Hallo Dionysos,
dieses Gedicht hat mir als Leser einiges zu bieten, wenngleich es auch in der Lage ist, eine ob seiner barocken Schwülstigkeit etwas erschlagende Wirkung zu haben. Der Vorteil an dieser Art deines Schreibens ist es, dass man erstmal einem ganzen Ansturm an poetischen Bildern ausgesetzt ist, welche in ihrer Gesamtheit wie ein Rubens-Gemälde zum Staunen einladen.
Bei diesem Gedicht musste ich aber sehr oft einen neuen Leseversuch starten, um mehr als nur einen Gesamteindruck des Textes zu bekommen. Denn nach dem ersten Lesen war ich derart von den Bildern übermannt, dass sich alle Verse wie in einem Rauschen verloren haben und ich gar kein Gefühl mehr für den Text hatte. Das hat mich dazu bewogen, das Gedicht erneut und erneut sehr langsam und aufmerksam zu lesen, um ihm besser auf die Spur zu kommen. Dabei hat sich das im Titel versprochene
Zeitlupen-Gefühl eingestellt. Gleichsam musste ich aber bei manchen Metaphern schon sehr tief in der Fantasie-Trickkiste kramen, um darin noch ein in sich geschlossenes Bild zu erkennen.
Bettler, die wie
Drähte surren (Vers 1), ist dabei die Metapher, die meine Fantasie am meisten strapaziert. Auch das
Bellen des Hustens (Vers 5) will sich für mich nicht elegant in den Text einfügen, weil es trotz der nachfolgenden Erklärung (
Alles Zeitvergehen ist abgestellt) zu dynamisch wirkt, um der
Zeitlupen-Perspektive des Textes gerecht zu werden.
Solchen aus meiner Sicht dem Gesamteindruck etwas abträglicheren Versen stehen Bilder gegenüber, welche ich persönlich aufs Äußerste gelungen finde. Beispielhaft dafür sind:
Ausgeschnitten bloß
Ein Bild in dem vielleicht der Atem
eines ganzen Lebens tost
und
festgemachte
Wanderer auf einer Stelle
Da kann ich nur applaudieren, klasse!
Es ist mir überdies aufgefallen, dass wahrscheinlich ganz bewusst Rilkes
Panther gekonnt in den Text eingewoben wurde. Zum einen erinnert mich der Duktus deines Gedichtes z.T. an besagten Rilke-Text. Auffällig ist diesbezüglich vorallem, dass auch dein Text damit arbeitet, mit metrisch gut gesetzten Adjektiven das Versende herauszuzögern und davor noch einen Moment der Spannung zu erzeugen, welcher durch die Charakterisierungen der Bezugswörter entsteht. Z.B. schreibst du:
Zwei Groschen, sorgsam abgezählt
oder
Jeder Schrei in sich gebeugter Wille
Diese Adjektive, die sich eher am Zeilenende befinden, kenne ich vor allem von der Lyrik-Rilkes und gerade im
Panther sind sie ein starkes stilistisches Mittel:
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Des Weiteren denke ich, Zitat-Fragmente zu erkennen. So ist im Panther, wie auch bei deinem Gedicht, in ähnlicher Art von
Kreisen die Rede, aber vor allem auch von
Blicken, welche jeweils die Tragik des damit ausgestatteten Subjektes ausdrücken:
Dionysos:
In der Luft da hängen Blicke, die keinem mehr gelten
Rilke:
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Auch wenn dies vielleicht nur Zufall oder eine gewagte Interpretation meinerseits ist, ergibt sich für mich aus diesen Anspielungen der eigentliche Bedeutungsgehalt deines Gedichtes. Dem Leser eröffnet sich in einer Zeitlupenperspektive ein Bild auf den Alltag in einem kapitalistischen Umfeld. Diese Perspektive soll, so meine Deutung, dem Leser vor Augen führen, dass diese Form der Existenz an Trost- und Leblosigkeit mit der eines eingesperrten Raubtieres gleichzusetzen ist, welches um seine Lebendigkeit betrogen wurde. Ich finde, du hast dies im Gedicht sehr interessant umgesetzt.
Zuletzt noch ein paar Kleinigkeiten:
Bleibt im Moment verschollen
Ein Bild, in dem vielleicht der Atem
In der Luft, da hängen Blicke, die keinem mehr gelten
Ich habe mich, auch wenn meine Interpretation möglicherweise an deiner Intention vorbeizielte, gern mit deinem Werk beschäftigt!
Liebe Grüße
Frodomir