Zeitlupe


Die Bettler surren vor dem Supermarkt wie Drähte als
eine Stille fällt
Zwei Groschen, sorgsam abgezählt,
schweben,- verlorene Gebete-
Ein Husten bellt
ein Donnergrollen
Alles Zeitvergehen ist abgestellt
Das tiefe Grollen flaut nicht
ab. Ein Rollen, das zum Schrei erstarrt
Eingemauert in ein Grab
Bleibt Im Moment verschollen
Ausgeschnitten bloß
Ein Bild in dem vielleicht der Atem
eines ganzen Lebens tost

In der Luft da hängen Blicke, die keinem mehr gelten
Augenmurmeln, Starrer, unbewegte Welten
und jedes Licht, das auf sie fällt
ist wie ein Strahlenchrist
auf Raum und Zeit gepfählt
Das Kreuz der Kreuze
ist das Alles, ist das Nichts
Der Augenblick

Zusammenhänge frieren ein,
Menschenpylone haften
aneinander -
Polypen-Hafter, festgemachte
Wanderer auf einer Stelle
Verloren, ineinander
Das Schreien des Steins
Jeder Schrei in sich gebeugter Wille
auf Raum und Zeit gepfähltes Selbst
Das in sich Werdende:
die Stille


 
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G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
Hallo Dionysos,

dieses Gedicht hat mir als Leser einiges zu bieten, wenngleich es auch in der Lage ist, eine ob seiner barocken Schwülstigkeit etwas erschlagende Wirkung zu haben. Der Vorteil an dieser Art deines Schreibens ist es, dass man erstmal einem ganzen Ansturm an poetischen Bildern ausgesetzt ist, welche in ihrer Gesamtheit wie ein Rubens-Gemälde zum Staunen einladen.

Bei diesem Gedicht musste ich aber sehr oft einen neuen Leseversuch starten, um mehr als nur einen Gesamteindruck des Textes zu bekommen. Denn nach dem ersten Lesen war ich derart von den Bildern übermannt, dass sich alle Verse wie in einem Rauschen verloren haben und ich gar kein Gefühl mehr für den Text hatte. Das hat mich dazu bewogen, das Gedicht erneut und erneut sehr langsam und aufmerksam zu lesen, um ihm besser auf die Spur zu kommen. Dabei hat sich das im Titel versprochene Zeitlupen-Gefühl eingestellt. Gleichsam musste ich aber bei manchen Metaphern schon sehr tief in der Fantasie-Trickkiste kramen, um darin noch ein in sich geschlossenes Bild zu erkennen. Bettler, die wie Drähte surren (Vers 1), ist dabei die Metapher, die meine Fantasie am meisten strapaziert. Auch das Bellen des Hustens (Vers 5) will sich für mich nicht elegant in den Text einfügen, weil es trotz der nachfolgenden Erklärung (Alles Zeitvergehen ist abgestellt) zu dynamisch wirkt, um der Zeitlupen-Perspektive des Textes gerecht zu werden.

Solchen aus meiner Sicht dem Gesamteindruck etwas abträglicheren Versen stehen Bilder gegenüber, welche ich persönlich aufs Äußerste gelungen finde. Beispielhaft dafür sind:

Ausgeschnitten bloß
Ein Bild in dem vielleicht der Atem
eines ganzen Lebens tost
und

festgemachte
Wanderer auf einer Stelle
Da kann ich nur applaudieren, klasse!

Es ist mir überdies aufgefallen, dass wahrscheinlich ganz bewusst Rilkes Panther gekonnt in den Text eingewoben wurde. Zum einen erinnert mich der Duktus deines Gedichtes z.T. an besagten Rilke-Text. Auffällig ist diesbezüglich vorallem, dass auch dein Text damit arbeitet, mit metrisch gut gesetzten Adjektiven das Versende herauszuzögern und davor noch einen Moment der Spannung zu erzeugen, welcher durch die Charakterisierungen der Bezugswörter entsteht. Z.B. schreibst du:

Zwei Groschen, sorgsam abgezählt
oder

Jeder Schrei in sich gebeugter Wille
Diese Adjektive, die sich eher am Zeilenende befinden, kenne ich vor allem von der Lyrik-Rilkes und gerade im Panther sind sie ein starkes stilistisches Mittel:

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Des Weiteren denke ich, Zitat-Fragmente zu erkennen. So ist im Panther, wie auch bei deinem Gedicht, in ähnlicher Art von Kreisen die Rede, aber vor allem auch von Blicken, welche jeweils die Tragik des damit ausgestatteten Subjektes ausdrücken:

Dionysos:

In der Luft da hängen Blicke, die keinem mehr gelten
Rilke:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Auch wenn dies vielleicht nur Zufall oder eine gewagte Interpretation meinerseits ist, ergibt sich für mich aus diesen Anspielungen der eigentliche Bedeutungsgehalt deines Gedichtes. Dem Leser eröffnet sich in einer Zeitlupenperspektive ein Bild auf den Alltag in einem kapitalistischen Umfeld. Diese Perspektive soll, so meine Deutung, dem Leser vor Augen führen, dass diese Form der Existenz an Trost- und Leblosigkeit mit der eines eingesperrten Raubtieres gleichzusetzen ist, welches um seine Lebendigkeit betrogen wurde. Ich finde, du hast dies im Gedicht sehr interessant umgesetzt.

