Zeitmaschine

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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Auf der anderen Straßenseite stehen und zusehen, wenn du mit deiner Freundin zur Bushaltestelle kommst. Du bemerkst den alten Mann gar nicht, der sich gerade eine Zigarette dreht.
Jahre später an deinem Haus vorbeifahren. Du bist mit den Kindern im Garten und dein glockenhelles Lachen dringt in das geöffnete Fenster des Autos. Mein neuer Wagen ist dir unbekannt.

Meinetwegen auch in der Nähe sein an diesem Tag im April, als du dich alleine auf den Weg machst. Vielleicht erhasche ich den letzten Blick.

Die alte Schreibfeder und das Fässchen Königsblau suchen im Schreibtisch, Wort für Wort bedächtig setzen.
Wieder schreiben, als wäre da noch alle Zeit der Welt.
 
Eigentlich, geschätzter Franke, wollte ich nur kurz reinlesen und evtl. später nach Überdenken auf den Text reagieren. Aber er ist so suggestiv konstruiert, dass mich jetzt die Frage festhält: Was kann denn da gewesen sein?

Vielleicht das: Es ist ein Drei-Generationen-Stoff. Der alte IE ist der Vater eines jüngeren Mannes (oder ein diesem sonst Nahestehender oder an ihm Interessierter), zwischen beiden besteht keine persönliche Verbindung mehr, scheint aber früher bestanden zu haben. Der jüngere Mann hat in Absatz 1 zuerst eine Freundin, dann eine Familie gegründet. Absatz 2 enthält eine Zäsur, die dem IE bekannt geworden ist, dem Leser jedoch im Kern verborgen bleibt. Es kann sich um eine Trennung des jungen Paares handeln oder die kleine Familie zieht weg. Absatz 3 ist dann klar: Rückzug und Beschränkung des IE aufs Schreiben.

Mal sehen, ob andere Leser noch andere denkbare Handlungsabläufe konstruieren können. Habe ich vielleicht einen versteckten Hinweis übersehen?

Nur eine Frage: Ist zwischen dem 2. und 3. Satz des Textes bewusst kein Absatz eingefügt? Immerhin könnten zwischen ihnen Jahre liegen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Franke,

interessanter Text. Ich interpretiere ihn so: Da ist ein Mann, der mit der Zeitmaschine reist (nicht in chronologischer Reihenfolge!), um eine Frau zu beobachten - die vielleicht seine große Liebe war, ohne davon zu wissen. Der alte Mann, der sich eine Zigarette dreht, im ersten Absatz, ist der Zeitreisende.

Nur den Schluss bekomme ich nicht ganz damit verknüpft...

LG SilberneDelfine
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

wieder ein sehr autobiografischer Text von mir.

Der Icherzähler reist durch die Zeit, wird aber selbst nicht jünger und beobachtet eine Person, die ihm sehr wichtig war und immer noch ist.
Die Zeitspanne beträgt 40 Jahre, also sind zwischen den einzelnen Sätzen immer etliche Jahre vergangen. Die Leerzeilen deuten Brüche an.
Was in dem beschriebenen April passiert ist, überlasse ich dem Leser. Aber es deutet einen Bruch an, der durch nichts mehr zu heilen ist.

Im letzten Absatz befindet sich der Icherzähler wieder in der Gegenwart und seine alte Schreibfeder ist das einzige, was ihm aus dieser Zeit geblieben ist.

Deine Interpretation könnte zutreffen, aber SilberneDelfine hat meine Intention bis auf eine Kleinigkeit getroffen.

Danke, liebe Grüße und einen guten Rutsch

Manfred
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SilberneDelfine,

du hast meine Intention sehr gut getroffen, aber das Mädchen wusste vom Icherzähler. Auch von seiner Liebe.

Im letzten Absatz befinde ich mich wieder in der Gegenwart (siehe Kommentar oben).

Danke, liebe Grüße und einen guten Rutsch
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Hallo Franke,

was mir an diesem Text so gut gefällt, das ist diese Offenheit für immer wieder neue Interpretationen. Beinahe jedesmal, wenn ich den Text lese, entdecke ich wieder etwas Neues, und ist es vielleicht auch nur eine Nuance, auf die ich vorher nicht geachtet oder der ich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Das ist bei einem solch kurzen Text nicht einfach, aber wichtig.
Vieles bleibt aber auch nach mehrmaligem Lesen noch rätselhaft, so wie etwas dieser Apriltag, den du selbst erwähnt hast.

Du deutest an, ohne zu viel zu verraten. Und der Leser macht sich seine eigene Geschichte daraus. Das ist die große Stärke dieses Textes.

LG und einen Guten Rutsch,
Cellist
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Cellist,

da ist mir der Text anscheinend gelungen.
Genau so rätselhaft wie er euch erscheint, ist mir selbst diese Zeit.

