Zeitungsnotiz

Freeda

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Zeitungsnotiz



Kind ertrunken
Nach Hinweisen aus der Bevölkerung wurde am Dienstagnachmittag die Leiche von Samuel P. aus dem See am Moor geborgen, nachdem er am Montag Abend als vermisst gemeldet wurde. Die Obduktion ergab, dass er schon am Vortag ertrunken sein muss; ein am Ufer zurückgelassenes Badehandtuch deutet darauf hin, dass Samuel P. schwimmen gehen wollte. Die Eltern können sich nicht erklären, wieso ihr Sohn, der ihres Wissens ein guter Schwimmer war, ertrank; man kann nur Vermutungen anstellen.





Ich weiß, dass ich mich nicht rechtfertigen sollte, aber ich will es dennoch tun. Nach so vielen Jahren ist es mir ein Bedürfnis, und da ich weiß, dass ich sterben werde, will ich erzählen, denn ich habe die Schuld lange genug mit mir herumgetragen wie eine schwere Last auf meinen Schultern.
Mein Weg führte mich zurück an den Ort, wo es damals geschah. So viele Jahre sind seitdem vergangen, die Zeit raste vorüber, leer, und leider ohne Dich. All die Jahre habe ich Dich schrecklich vermisst. Samuel.
Der See liegt genauso still da wie vor 25 Jahren, als diese schreckliche Sache passierte. Es hat sich nicht viel verändert, nur die Bäume sind dem Himmel entgegengewachsen, aus dem kleinen Birkenhain ist ein Wald geworden, kahl jetzt. Die letzten Blätter sind schon vor einiger Zeit davongetragen worden, nach und nach, so wie das Leben aus meinem Körper gewichen ist.
Dennoch ist es schön hier; wenn man dem Pfad folgt, der um den See herumführt, verliert man das Wasser immer wieder aus den Augen, um plötzlich, überraschend, ganz dicht am Ufer entlanggeführt zu werden, von wo aus man einen Blick über leise bewegte Wellen
und weiter über die Hügel hat, bis man bei klarem Wetter meint, weit hinten Berge erkennen zu können.
Stellenweise hat jetzt eine dünne Eisschicht das Wasser überzogen, und ich werfe in plötzlicher Erinnerung einen Stein, der auf dem Eis einen merkwürdigen Ton erzeugt. Als Kind habe ich dieses Spiel geliebt, wir warfen die Steine und beobachteten, welcher weiter schlitterte, jeder mit eigenem Klang.
Aber damals, als Samuel starb, war es Sommer, ein so schöner Tag, dass kein Mensch mit einem Unglück gerechnet hatte. Von solchen Sommertagen erwartet man nichts Schlechtes, und wenn dann doch etwas passiert, ist man umso erschrockener.

