fände einen Stein,
der völlig einzigartig wär' (wie jeder nun mal ist,
denn keiner gleicht dem anderen
).
Mit Stolz dem Denk-Erzeuger dargebracht,
sagt' dieser sicher wieder: „Nein!“ (wie schon so oft...) -
„Der hat doch keinen Wert. - Wirf ihn zurück!“
(Doch ahnte nicht, dass „Wert“ nicht mehr
als nur ein kleiner Knopf an einem Hemde ist
).

Wär' der Gedanke wirklich frei,
dann stürzt' er sich samt Stein in jenen Strom,
auf dem der Mensch und seine Werte treiben...
Er würde nicht stromauf noch -abwärts schwimmen;
ein wildes Brodeln, das wär' sein letzter Gruß.

Dann riss er an den Ufern aller Dinge, alles Seins,
und schließlich alles fort, bis nichts mehr blieb
als nur ein Lumpenfrack
und zäher Brei...
 

Tula

Mitglied
ein Versuch...

Hallo,

Walther's Herausforderung annehmend, habe ich also eine neue Version erstellt, welche die Grundaussage beibehält (angeblich freies Denken unterliegt zeitlicher Mode, Trends usw.) und dennoch die Freiheit der Gedanken möglich macht. Wäre ja auch traurig, wenn das nicht so wäre...

Die schrittweise Auflösung der Form habe ich absichtlich belassen, wenn auch weniger “verwirbelt”.

Der abgeänderte Titel passt meiner Meinung nach besser, auch als gedanklicher Sprung zum weit bekannten Volkslied.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Die Gedanken sind frei

Wären Gedanken wirklich frei,
dann liefen sie nicht im Kostüm
des Zeitgeists, der sich ungestüm
durch alle Fugen drückt, wie Brei...

Lässt Du Gedanken wirklich frei,
zerreißen sie das enge Kleid,
in dem Mensch nach einem Stock
des Dirigenten - Mode - tanzt.

Trägt der Gedanke kein Gewand,
nach irgendeinem Maß und Ton gestrickt,
dann hüpft und tollt er wie ein Kind,
das nackt am Strand den lieben Tag verspielt...

Lässt Du ihn spielen ohne Zwang,
entdeckt er Dir im kargsten Sand
den schönsten Stein, den jemals jemand fand...
Vielleicht sogar den einen, den
der Dichter schon in Ur besang...


PS:
die folgende, alte Version lasse ich hier stehen, damit zukünftige Leser die Diskussion (siehe unten) nachvollziehen können.


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Zeitlose Gedanken


Wären Gedanken wirklich frei,
dann liefen sie nicht im Kostüm
des Zeitgeists, der sich ungestüm
durch alle Fugen drückt, wie Brei...

Wären Gedanken wirklich frei,
zerrissen sie das enge Kleid
des Reims, der stets nach einem Stock
des Dirigenten - Sprache - tanzt.

Trügen Gedanken kein Gewand,
nach irgendeiner Vorschrift oder Mode,
dann tollten sie herum wie kleine Kinder,
die nackt am Strand die Zeit verspielen...

Der eine oder andere, der fände einen Stein,
der völlig einzigartig wär' (wie jeder nun mal ist,
denn keiner gleicht dem anderen
).
Mit Stolz dem Denk-Erzeuger dargebracht,
sagt' dieser sicher wieder: „Nein!“ (wie schon so oft...) -
„Der hat doch keinen Wert. - Wirf ihn zurück!“
(Doch ahnte nicht, dass „Wert“ nicht mehr
als nur ein kleiner Knopf an einem Hemde ist
).

Wär' der Gedanke wirklich frei,
dann stürzt' er sich samt Stein in jenen Strom,
auf dem der Mensch und seine Werte treiben...
Er würde nicht stromauf noch -abwärts schwimmen;
ein wildes Brodeln, das wär' sein letzter Gruß.

Dann riss er an den Ufern aller Dinge, alles Seins,
und schließlich alles fort, bis nichts mehr blieb
als nur ein Lumpenfrack
und zäher Brei...
 



 
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