Danke und liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Manfred,
Was mir an diesem Text gefällt, ist die mitschwingende Melancholie. Ausserdem hast Du sieben Zeilen so raffiniert verknüpft, dass eine ganz Geschichte entsteht.
Ja, der Tag im April bleibt dein Geheimnis.;)
Lieben Gruss und Guten Rutsch!
Ji
 

York

Mitglied
Hallo Franke,
ich möchte mal versuchen, mich Deinem Text zu nähern, da ich ihn interessant finde.

Auf der anderen Straßenseite stehen und zusehen, wenn du mit deiner Freundin zur Bushaltestelle kommst. Du bemerkst den alten Mann gar nicht, der sich gerade eine Zigarette dreht.

An diesem Satz finde ich besonders gelungen, dass das „Du“ nicht geklärt ist, offen bleibt beim lesen. Ist es ein Mann, eine Frau, ein alter, ein junger Mensch.

Jahre später an deinem Haus vorbeifahren. Du bist mit den Kindern im Garten und dein glockenhelles Lachen dringt in das geöffnete Fenster des Autos. Mein neuer Wagen ist dir unbekannt.

Hier stört mich etwas das „glockenhelle Lachen“. Wenn ich versuche, es zu hören, ist es mir eher unangenehm: ein Lachen wie helle Glocken – metallisch, gleichförmig, schrill.
Dann finde ich den Satz „ Mein neuer Wagen ist dir unbekannt“ problematisch. Der Erzähler behauptet hier etwas zu wissen, was die andere Person wissen müsste. Ich fände hier eine Aussage besser wie: „Mein neuer Wagen wird dir unbekannt sein“.

Meinetwegen auch in der Nähe sein an diesem Tag im April, als du dich alleine auf den Weg machst. Vielleicht erhasche ich den letzten Blick.

Warum „Meinetwegen“ ? Es hat etwas davon: „ist mir doch egal“ oder „mir ist nichts anderes eingefallen. Also dieses „Meinetwegen“ finde ich schwach. Dann lieber eine Doppelung des „Vielleicht“, das schafft Rhythmus. Oder ein anderes Wort?

Die alte Schreibfeder und das Fässchen Königsblau suchen im Schreibtisch, Wort für Wort bedächtig setzen.
Wieder schreiben, als wäre da noch alle Zeit der Welt.


Und dieses Schreiben mit der Feder wird mir nicht erklärbar. Wann würde ich mit der Feder schreiben? Vielleicht dann, wenn ich Sätze, die die andere Person einst gesagt hat, in eine besondere Form bringen möchte. Aber hier wird suggeriert, als ob der Erzähler die Erinnerung der Zeitreise aufschreibt und da wird mir nicht deutlich, warum er dies besonders kalligrafisch setzen sollte.

Vielleicht ist der Text auch deshalb interessant, da er die Fragen aufwirft? Ich denke aber, das er vorzüglich startet und dann schwächer wird.

Grüße für ein schreibintensives neues Jahr -
York
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo York,

über deinen Kommentar habe ich mich besonders gefreut. Anscheinend haben wir endlich mal wieder einen neuen User, der Freud an Textarbeit hat.

Zu deinen Anmerkungen:

Wenn ich versuche, es zu hören, ist es mir eher unangenehm: ein Lachen wie helle Glocken – metallisch, gleichförmig, schrill.
Für mich ist das kein unangenehmes Lachen und glaube mir, es war wunderschön.

Dann finde ich den Satz „ Mein neuer Wagen ist dir unbekannt“ problematisch. Der Erzähler behauptet hier etwas zu wissen, was die andere Person wissen müsste. Ich fände hier eine Aussage besser wie: „Mein neuer Wagen wird dir unbekannt sein“.
Doch, der neue Wagen ist ihr unbekannt, denn sie haben sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.

Warum „Meinetwegen“ ? Es hat etwas davon: „ist mir doch egal“ oder „mir ist nichts anderes eingefallen. Also dieses „Meinetwegen“ finde ich schwach. Dann lieber eine Doppelung des „Vielleicht“, das schafft Rhythmus. Oder ein anderes Wort?
Der Erzähler hat auf seiner Zeitreise keine Wahl über die Berührungspunkte. Er möchte nicht in diesen April, aber wenn es denn sein muss, möchte er wenigstens den letzten Blick erhaschen. Dieses "Meinetwegen" ist diesem Fall der Ausdruck einer Trotzreaktion.

Und dieses Schreiben mit der Feder wird mir nicht erklärbar.
Ich schreibe fast nur mit Füller oder Feder, das verbindet mich mehr mit meinen Texten und Gedichten.

Wieder schreiben, als wäre da noch alle Zeit der Welt.
Dieser Satz erklärt es.

Danke und liebe Grüße
Manfred
 

York

Mitglied
Für mich ist das kein unangenehmes Lachen und glaube mir, es war wunderschön.
Das denke ich, dass es für Dich nicht unangenehm war und das es wunderschön war. Das wollte ich nicht infrage stellen und das Wort "glockenhell" wird sicher auch so gebraucht. Die Frage für mich ist, ob wir nicht solche Begriffe überdenken sollten um nicht auf ein Klischee zurück zu greifen. Es lassen sich wahrscheinlich bessere Adjektive für ein helles, wunderschönes Lachen finden, oder?