Samuel und ich waren Freunde, von der ersten Schulklasse an, wo wir nebeneinander saßen. Wir waren uns sehr ähnlich, und manchmal kam es vor, dass man uns für Geschwister hielt. Nachmittags trafen wir uns fast täglich und verbrachten viel Zeit damit, ein Baumhaus zu bauen, heimlich. Wir hatten eine geeignete Stelle gefunden, im Wald, nah beim See, aber doch vom Pfad aus nicht zu sehen; und hierher kamen wir sooft es ging, während die anderen Jungen sich mit ihrer Modelleisenbahn vergnügten oder Fußball spielten oder im günstigsten Fall über ihren Hausaufgaben saßen. Selten nahmen wir andere Kinder mit zu unserem Versteck, und wenn, dann nur die Vertrauenswürdigsten.
Unsere Eltern waren froh, uns nachmittags nicht beschäftigen zu müssen. Samuels Eltern bekamen fast jedes Jahr ein Kind, und bald war er der Älteste von sechs Geschwistern. Sie fanden es in Ordnung, wenn er nach der Schule nicht zum Mittagessen erschien, sondern mit zu mir kam, einem Jungen aus gutem Hause. Ich war Einzelkind und hatte genug von allem, wir lebten in einem geräumigen Haus, ich hatte mein eigenes Zimmer und durfte in der Küche jederzeit an den Kühlschrank gehen. Mein Vater allerdings war beruflich oft lange unterwegs, und meine Mutter widmete sich hemmungslos der Malerei, sie hatte ein kleines Atelier unterm Dach.
Von Zeit zu Zeit bekam meine Mutter allerdings Schübe, wie sie es nannte, die sie mit Tabletten zu bekämpfen versuchte; das hatte zur Folge, dass sie manchmal tagelang auf dem Sofa lag und den Fernseher anstarrte, in dem sinnlos irgendwelche Sendungen liefen, die sie nicht interessierten - wenn sie nicht gerade schlief. Ich störte dann besser nicht, und für einen stets gefüllten Kühlschrank sorgte unsere Haushälterin. Allerdings sorgte sich die Haushälterin weniger um mich.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir jemals ein Buch vorgelesen wurde. War meine Mutter frei von Schüben, saß sie wie besessen vor ihrer Staffelei und malte, Menschen, Blumen und Dinge, von denen ich nichts verstand.
Samuel war meine Rettung. Er war es gewohnt, sich zu kümmern, er half seiner Mutter im Haushalt, sofern er zuhause war, und zwar recht fachmännisch. Er wusste, wie man Pfannkuchen bäckt, Betten bezieht und Babys beruhigt. In gewisser Weise kümmerte er sich auch um mich; in seiner Gegenwart fühlte ich mich geborgen.
Samuel konnte Geschichten erfinden, die er mir erzählte, während ich Bilder in ein kleines Heftchen malte; das Talent hatte ich von meiner Mutter geerbt.
Später habe ich ihm dieses Heftchen geschenkt, und Samuel hat sich sehr darüber gefreut.
Manchmal holten wir uns Kartoffeln und Wurst aus dem Keller, packten alles in einen Rucksack und radelten zu unserem Baumhaus, das im Laufe von Monaten zu einer fast perfekten, kleinen Hütte geworden war.
Dann saßen wir auf dem Boden unter unserem Häuschen, machten ein Feuer, rösteten die Kartoffeln und die Wurst und fühlten uns wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Hier rauchten wir unsere erste Zigarette und teilten uns unsere Sorgen, als wir so alt waren, dass man heimliches Interesse für das andere Geschlecht entwickelte.
Samuel war vierzehn, und hatte sich schrecklich verguckt in ein Mädchen namens Malena, die in der gleichen Strasse wohnte. Sie hatte rotes, krauses Haar, dass sie sich zu einem Zopf band, was ihr gut stand. Ihre Nase war mit Sommersprossen übersät, und wenn man es sich recht überlegte, war sie nicht wirklich hübsch. Aber Samuel himmelte sie an, wann immer er ihr begegnete.
In dieser Zeit regte sich in mir ein Gefühl, das mir neu war, deswegen war ich auch ein bisschen durcheinander. Samuel hatte neben mir plötzlich einen Menschen, dem er Interesse entgegenbrachte, und manchmal kam es vor, dass er keine Zeit hatte, zu unserem Versteck zu kommen. Dann wollte er auf Malena warten, um ihr vielleicht ein Eis zu spendieren.
Ich war eifersüchtig. Meine kleine Welt geriet durcheinander, und ich konnte Niemanden um Rat fragen.
Was mir aber mehr Sorgen bereitete, als das fremde Gefühl der Eifersucht, war, dass ich Samuel nicht verstehen konnte. Bisher hatte ich angenommen, wir würden für immer Freunde bleiben, und nichts könnte uns auseinanderbringen.
Ich verabscheute es, wenn er von Malena schwärmte, statt mir Geschichten zu erzählen; manchmal war er mit seinen Gedanken woanders, und wenn ich fragte, was er hätte, dann lächelte er und meinte verschwörerisch, ich werde schon sehen, auch mir ginge es bestimmt noch so, dass ich nur noch an ein Mädchen denken könne, das ich gern habe.
Ich hatte Mädchen bislang nicht besonders aufregend gefunden und konnte Samuels Schwärmerei nicht mehr hören.
Wir stritten uns das erste Mal, als ich zu unserem Baumhaus kam und dort Samuel fand, der hingebungsvoll seine Malena küsste. Ich war überrascht, weil er mich nicht eingeweiht und sein Mädchen ohne mein Wissen in unser geheimes Versteck geholt hatte (wo Mädchen doch dafür bekannt sind, dass sie Geheimnisse nicht für sich behalten können). Wahrscheinlich machte ich ein ziemlich dummes Gesicht; jedenfalls lachte Samuel, und es klang, als lachte er mich aus. Es war, als hätte er unsere Freundschaft verraten, und als ich ihm das vorwarf, regte er sich schrecklich auf, ich wäre verklemmt, warum ich mir kein Mädchen suchte, dann wüsste ich, was für eine nette Sache das sei, und sicher würde ich sie dann auch mit zum Baumhaus nehmen, weil man sonst ja nirgends ungestört knutschen könnte.
Ich radelte voller Zorn davon, warum tat er mir das an, ich war sein Freund, und ich merkte, dass meine Gefühle für ihn tiefer gingen, als dies bei einer normalen Freundschaft der Fall gewesen wäre.
Damals war mir das nicht klar, aber heute weiß ich, dass ich mir wünschte, ich wäre derjenige, der in Samuels Arm dicht an ihn gedrängt liegen würde. Nicht dieses Mädchen in unserer Hütte störte mich, sondern dass er sie küsste – denn ich wünschte mir, er küsste mich.
