Zeitsprünge

14. August 2001

18 Uhr

Schiffe. Schiffe sind meine Leidenschaft. Sie bewegen sich ganz selbstbewusst in ihrem Element. Wasser. Wegtauchen, sich treiben lassen. Ruhe.
Stille, in der Zeit verloren.

Der Tag ist so grau, dass der Wettergott selbst ihn beweint. In scharfen Böen schickt er sein bitteres Stoßgebet gen Rostock und ich stehe, unter einem riesigen Regenschirm der restlichen Welt abgewandt, am Kay des Stadthafens und sehe den heimkehrenden Schiffen zu.

Fregatten, Klipper und eine Brigg – ich unterscheide sie kaum, habe ich von der Seefahrt doch genau so wenig Ahnung, wie vom Kühe melken. Lediglich der Klang ihrer Bezeichnungen erweckt den Wunsch in mir, es möge eine Fregatte sein, eine Brigg oder gar eine Galeere. Nur kein Kahn, keine Barke und erst recht kein Nachen. Der wäre doch recht gewöhnlich und kaum des Ansehens, geschweige denn der Rede wert.

Die Schiffe gleiten an mir vorüber, gleichmütig, herablassend, stolz, mit gerefften Segeln, und schenken mir keinen Blick. Sie suchen den Hafen, eine Stelle zum Festmachen, keinen Applaus. Auf ihren graugescheuerten Decks liegen die Männer. Trotz feinem Niesel, die meisten in Shorts und ohne Hemd. Ihre Hände halten Kaffeetöpfe, vielleicht mit Tee darin und Rum oder irgend etwas, das tüchtig wärmt. Die Männer schauen zum Ufer, schweigend, vielleicht auf mich, vielleicht auf das laute Treiben hinter mir, auf Büdchen mit Würsten und Töpferware und handgefertigtem Schmuck. Schätzen sie die Höhe des Riesenrades? Lauschen sie der tobenden Musik vor der Hafentribüne? Wünschen sie sich in den wiegenden Rhythmus der drängenden Menschenmenge?

Ein Kind heult neben mir. Es will keinen Wimpel, es schreit nach einem Eis. Der Wimpel sei hässlich, versucht es einer jungen Frau seinen Unwillen beizubringen. Die Mutter, ich nehm’s an, besieht sich den Wimpel und stopft ihn in einen Papierkorb. Der Mann mit den Fähnchen zieht fröhlich weiter.

Ich sehe wieder zu den Booten hin.

Wie ihre Masten gebieterisch beben. Wie sich Trosse um Trosse kreuzen und lebendige Gebilde vor dem trüben Himmel weben, geschickt und mühelos immerfort neue Formen ersinnend. Ein Kaleidoskop aus schwarzen Strichen, das sich sanft sammelt, sich entfaltet, vereinigt, verengt, auseinander läuft. Ein Grafiker hätte seine Freude daran! Ich sehe die prallen Bälle an der Reling baumeln. In blau und rot, in Plastik auf poliertem Holz. Wie kranke Beulen. Zum Schutz vor dem scharfkantigem Festland, vor seinen Mauern und verrosteten Widerhaken. Sie bewegen sich kaum, erwarten gefasst das Unvermeidliche. Ihr Anblick stört.

Die Schiffe fahren einen weiten Bogen, kreisen, umfahren sich geschickt, als flanieren sie auf einem Laufsteg, drehen unvermittelt bei und schieben sich längsseits, würdig rauschend, in ihren Liegeplatz. Am Ufer warten kräftige Hände. Die ziehen und zurren, was das Zeug hält, um der Schönen und Stolzen Herr zu werden. Die Männer auf den Booten schauen mit gerunzelten Stirnen nach den Bällen. Jedermann schweigt.

Hinter mir kreischt die Menge vor der Showbühne. Der Regen trommelt auf Glatzen und Budendächer, wirft sich in Blasen über gesammelte Pfützen, fällt in offene Münder und verzischt im Bratwurstgrill - der Tag will nun enden, wie er begonnen hat: verstimmt.





