Zeitzeugen

vibrantmind

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In einem dunklen, stickigen, überladenen Salon, einem letzten Ableger großbürgerlicher Wohnverhältnisse, hausen die Firle, die staubgefüllten Teppichgeister.

Die schwere Wanduhr zeigt 11 Uhr am Neujahrsmorgen 1960, von außen versuchen vom verfliegenden Rauch der Raketen zerstreute Sonnenstrahlen durch die Staubschicht auf der Innenseite der Fenster zu dringen, mit wenig Erfolg. Trotzdem ist es warm und die Luft ist ausgesprochen schlecht, selten besucht jemand diesen Raum, der alte Glanz des goldenen Kronleuchters, welcher einst im Kerzenschein funkelte und sein Licht auf muntere Gesellschaften warf, ist verschwunden.

Schon lange ist es her, dass der Raum das letzte mal lichtdurchflutet war, weshalb es auch eine solche Überraschung ist, als scheinbar plötzlich ein heller Schein eine Schwachstelle in der Staubdecke findet und einen kleinen Punkt auf dem großen alten Teppich erhellt. Seine Fasern beginnen sich zu bewegen, ziehen sich zusammen, wollen allesamt etwas abgekommen von dem warmen Leuchten und auf einmal formt sich eine kleine Hand aus dem dicken Stoff und greift nach dem Strahl.

Diese Bewegung lässt den Staub vom Teppich aufwirbeln, er fliegt in kleinen Kringeln und großen Knäulen durch den Raum, bis in das Näschen einer winzigen Porzellandame, welche schon seit 66 Jahren das selbe Plätzchen auf der mahagoniefarbenen Kommode behütet. Als sie neugierig einatmet kitzelt ihre weiße Nase plötzlich schrecklich, sie muss niesen und so durchklingt nach unsagbarer Dauer erstmals wieder ein Geräusch den Salon.

Als erstes öffnet der alte Holzschrank seine Augen, voller Staunen beobachtet er, wie langsam jeder Gegenstand im Raum aus seinem tiefen Schlaf erwacht und das Leben an den so lange wie ausgestorben wirkenden Ort zurückkehrt. Die hohe violette Vase fällt vor Schreck in Ohnmacht als sich mit lautem Knarzen eine für verklemmt gehaltene Schublade öffnet und siebzehn Gabeln kreischend auf den Boden strömen. Beim Versuch, den Sturz der Vase abzufangen um sie vor dem sicheren Bruch zu schützen stößt indes ein Saxophon einen großen Bücherstapel um, kurz, der Begriff Rumpelkammer wird seinem Namen gerecht. Es klappert, scheppert, rumpelt und pumpelt munter weiter, bis, erst leise, dann immer lauter, ein Flüstern und Zischeln und Grummeln aus Bodennähe zu hören ist.

„Eins, Zwei, Drei“ murmelt ein leises Stimmchen und dann schnauben und stauben aus dem Teppich mit vereinter Kraft die Firle: „Pssst, wir haben draußen etwas gehört.“Und tatsächlich, als die anderen schweigen und aufmerksam hinhören, vernehmen auch sie von draußen im Treppenhaus, welches den bewohnten Teil der Residenz von den verlassenen Räumen abtrennt, zögerliche Schritte. Einen Augenblick später dreht sich ein Schlüssel widerspenstig im Schloss, und alle betrachten gespannt, wie sich erst weiße Locken und hinterher der Kopf einer kleinen alten Frau durch den Spalt schieben. „Hallo?“ sagt sie schüchtern und dann, etwas verwundert zu sich selbst „Komisch, ich dachte ich hätte etwas gehört“.

Fast will sie den Raum schon wieder verlassen, doch dreht sich noch einmal um und lässt ihren Blick durch den Salon schweifen : „Wie lange ich hier schon nicht mehr war...“

Mit zögerlichen Schritten und einem entzückten Lächeln auf den schmalen Lippen betritt sie das Zimmer, ihre faltigen Finger streichen vorsichtig über Möbel, Vasen, Besteck, Bücher und Kronleuchter, der Staub wirbelt auf und mit ihm die Erinnerung:

Ein junges Mädchen mit langen, kupferfarbenen Zöpfen, strahlenden Augen und Sommersprossen tanzt mit seinen Freunden durch den Raum, überall sind Frauen in schönen Kleidern und Männer mit Monokeln, es duftet nach Parfum, Blumen, Buffet und überall funkeln Kristalle im Kerzenschein.

Die alte Frau lässt ihre Schuhe fallen und tritt behutsam auf den Teppich, jede seiner Fasern umschmiegt ihre warmen, weichen Füße, reckt und streckt sich nach ihr und macht ihr Mut. Als die Teppichgeister mit hellen Stimmchen die ersten Töne jenen Liedes anklingen lassen, welches ihre Mutter zu Beginn eines jeden Balles zu singen pflegte, umspielt ein jugendliches Lächeln ihre Lippen und sie beginnt zu tanzen, zu singen und schwebt förmlich durch den Raum, bis sie nicht mehr kann und sich auf den Teppich legt, ihr Ohr fest an ihn geschmiegt, um den Geschichten der Teppichgeister zu lauschen.

In einem funkelnden, von geliebten Erinnerungen erfüllten Salon, einem letzten Zeugen vergangener Zeiten, hausen die Firle, die staubgefüllten Teppichgeister und ihre Freundin, die junge alte Frau.
 



 
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