Damals konnte ich meine Gefühle nicht in Worte kleiden, aber ich war auch stur und versuchte es gar nicht erst. Samuel ging mir inzwischen an manchen Tagen aus dem Weg, und ich lauerte ihm auf, um ihn zur Rede zu stellen. Wir fanden nicht mehr wirklich zueinander, und ich fiel in eine Phase der Depression. Samuel war mein einziger Freund, mein Halt, meine Familie. Und er ließ mich schmählich im Stich, so jedenfalls empfand ich es. Samuel dagegen wird sich ähnlich gefühlt haben und von mir völlig unverstanden. Über meine wahren Empfindungen konnte ich mit ihm nie sprechen, ich wusste ja selbst nicht genau, was mit mir los war.
Ich wusste nur, dass ich Samuel nicht verlieren wollte. Er sollte mir gehören, ich sollte derjenige sein, um den er sich kümmert, nicht dieses Mädchen. Eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, das Mädchen zu töten, so hasste ich es. Doch der Hass in mir trieb mich in eine Lethargie, die es mir unmöglich machte, überhaupt zu reagieren.
Und so zog ich mich immer öfter zurück, saß an manchen Tagen stundenlang grübelnd in meinem Zimmer oder verkroch mich in das Baumhaus, in dem Samuel und ich nun schon eine lange Zeit (so schien es mir) nicht mehr so herrlich vertraut beieinander gesessen hatten. Ich vermisste ihn.
Und dann, eines Tages, kam er wieder zu unserem Versteck. Er war allein und offensichtlich guter Dinge, denn er pfiff vor sich hin – eine Melodie, die wir beide mochten. Als er mich sah, freute er sich und fragte, was mit mir los sei – ihm war anscheinend nicht bewusst, wie sehr ich darunter litt, ihn nicht mehr täglich in meiner Nähe zu haben.
Samuel hatte ein großes Handtuch mitgebracht, er wolle Schwimmen gehen, erklärte er; Es war so ein schöner Tag, und wir schwammen bei gutem Wetter regelmäßig im See. Er war zwar kalt und ziemlich tief und wohl auch nicht ganz ungefährlich, denn an einigen Stellen hatte er Strömungen, aber das Wasser war klar und sauber, und mit ein wenig Ausdauer konnte man eine kleine Insel in der Mitte des Sees erreichen, zwischen deren felsigem Untergrund im Sommer Blaubeeren wuchsen.
Obwohl ich eigentlich nicht schwimmen wollte, zog ich mich rasch aus, und wir sprangen gemeinsam lachend und prustend ins Wasser.
Wie sehr liebte ich Samuel! Ich würde ihn nie aufgeben wollen, und nie würde ich sein Lachen und seine Heiterkeit einem anderen Menschen von Herzen gönnen. Wir schwammen um die Wette auf die kleine Insel zu, und es war ein herrliches Gefühl so nackt und frei wie Fische durch das Wasser zu pflügen – hier war unser kleines Paradies.
Doch plötzlich begann Samuel zu zappeln, er schrie auf und riss haltsuchend einen Arm nach oben, vielleicht hatte er einen Krampf. Samuel war ein guter Schwimmer, er hatte mich ein Stück weit abgehängt; es mögen zehn Meter gewesen sein, die uns voneinander trennten. Er rief meinen Namen, verschluckte sich, tauchte kurz unter, kam hustend wieder hoch.
Und ich schwamm auf der Stelle. „Samuel“, flüsterte ich leise „ich werde Dich retten“, aber ich tat keinen einzigen Schwimmzug. Samuel kämpfte, er schlug wild um sich, sein blondes Haar verschwand ein ums andere Mal, tauchte wieder auf, Wasser spritzte. Und immer wieder rief er meinen Namen, voller Panik, manchmal abgehackt, wenn das Wasser seinen Mund füllte.
Vielleicht hätte ich ihn tatsächlich retten können. Es war auch nicht der Schock, der mich abhielt, zu ihm zu schwimmen, um ihn über Wasser zu halten.
Ein plötzlicher Gedanke war es, der mich bremste. Wenn er stirbt, so dachte ich, wird er keinem Mädchen mehr gehören. Wenn er stirbt, wird er meinem Herzen gehören.
Ich sah dem Geschehen nicht kaltblütig zu, sondern voller Mitgefühl und Angst und der Hoffnung, dass es bald vorbei sein möge, damit Samuel nicht so lange zu leiden hätte.
Ein letztes Mal tauchte er auf, um dann endgültig zu versinken, bewegtes Wasser hinterlassend, das sich jedoch so schnell beruhigte, als wäre alles nur ein böser Spuk gewesen.
Nun endlich löste ich mich aus meiner Erstarrung, und langsam, mit ruhigen Zügen schwamm ich zu der Stelle, wo Samuel untergetaucht war. Fast befürchtete ich, meine Füße würden seinen Körper berühren; das Wasser schien mir hier eiskalt zu sein, dennoch verharrte ich eine Weile, tauchte ein Stück mit offenen Augen, um vielleicht Samuel in der Tiefe entdecken zu können, doch ich sah nichts als Schwärze, die mich ängstigte.
Es war nun so still, als hätte die ganze Welt ihr Leben ausgehaucht. Aber mir war seltsam leicht ums Herz, und ich schwamm zurück, erschöpft jetzt und keuchend.
Ich nahm Samuels Handtuch, um mich abzutrocknen, während ich mit leerem Blick auf den See starrte.
Samuel würde Niemandem mehr gehören.
Abends klopfte seine aufgeregte Mutter an unsere Haustür: Sie vermisste ihren Sohn, der sonst immer zeitig nach Hause käme und ob er bei mir sei. Ich musste nicht lügen, nein, bei mir war er nicht.
Die nächsten Stunden erlebte ich wie betäubt, ich schlief und aß nicht, sondern lag lang ausgestreckt in meinem Zimmer auf dem Bett, bis Samuel gefunden wurde. Natürlich wussten alle, dass ich sein engster Freund war, und ein Polizist stellte mir am nächsten Tag die in so einem Fall wohl üblichen Fragen, wann ich ihn zuletzt gesehen hatte und in welcher Verfassung, ob er Probleme gehabt hätte oder ob ich wüsste, wohin er gegangen sein könnte. Natürlich musste ich erzählen, dass es dieses Versteck am See gab, und alsbald machten sich ein paar Leute auf den Weg dorthin, wo man das Handtuch und ein paar Sachen von ihm fand. Für die Leute war jetzt alles ziemlich eindeutig; es war nicht das erste Mal, dass in dieser Region ein Kind ertrank, und man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, um sich Mut zu machen, bevor es an die traurige Aufgabe ging, ein ertrunkenes Kind zu bergen.