Rückblende, 7.30 Uhr

Es fing gleich damit an, dass wir das Klingeln des Weckers ignorierten. Draußen rauschte es vom Himmel und wir kuschelten uns aneinander, jeder in der Hoffnung, der andere würde schon auf die Zeit achten. So schlummerten wir unsere Träume aus. Als wir aufschreckten, war an Frühstück nicht zu denken. Wir mummelten uns ein, ergriffen irgendwas, Hauptsache warm und regensicher, und sprangen ins Auto. Während der Fahrt nach Rostock sah ich zum Fenster hinaus. Ein grauer Schleier wallte über sattgrünen Wiesen, Dächer glänzten feucht, der Himmel, fahl und blind und gepfropft, lag massig auf allem und atmete schwer. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. In den Süden, in den Süden ...

In Rostock angekommen – auch nicht besser. Wir sprangen über Pfützen und Rinnsale hinweg, stemmten unsere Schirme gegen den Wind. Unsere verstürmten Wege trennten sich kusslos. Jeder war schon in seinem öffentlichen Ich. Am Abend sollten wir uns wieder sehen, wenn die Hanse Sail vorüber und ein jeder seinen Verpflichtungen nachgekommen war.

Ich tat etwas, was ich lange nicht getan, auch nicht vermisst hatte, aber mit einem süßen Schauer wiedererkannte: am frühen Morgen, die Uhr war noch nicht zehn, saß ich in einer Kneipe und bestellte mir einen Milchkaffee.

Morgens, noch nicht zehn Uhr durch, ist jede Kneipe menschenleer. Jedenfalls in Mecklenburg. Ich kann noch so ehrbare Gelüste haben, nirgendwo finde ich in ganz Mecklenburg eine Kneipe, in der es sich lohnen würde, vor zehn Uhr nach Stimmen und Stimmungen zu suchen. Immer voraus gesetzt natürlich, sie hat überhaupt schon geöffnet. Eher trüben sich die Nordlichter ein, als dass in Mecklenburg eine Kneipe vor zehn Uhr aufmacht.

Aber an diesem Morgen war alles anders. Sogar der Wirt. Er war redselig, wie man so schön sagt. Auf einen Mecklenburger Wirt gemünzt, bedeutet das: er sprach ungefähr fünf zusammenhängende Sätze. Nämlich, dass dies volle Lokal ihn an alte Zeiten erinnerte. (Und weil er es erwähnte, weil er es überhaupt einer Erwähnung wert befand, wollte das viel heißen!). Dann sagte er noch: „Die Toiletten sind da hinten. Der Frühstücksraum ist nur für Quartiergäste. Darf’s noch n’Köbn sein? Bei dem Sauwetter!“

Ich nahm dankend an. Und ich sah. Die Menschen, die sich, ihren Vorstellungen entsprechend, maritim gekleidet hatten: Wetterjacke, Knöchelschuhe, möglichst einen Rollkragen unterm Kinn - so hatten sie es den furchtlosen Skippern der Abendserien abgeguckt. Ein verwegenes Tuch um den Hals deutet auf das zu erwartendende Abenteuer. Natürlich würde es ein Ereignis werden. Sie, die sie nach festem Boden unter ihren Füßen suchten, begaben sich auf schaukelnde Planken! Eine völlig neue Erfahrung! Die Wangen glühten, fiebernd, wie vor einem Seitensprung.

Eine Frau trat zu mir und erkundigte sich nach den freien Plätzen an meinem Tisch. Ich sagt ihr, dass es keine gäbe. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und ließ sich zwei Tische entfernt in einer Nische nieder. Ihr Rücken war rund, der Nacken schneeweiß mit einer dunklen Mulde zwischen zwei strammen Sehnen. Die ihr gegenüberliegende Wand trug gelbes Netzzeug, Plastikfische und einen verstaubten Seestern, dem ein Zacken fehlte. So musste sie nicht die Wand anstarren. Sie starrte auf einen Seestern, gefangen und amputiert.