Doch, der neue Wagen ist ihr unbekannt, denn sie haben sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.
Ja, das habe ich verstanden. Aber weißt du - weiß der Erzähler - wirklich, dass sie das Auto nicht kennt? Vielleicht hat sie ihn irgendwo mal beobachtet, ohne dass er es weiß ? Es war mit hier einfach zu bestimmt und könnte in einer anderen Formulierung (s.o.) andere Nuancen lassen.

Das mit der Trotzredaktion "Meinetwegen" und das Scheiben mit der Feder habe ich jetzt verstanden. Danke!

Gruß - York
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo in die Runde!

über deinen Kommentar habe ich mich besonders gefreut. Anscheinend haben wir endlich mal wieder einen neuen User, der Freud an Textarbeit hat.
:)


An diesem Satz finde ich besonders gelungen, dass das „Du“ nicht geklärt ist, offen bleibt beim lesen. Ist es ein Mann, eine Frau, ein alter, ein junger Mensch.
Also ich hab den Text so gelesen, dass es für mich gleich klar war, es handelt sich um eine Frau, da sie mit einer "Freundin" geht und gleich in der übernächsten Zeile mit den Kindern im Garten steht und glockenhell lacht.

Hier stört mich etwas das „glockenhelle Lachen“. Wenn ich versuche, es zu hören, ist es mir eher unangenehm: ein Lachen wie helle Glocken – metallisch, gleichförmig, schrill.
hm...Für mich hört es sich eher wie ein Kichern an. Ein Kichern in der Ferne...


Die Frage für mich ist, ob wir nicht solche Begriffe überdenken sollten um nicht auf ein Klischee zurück zu greifen. Es lassen sich wahrscheinlich bessere Adjektive für ein helles, wunderschönes Lachen finden, oder?
Ich kann mich nicht erinnern diese Beschreibung vorher gelesen zu haben: “glockenhelles Lachen”. Eher Adjektive wie fröhlich, herzhaft, unbeschwert etc…. was man ja auch immer und immer wieder liest.

Ja, das habe ich verstanden. Aber weißt du - weiß der Erzähler - wirklich, dass sie das Auto nicht kennt? Vielleicht hat sie ihn irgendwo mal beobachtet, ohne dass er es weiß ? Es war mit hier einfach zu bestimmt und könnte in einer anderen Formulierung (s.o.) andere Nuancen lassen.
Hier denke ich mir, dass der Erzähler es einfach behauptet: Wahrscheinlich hat sie noch nie in die Richtung seines Wagens geschaut. Vielleicht ist er auch nur zweimal im Jahr mit dem Auto in ihre Nähe gekommen. Vielleicht irrt er sich auch und sie kennt seinen Wagen genau. Aber das “glaubt” er nicht. Der Erzähler kann uns ja durchaus etwas erzählen von dem er überzeugt ist, auch wenn es garnicht der Wahrheit entspricht.

Liebe Grüsse, Ji
 

York

Mitglied
Also ich hab den Text so gelesen, dass es für mich gleich klar war, es handelt sich um eine Frau, da sie mit einer "Freundin" geht und gleich in der übernächsten Zeile mit den Kindern im Garten steht und glockenhell lacht.
Das ist doch interessant, was unsere eigene Vorstellung mit uns macht. Versuche mal den Text zu lesen in der Vorstellung, es sei ein Mann. Auch ein Mann kann mit Kindern im Garten sein und auch ein Mann kann ein helles Lachen haben.

hm...Für mich hört es sich eher wie ein Kichern an. Ein Kichern in der Ferne...
Danke für den Link, auch wenn er mich nicht restlos überzeugt... Aber es ist auf jeden Fall nicht unangenehm.

Ich kann mich nicht erinnern diese Beschreibung vorher gelesen zu haben: “glockenhelles Lachen”. Eher Adjektive wie fröhlich, herzhaft, unbeschwert etc…. was man ja auch immer und immer wieder liest.
Wenn Du in einem Wörterbuch online nach "glockenhell" suchst, kommt immer das Beispiel: glockenhelles Lachen.

Hier denke ich mir, dass der Erzähler es einfach behauptet: Wahrscheinlich hat sie noch nie in die Richtung seines Wagens geschaut. Vielleicht ist er auch nur zweimal im Jahr mit dem Auto in ihre Nähe gekommen. Vielleicht irrt er sich auch und sie kennt seinen Wagen genau. Aber das “glaubt” er nicht. Der Erzähler kann uns ja durchaus etwas erzählen von dem er überzeugt ist, auch wenn es gar nicht der Wahrheit entspricht.
Ja, der Erzähler darf (fast alles...) - Ich hätte es anders geschrieben.

Gruß
York
 



 
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