Am Tag der Beerdigung folgte ich andächtig dem weißen Sarg; vor mir gingen schweren Schrittes Samuels Eltern und die Geschwister. Seine Mutter weinte schrecklich, die älteren Geschwister auch, nur die kleineren verstanden nicht so recht, was passiert war und hüpften unruhig von einem Bein auf das andere. Die Worte des Pastors erreichten mich nicht, die gesungenen Lieder dröhnten in meinen Ohren, und während der gesamten Zeremonie sah ich Samuels Hand, wie sie ins Leere griff und hörte seine Stimme, die angestrengt meinen Namen rief.
Seither verlief mein Leben unruhig, fast chaotisch, nirgendwo fand ich die Ruhe und ein Zuhause, wonach ich mich so sehnte; ich hetzte rastlos durchs Leben, beständig auf der Suche nach etwas, das ich nicht finden konnte.
Aus unserer kleinen Stadt, die sich so idyllisch an die Wiesen schmiegte, zwischen Wäldern und Seen und den fernen Bergen, ging ich fort, denn ich hoffte, das Geschehene zu vergessen. Meine Mutter starb, nachdem mein Vater mit einer anderen Frau einen neuen Anfang machte, und ich sah lange Zeit keinen Grund mehr, in meine alte Heimat zurückzukehren.
Aber jetzt bin ich krank, und wenn ich abwarten würde, blieben mir vielleicht noch ein paar Wochen, angefüllt mit Schmerz und Angst. Und deswegen bin ich zurückgekehrt, an den Ort, wo mein Schicksal besiegelt wurde, der Anfang vom Ende.
Vielleicht wäre ich ein glücklicher Mensch geworden, wäre Samuel nicht gestorben; ich hätte wenigstens versuchen sollen, ihm zu helfen, aber vielleicht hätte ich das auch gar nicht gekonnt.
Wie oft habe ich mir die Frage gestellt, warum es so kommen musste, und wie unser beider Leben verlaufen wäre, hätte Samuel nicht beschlossen, an diesem verhängnisvollen Nachmittag schwimmen zu gehen.
In meinen Träumen sah ich uns oft als erwachsene Menschen beieinander sitzen, Samuel verheiratet und Vater von Kindern, die uns munter umsprangen.
Ich habe keine Frau, keine Kinder; es gab nur flüchtige Beziehungen zu Männern, die mich nicht wirklich berührten.
Und ich habe keine Träume mehr.
Ach, Samuel, ich wünschte manchmal, es hätte Dich nie gegeben. Ich ertrage es nicht mehr, an Dich denken zu müssen.
Die Pistole, die ich besitze, habe ich meinem Vater vor vielen Jahren aus seinem Schreibtisch gestohlen. Er hat sie vermisst, aber niemals hat er mich beschuldigt, sie genommen zu haben, wahrscheinlich hatte er meine Mutter in Verdacht. Aber er fragte sie nie danach, und später überlegte ich, ob er insgeheim gehofft hatte, dass meine Mutter sich damit erschießt.
Ich verwahrte die Pistole sorgfältig, als wüsste ich, dass sie eines Tages einen Zweck erfüllen sollte.
Dieser Tag ist nun gekommen. Ich verabschiede mich von diesem Leben, dass so gar nichts mehr für mich bereithält. Mir ist kalt geworden, ich stehe schon viel zu lange hier und starre auf das Wasser. Langsam setze ich mich in Bewegung, ich kenne den Weg, der jetzt hart gefroren ist, und bald schon sehe ich unsere Zuflucht, unsere Burg, unsere Höhle: Das Baumhaus, verwittert und vom Moos ganz grün, von vielen Jahreszeiten hinterlassene Spuren tragend, aber noch immer Wind und Wetter trotzend. Ich schaffe es nicht mehr, hinaufzuklettern, dazu bin ich zu schwach, deswegen setze ich mich auf den harten kalten Boden darunter. Ich fühle mich wieder klein und unschuldig, aber ich bin müde.
Das kalte Metall in meinen Händen schmerzt, meine Finger sind steifgefroren. Ich nehme die Pistole in beide Hände, hebe sie in Augenhöhe und hauche dann meine Finger an, die so kalt sind, als wäre ich schon tot.