Zwei Männer saßen am Tresen, nahe meinem Tisch. Ihre Sprache war mir fremd. Sie unterhielten sich ruhig, beinahe ohne Lippenbewegungen. Sie saßen geduckt, mit breit ausgelegten Ellenbogen, die hohen Wangenknochen leuchteten rot. Der eine lehnte sich über das Thekenholz und fragte in einem sehr unbeholfenen Englisch nach einer Zigarre. Der Wirt schmatzte mit den Lippen, kratzte sich hinterm Ohr und brummte eine junge Kellnerin herbei. Während sie das Kauderwelsch zu entschlüsseln versuchte, stand der Wirt, auf seine rissigen Fäuste gestemmt, hinter dem Tresen und beobachtete. Er atmete schwer, als hätte er einen anstrengenden Lauf hinter sich, schob die Unterlippe vor und zurück und sah von einem zum anderen. Die Kellnerin reichte zwei Zigarren. Der Mann mit den roten Wangenknochen, die nun purpurn brannten, fragte nach dem Preis.
Das verstand der Wirt. Er haute mit der flachen Hand auf den Tresen und donnerte: „Geschenkt, junger Freund, geschenkt.“ Und weil er dabei keine Miene verzog, sah ich die beiden Männer sich noch tiefer ducken. Sprungbereit. Ihre Augen waren hellwach. Kristallklares Wasser und tief.
Ich mischte mich ein, sagte „Gift“ – das englische Wort für Geschenk -, worauf mich der Wirt aus seiner Kneipe haben wollte.

Es war so gegen 11 Uhr, als ich mich ins nahegelegene Verlagshaus begab. Es goss wie aus Eimern, Blitze beleuchteten meinen Weg und über den Warnowwellen grummelten Wolkenberge. Trübsinnig schlug graues Segeltuch im Wind. Menschen in Regenkutten und Stiefeln standen am Kay entlang und gafften. Mütter diskutierten ihre Kinder an Pfützen vorbei und am „Fass“ wurde schon kräftig ausgeschenkt. Es gab Glühwein und Grog.

Die Arbeitsbesprechung mit meinem Verleger verlief zügig und ohne besondere Vorkommnisse. Man hatte mich erwartet, mir Stuhl und Kaffee angeboten und mich über die Einzelheiten unterrichtet. Es galt, die Stationen einer bevorstehenden Buchpräsentation festzulegen. Ich musste nur nicken und lächeln und meine Einwände für mich behalten. Schon waren wir uns einig. In Gedanken sortierte ich meinen Terminkalender neu.

Im Flur des Verlagshauses traf ich auf Georg. Ich wollte gerade zur Tür hinaus, als ich mit ihm zusammen stieß. Unser Wiedersehen freute uns beide und nach einem flachen „Wie geht’s? – Wie steht’s?“ und dem üblichen „Gestern ging’s noch!“ verabredeten wir uns zum Nachmittagstee im nahen Hotel.

Der Tag nahm seinen Lauf.

Ich hatte ein paar Erledigungen zu machen. In der Stadt suchte ich nach einem Geburtstagsgeschenk für meine Mutter. Sie verehrte Goethe. Also sah ich mir einige in Leder gebundene Ausgaben seiner Schriften an und entschied mich für die Briefsammlung. Sie enthielt mehrere Kopien. Briefe an Schiller und Charlotte von Stein waren darunter, an Christiane Vulpius, auch an Karl Friedrich Zelter: „Ich dachte, mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins.“ Schiller war ihm am 9. Mai 1805 einfach weggestorben.

In einem Süßwarenladen fragte ich nach Hallorenkugeln. Man hatte welche, ich kaufte sie. Ich sah den Boulevard hinunter und aß die Packung leer. Es regnete. Vom Kirchturm schlug es drei Mal. Ich war nicht guter Stimmung.

Dabei liebte ich diese Stadt. Hier hatte ich einen wichtigen Teil meines Lebens verbracht. Siebzehn Jahre jung, fremd, an einem betörenden Ort, fern jeder häuslichen Nichtliebe und -- entzwei der Cocon, nur noch Schmetterling! In einem Internat haben wir gewohnt, meine Freundin und ich, zusammen mit vielen anderen. Abends gingen die Nachtwachen herum und scheuchten uns von den Fluren. Unter den Bettdecken gluckste das Lachen. Erster Kuss, erste Liebe, Sehnsucht, Spiel und Leidenschaft. Plötzlich vermisste ich diese Tage, so sehr!

Wenn du einen Wunsch frei hättest ...

Oder vermisste ich die Leute dieser Tage? Vermisste ich das Gefühl dieser Tage? Beweinte ich eine verlorene Zeit?