Zuletzt noch ein paar Kleinigkeiten:

Bleibt im Moment verschollen
Ein Bild, in dem vielleicht der Atem
In der Luft, da hängen Blicke, die keinem mehr gelten
Ich habe mich, auch wenn meine Interpretation möglicherweise an deiner Intention vorbeizielte, gern mit deinem Werk beschäftigt!

Liebe Grüße
Frodomir
 

fee_reloaded

Mitglied
Bei diesem Gedicht musste ich aber sehr oft einen neuen Leseversuch starten, um mehr als nur einen Gesamteindruck des Textes zu bekommen. Denn nach dem ersten Lesen war ich derart von den Bildern übermannt, dass sich alle Verse wie in einem Rauschen verloren haben und ich gar kein Gefühl mehr für den Text hatte. Das hat mich dazu bewogen, das Gedicht erneut und erneut sehr langsam und aufmerksam zu lesen, um ihm besser auf die Spur zu kommen. Dabei hat sich das im Titel versprochene Zeitlupen-Gefühl eingestellt. Gleichsam musste ich aber bei manchen Metaphern schon sehr tief in der Fantasie-Trickkiste kramen, um darin noch ein in sich geschlossenes Bild zu erkennen.

So ergeht es mir auch beim Lesen deines Textes, lieber Dionysos.

Du weißt, ich mag deinen opulenten Stil und die Brüche, die du m.E. sehr gekonnt setzt. Ebenso die Anklänge an den sprachlichen Drive von HipHop oder Rap (so zumindest empfinde ich die Dynamik und Melodien vieler deiner Texte und mag das sehr).
Aber hier hat für mein Empfinden die Melodie etwas anderes gewollt als der Inhalt, den du damit transportieren möchtest. Ich weiß nicht, wie ich es genau erklären kann...manches scheint mir zu wenig strukturiert, zu ungeordnet und prasselt auf mich als Leserin ein, hat aber keine Zeit, nachzuwirken und sich voll zu erschließen und entfalten, weil man vom Drive deiner Sprache schon zum nächsten Bild gezerrt wird.

Beim Versuch dann in Zeitlupe zu lesen (was ein sehr bewusstes Wegdrängen des Sprachflusses benötigte, das mir nicht leicht fiel), haben sich manche Verse herausgelöst, die für mich in ihren Bildern kaum funktionierten, und andere, die ich - wie Frodomir auch - absolut genial fand. Das hat zu einem Durchstolpern in Zeitlupe geführt, aber auch so kein geschmeidiges Ganzes für mich ergeben. Ich vermute, der Wechsel von Versen, die eher auf das Assoziative abzielen, mit solchen, die tiefschürfendere Metaphern beinhalten, hat für mich verhindert, in deinen Text so hineinzufinden, dass ich ihn mir gut erschließen hätte können.

Auch mir fehlt offensichtlich etwas mehr Geschlossenheit, um den Text als Einheit erfassen zu können.

Auf jeden Fall aber - wie immer - bin ich angetan von dem, was du mit Sprache machst. Das ist schon immer eine Gratwanderung - und wenn sie gelingt, dann haust du einen echt um. Hier konnte ich dir diesmal nicht auf deine Ebene folgen. Aber ich freu mich schon auf deinen nächsten Text.

LG,
fee
 
Hi

vielen Dank für eure intensive Beschäftigung mit dem Text ! Es ist immer wieder ein großer Spaß und Genuss und eröffnet mir auch neue Perspektiven. Man ist ja sonst sehr in seiner eigenen "Schreibwerkstatt" unterwegs.

@Frodomir danke für die Herleitungen. Das hilft mir sehr zu verstehen, warum der Text nicht abliefert, wie er sollte. Mit Deinen Hinweisen glaube ich nun verstanden zu haben, dass ich hier zu viel wollte und es am Ende dann leider nicht mehr funktioniert hat.

Der Panther hat hier nicht bewußt Pate gestanden. Schön sind aber die Parallelen, die Du aufzeigst und die Wirkmechanismen. Da will ich nicht widersprechen. Die Interpretation, die DU dem Text gibst finde ich sehr gelungen.

@fee_reloaded ich denke nach merhmaligen Nachfolgen auf Deinen Kommentarspuren, dass Du wunderbar die Schwäche des Textes zusammengefasst hast. Besonders klar liegt mir vor Augen, dass der Wechsel von Metaphern und "Primärebenenbildern" nicht funtkioniert hat, wobei die Ursprungsidee keineswegs gewesen ist, deass der Text in Zeitlupe gelesen werden muss. Eher sollte damit eine Parallelilät der unnatürlichen Verlangsamung und Auseinandersetzung damit beinhaltet sind.

Ich denke jetzt im Nachhinein aufgrund eurer scharfsinnigen Kommentare - da wollte ich zuviel reinpacken

mes compliments

Dionysos
 



 
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