Eine Schar Krähen flattert auf, als ein Schuss fällt, und das Echo wird davongetragen über den Wald und den See hinweg bis hin zu den fernen Bergen.
 

steffen

Mitglied
Gruß von Salomon

Wenn wir die Frage, ob er ihm überhaupt helfen konnte außer acht lassen, denke ich folgendes: Der Ich-Erzähler ist viel zu egoistisch um Samuel wirklich zu lieben. Denn ansonsten hätte er ihn gerettet, auch wenn dieser sich höchstwahrscheinlich nie in den Erzähler verlieben würde.
Salomon hat sein Urteil gefällt und der Ich-Erzähler hat es als nicht-wahr-Liebender akzeptiert.
Dieser Held ist nicht tragisch, sondern (durch seine Obsession) schlecht!
War das so gedacht?
 

Freeda

Mitglied
Hallo Steffen,

Der Erzähler ist kein Held und vielleicht eher hilflos als egoistisch. Er ist auch nicht wirklich schlecht – er war ja quasi noch ein Kind als Samuel ertrank und hat aus der Angst heraus gehandelt, verlassen zu werden. Samuel ist für den Erzähler zum Elternersatz geworden – im Begriff, ihn allein zu lassen, ähnlich wie es seine Eltern taten. Es erschien ihm weniger schlimm, seinen Freund tot zu wissen, als das schreckliche Gefühl des Verlassen-worden-seins ertragen zu müssen; schließlich ist Samuel nicht freiwillig gegangen (vielleicht auch eine nicht ganz untypische Reaktion bei Kindern: Lieber zerstöre ich mein Spielzeug, als es einem anderen Kind zu überlassen – es ist eben nicht wie bei Salomon).
Erst als erwachsener Mann erkennt er, dass es vielleicht noch einen anderen Weg gegeben hätte, der Selbstmord hat allerdings nicht zwingend etwas mit dieser Erkenntnis zu tun. Er ist also weder ein Held noch eine tragische Figur, sondern einfach ein Mann, der leidet, weil er längst erkannt hat, falsch gehandelt zu haben.
So jedenfalls habe ich das gesehen.

Freeda
 



 
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