Ich sah die grauen Fassaden hinauf. Zwanzig Jahre. Alles war wie damals, sah aus wie damals, schmeckte auch so. Die letzte Schokoladenkugel schmolz in meinem Mund. Ein Mann mit Hut schlurfte an mir vorbei. Er führte seinen Hund an der Leine und ich dachte an Abà. Der schwarzhäutige Student hatte nicht glauben wollen, dass wir Deutschen unsere Tiere an Leinen herum spazieren. Was tat er heute wohl? War er Chirurg geworden? In Afrika, Asien, Amerika? War er in Deutschland geblieben? Führte auch er seinen Hund an der Leine?

Ich warf die leere Packung in den Papierkorb. Unter einer Markise spielte jemand Trompete. Die Leute eilten mit langen Schritten vorüber und achteten nicht auf den Mann. Eine Mutter zerrte ihr Kind hinter sich her. Sie sprach aufgeregt mit der Frau neben sich. Die erwiderte etwas. Abrupt blieben beide stehen. Im Regen. Das Kind stolperte und verdrehte sich im Schraubstockgriff der Mutter den Arm. Die Knie bekamen etwas ab. Die Mutter stellte das Kind auf die Beine und schüttelte es. Das Kind heulte. Die andere Frau senkte den Kopf. Ein Tross junger Leute zog heran. Sie trugen Basecaps und wattierte Jacken. Sie gingen in breiter Linie, als machten sie Front gegen etwas. Die Jungs hatten ihre Hände in den Hosentaschen vergraben und sprachen laut, aber freundlich. Die Mädchen kicherten. Die beiden Frauen gingen ein paar Schritte zur Seite. Das Kind drückte sich an seine Mutter.

Ich folgte der unbekümmert lärmenden Jugend.


15.45 Uhr

Das Hotel hatte seine besten Jahre hinter sich; im Winter sollte es abgerissen werden. Ich ging durch die Halle und erkannte alles wieder: den zerschrammten Marmorboden, den Klotz von Tresen, die in die Wände eingelassen Schaukästen mit Schmuckauslagen und Büchern darin. Selbst das Blumenarrangement kam mir vertraut vor. Hier, in dieser schäbigen Halle, hatte ich mein erstes Rendevouz. 1984. Mit einem Bäckerlehrling. Und dann noch eins, und mehr. Zwei Jahre lang.
Etwas holperte in meinem Kopf.

Georg wartete im tiefen Ledersessel. Als er mich sah, streckte er mir die Hände entgegen und zog mich an sich.
„Meine Perle!“
Ich lauschte in den Raum hinein. Vor den hohen Fenstern lag der Parkplatz. Ein Trabant mühte sich soeben, eine Lücke zu erwischen. Er zog bedächtig seine Kreise und blieb plötzlich stehen. Der Fuchsschwanz hing tropfnass an der Antenne. Jemand wischte von innen die Scheiben frei. In der Lobby roch es nach Zigarre und Essen. Leise Musik. Die Zeit war stehen geblieben.

„Meine Gute“, sagte Georg und ich wusste, er wiederholte sich.

Es wurde ein bewegtes Gespräch. Georg erzählte von seinem neuesten Projekt. Er war dabei, ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte aufzuarbeiten. Dabei ging es ihm um einen Freund, der als Grenzer ums Leben gekommen und dessen Schicksal von der ostdeutschen Regierung als feiger Anschlag des Westens propagiert worden war. Nun wollte er ein Buch darüber schreiben. Er redete sich richtig in Rage. Das Blut stieg ihm in die Wangen und er fuhr sich unentwegt durchs Haar. Erst jetzt, beinahe elf Jahre nach dem Mauerfall, war ihm Einsicht in die entsprechenden Unterlagen gewährt worden. Fünfunddreißig Jahre später hatte er nun die Wahrheit erfahren. Dass sein Hass gegen einen Unschuldigen geschürt worden war, dass es überhaupt gelang, Hass in ihm zu legen, der sich übertrug auf ein ganzes Volk - ein deutsches Volk hasste das andere - dass er vor Trauer nicht selbst hatte denken können, nur froh darüber war, jemanden dafür hassen zu können, dass sein Freund so jung, so schrecklich gestorben war.

All die Jahre, all die verkorksten, verlogenen Jahre!

Ich war nicht ganz bei der Sache. Immer wieder sah ich zum Fenster hinaus. Die alte Parteischule stand noch da. Hammer und Zirkel im Ährenkranz waren vor Jahren mit brauner Farbe übermalt worden. Nun wusch sich das Zeugnis eines Irrglaubens Stück für Stück frei. Die Deckung wurde licht.

„Verstehst du“, sagte Georg gerade. „Diese Lüge bestimmte mein ganzes Leben!“
Ich verstand. Ich legte meine Hand auf seine. Sie zitterte.

Wir sprachen von alten Zeiten. Ich versuchte, unsere Erinnerungen in ruhigere Bahnen zu lenken. Von der Schule erzählte ich, auch von meinen Lehrjahren in Rostock.
„Ich wusste immer, dass mit siebzehn Jahren mein wirkliches Leben beginnen würde.“
Georg lachte, zerstreut.
„Wer hat dir denn das eingeblasen?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht hat es mir jemand erzählt, vielleicht habe ich es irgendwo gelesen . – Gab es da nicht mal so einen Schlager?“
Georg summte eine Melodie. Er sagte: „Kann sein.“
Ich erzählte von Sven, dem Matrosen, der mich vergötterte und mir Erdbeeren schenkte. Im Winter. In der DDR!
Georg zog mit.
„Als meine erste Frau ihr erstes Kind bekam ---„
„IHR erstes Kind?“
„Na, unseres“, er schmunzelte. „Jedenfalls kann ich mich noch gut daran erinnern. Sie bekam unser erstes Kind und verlangte doch tatsächlich von mir, ich solle einen Kinderwagen mit Seitenscheiben auftreiben!“
Ich lachte.
„Du schummelst! Kinderwagen gab es doch mehr als genug!“
„Und ob! Das war ja das Problem. Ich konnte mich gar nicht entscheiden.“ Er nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Also zog ich los, um zu sehen, was denn gerade in Mode sei.“
Ich wusste schon, was kommen würde. Und ich lag richtig.
Georg war geradewegs zum Kaufhaus gestiefelt. Dort standen sie, in Reih und Glied. Eine kleine Armee von Nachwuchs, einfach vor dem Konsumtempel abgestellt.
„Ich war so schlau, wie eben zuvor! Zwanzig Kinderwagen fand ich dort –mindestens - in pink, in blau, berüscht, bestickt, mit Seitenscheiben und ohne, mit Körben voller Abendessen, Windeln, Cremes und Bücher. Und in jedem lag ein Baby und schlummerte oder schrie oder machte sich gerade in die Hosen.“
Ich lachte wieder.
„Woher willst du das wissen?“
„Es roch so.“
„Hast du in jeden Wagen hineingeschaut?“
„Natürlich, da ist doch nichts dabei!“
„Wer heute in einen fremden Kinderwagen schaut, macht sich verdächtig.“
Wir schwiegen.
Die Kellnerin brachte Salzgebäck.
Ich rauchte eine Zigarette.

„Was wäre wenn?“ fragte Georg beim Abschied, und küsste meine Hand. Ich sah ihm gerade in die Augen.
„Wenn alles anders gekommen wäre?“
Ich streichelte seine Wange.
„Dann wären wir heute genau so alt, erzählten nur andere Geschichten.“
Ich winkte einem Taxi.
Als ich mich ihm wieder zuwandte, sah ich ihn stehen, Georg, unter einem schwarzen Regenschirm mit dem roten Schriftzug einer Sparkasse. Er blickte vor sich hin, als bewegte ihn nichts mehr. Man hatte ihm nicht nur den Freund genommen. Er hatte umsonst gehasst, geglaubt, gekämpft. Sein Leben schien ihm umsonst gelebt.
Ich nahm ihn in die Arme.


18.00 Uhr

Jäh sehe ich den Himmel über dem jenseitigen Ufer aufleuchten. Ein verheißungsvolles Flackern liegt auf der Fassade des majestätischen Wolkenschlosses. Zu seinen Füßen steht glänzend der Wasserturm des fernen Heizwerkes. Sein grauer Beton ist unnatürlich weiß, als sei ein einzelnes Flutlicht nur auf seine Herrlichkeit ausgerichtet worden. Ich suche die Sonne. Gott weiß, wo sie sich versteckt hält. Sie hat nur kurz durch den schweren Vorhang gelinst. Es ist ihr verboten, sich an Tagen wie diesem zu zeigen.

Der Wasserturm. Dieser Koloss aus Beton. Wie oft hatte ich an seinem Becken gestanden, in dem sich das Kühlwasser sammelte. Forellen waren darin ausgesetzt worden. Sie starben. Mit Karpfen hatte man es dann versucht. Sie überlebten und wurden geschlachtet.
Einmal wollten wir in ihm baden, meine Freundin und ich. Es galt als Mutprobe, mit all den Todgeweihten zu schwimmen, und es war Nacht. Der Schichtleiter ertappte uns, noch bevor wir uns die Unterwäsche auszogen. Wahrscheinlich hatte er so lange im Dunkeln gewartet und sich dann noch nicht getraut.

Ich sehe die Schiffe heimkehren. Ich höre das Tosen um mich herum. Ich stehe am Kay und denke an damals. An meine Jugend, an die Leichtigkeit der Tage, an die Besorgnis der Anderen. Und ich denke an Georg, an seine verlorenen Träume, an seinen Freund, an die Lügen der Anderen. Ich kann nicht Partei ergreifen, ich kann mich nicht einordnen. Alles war doch so beschützt, so behütet, so aufnehmend, präpariert, unverdorben, eingelegt. Reingelegt.

Was soll ich denken?

Fünfunddreißig Jahre danach. So alt bin ich gerade!

Ein Schiff fährt vorbei. Ein ganz kleines. Vielleicht ist es ein Nachen.

Und plötzlich ist alles laut und klar und verständlich um mich herum. Die Leute eilen an mir vorbei. Am Verkaufsstand neben mir wird um den Preis gefeilscht. Ein Mann lacht volltönend über das Angebot von Matrosenhemden zwischen all den Tonkrügen und Wasserpfeifen und Duftstäbchen. Hinter mir kreischt die Menge vor der Showbühne. Der Regen trommelt auf Glatzen und Budendächer, wirft sich in Blasen über gesammelte Pfützen. Er fällt in offene Münder und verzischt im Bratwurstgrill.

Am Heck des Nachen gaukelt faul ein Fähnchen. Rot, schwarz, gelb. Ohne Zeichnung. Die Zeit läuft. Jetzt.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Katrin,

auch wenn Du einen Kühlturm mit einem Wasserturm verwechselst, auch wenn Du von Seefahrt soviel verstehst, wie eine Kuh vom melken (und trotzdem die Windjammer wunderbar beschreibst) - für mich war dieser Text ein Stückchen "Extraklasse".

Gruß Ralph
 
`tschuldigung!

Da hast du natürlich Recht: es heißt Kühlturm. Aber wie gesagt, meine Lehrjahre als Heizer sind beinahe 20 Jahre her. Vielen Dank für dein dickes Lob. Frage noch: WElche Stimmung erfaßt dich beim Lesen? (ich teste!)

Tschüssi
 
Hallo Katrin,
ich habe von der Seefahrt auch nicht mehr Ahnung wie die berühmte Kuh vom Sonntag, doch Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sie hat mich für eine kurze Zeit ein Stück weit in mein eigenes Leben zurück geführt. Schön!
Gruß Walter
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Stimmungen?
Tja Katrin. Du fragst mich nach Stimmungen beim Lesen deiner Geschichte. Und ich meine, sie zu beschreiben, ist wohl mit das Schwierigste beim Kommentieren eines Textes.
Was habe ich empfunden? Nun - zunächst war es reines Interesse. Schließlich ging es am Anfang um eine Windjammer-Parade, und ich bin selbst mal 6 Wochen auf einem kleinen, aber sehr schmucken Segelschiff (damals hieß die Schonerbrigg noch "W.Pieck") gefahren.
Und dann konnte man sich einfach mit dir durch die Stadt, die Kneipen und Hotels treiben lassen, die Leute beobachten und über viele deiner Beobachtungen schmunzeln.
Nostalgie? Ja - auch die flackerte hin und wieder auf. Gepaart mit einem Schuß Melancholie? Ich weiß nicht. Auch das kann sein.
Und dann war noch die erfreuliche Gewißheit, daß Du keine Schwarz-Weiß-Malerin bist, sondern eine, die zumindest hier auch Anstöße zum Nachdenken gibt.
Ich vermag nicht zu sagen, ob ich mich jetzt richtig ausdrücke, wenn ich behaupte: Dein Text strahlt wohltuende Wärme aus.
Verstehst Du, was ich meine?

Gruß Ralph
 



 
Oben Unten