Zerberus oder auch Das Ende der Götter

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Werter Leser,

dass Sie diesen uralten Brief gefunden haben, spricht für Ihren Wissensdurst und Ihre Abenteuerbereitschaft. Denn natürlich habe ich geahnt, dass der Brief, den Sie nun in den Händen halten und folglich auch lesen, wahrscheinlich erst viele Jahrhunderte oder vielleicht auch Jahrtausende später gefunden wird. Doch weil ich das, was ich gleich berichten möchte, unbedingt bekannt werden muss, habe ich selbigen mit einen Extrakt eingerieben, das so nur von mir erschaffen werden konnte, um Dinge, in diesen Fall den Brief, vor dem Verfall zu bewahren. Gleichgültig, unter welchen Bedingungen diese Dinge ihr Dasein fristen. Soweit zu Ihrem Fund und von mir ein herzliches Dankeschön aus einer längst vergangenen Zeit.

Nun aber zu dem Vorfall den ich hier loswerden möchte, bevor mich die Götter (insofern sie die Katastrophe überlebt hat) sehr bald zu sich rufen. Denn auch wenn ich einen schwerwiegenden Fehler gemacht habe, glaube ich an die Macht der Vergebung. Ansonsten werde ich wohl Hades Gesellschaft leisten müssen. Ein unangenehmer Gedanke, wenn man bedenkt, was ich angerichtet habe.

Ich schließe mein Leben als außerordentlich erfolgreicher Mann ab, der nach der Katastrophe stets mit natürlichen Substanzen experimentiert hat, um das Leiden meiner lieben Mitbürger zu lindern, an deren Unbehagen ich zweifelsfrei schuld bin. Ich habe einen Eid geschworen zu den gütigen Göttern, die mich hoffentlich noch erhören können, mein Wissen und meine Kraft den Menschen zu widmen, auf das sie ohne unnötiges Leid auf der Erde wandeln können. Bis sie abberufen werden.

Und mein Name wurde bekannt und ich bekam Besuch von Menschen, die meinem Beispiel folgen wollten. Ich bildete sie aus mit meinem gesamten Wissen und schickte sie in die Welt um mein Werk fortzuführen. Und sie selbst gaben ebenfalls das Wissen weiter, was sie von mir erlernt hatten und fügten neues Wissen hinzu. Und auch sie schickten ihre Schutzbefohlenen in die Welt hinaus, um den Menschen zu helfen. Und so war es bis vor kurzer Zeit, als das Alter mich zwang, meine Tätigkeit zu beenden. Aber wenn mein Plan aufgegangen ist, so wird es in ferner Zukunft vielleicht große Häuser geben, in denen Menschen wie ich arbeiten, um kranke Menschen zu heilen. Man möge sie dann Krankenhäuser nennen.

Doch war ich nicht ständig ein Medicus, also ein Mensch, der sich mit der Heilung der Menschen beschäftigte. Als ich noch recht jung war, fragte mich ein Freund um Rat. Er hatte ein Problem, das ihm aufs Gemüt schlug. Da die Götter ausgerechnet zu der Zeit aber recht beschäftigt waren (sie verfolgten gebannt Herkules, der sich für den Olymp bewarb), so gab ich ihm den einen und anderen Rat. Es funktionierte. Ich fand Gefallen an der Arbeit und nannte mich fort an Psychologe. Die Sache sprach sich bald rum und es dauert nicht lange, so konnte ich von der Arbeit gut leben und mir sogar einen Sklaven namens Gerion leisten. Er war ein erfahrener Sklave, der vielseitig eingesetzt werden konnte. Deswegen war er auch recht teuer im Erwerb. Aber nun genug der Einleitung werter Leser, ich möchte nun zum eigentlichen Zweck meines Schreibens kommen.

Wie erwähnt liefen die Geschäfte recht gut und mein Ruf erreichte ungeahnte Ausmaße. Bislang war es so, dass nur die Menschen nach meinen Rat suchten. Die Götter wussten sich ja stets selbst zu helfen. Doch eines Tages, wenige Monate vor der Katastrophe sowie einige Monate, nachdem Herkules seine Prüfungen bestanden hatte, kam der alte Gerion in mein Arbeitszimmer und kündigte mir einen neuen Patienten an. Ich blickte von meiner Arbeit auf (ich schrieb gerade ein Handbuch für nachfolgende Psychologen) und sagte zu ihm: "Er soll hereinkommen." Gerion war stets folgsam, umso erstaunter war ich als er nun sagte: "Das geht nicht Herr, er ist zu groß, um ihre Praxis zu betreten." Das machte mich neugierig. "Und wo ist er dann?" "Im Innenhof mein Herr. Er sprang dort hinein. Folgen Sie mir." Das weckte meine Neugier. Er "sprang" in den Innenhof? Ich fragte Gerion: "Was sagte er?" Und er antwortete mir: "Gar nicht mein Herr. Er bellte nur. Aber es ist offensichtlich, dass er Sie um einen Termin bat."

Wurde mein Sklave verrückt? War er noch sein Geld wert? Sollte ich ihn lieber versteigern um etwas von den Kosten für seinen Erwerb wieder einzufahren? Aber im Innenhof angekommen stellte ich fest, dass mein Sklave sehr richtig gesprochen hatte. Denn der, der mich sprechen wollte, war kein anderer als der riesige Zerberus. Er lag auf allen vieren und trotzdem betrug die Höhe bis zu seiner Stirn immer noch die von vier ausgewachsenen Männern.

Ich vermutete auch sehr schnell und sehr richtig, warum er hier war. Es stand damals in allen griechischen Monatszeitungen, als Herkules Zerberus aus Hades Höllenreich entführt hatte. Aber es gab nie die Meldung, dass er ihn auch wieder zurückgebracht hatte. Oder das Zerberus selbst wieder zurückging. Er lag ja jetzt vor mir. Und das bedeutete auch, dass ihn dieses Ereignis sehr mitgenommen hatte und er keine Lösung dafür fand.

Ich begann also mit meiner Arbeit, die daraus bestand, zuerst das grundlegende Problem kennenzulernen und einige Sitzungen später Lösungen vorzuschlagen. Nur...hundisch wird seit der Katastrophe nicht mehr verstanden, ich werde es also folglich übersetzen.

Hippokrates: Guten Tag, Zerberus. (ich musste brüllen, damit er mich hören konnte)

Zerberus: "böses knurren" (Was quatsch du da von einen guten Tag?)

H: Ich sehe und höre, das du ein Problem hast, denn sonst wärst du nicht beim besten Seelenleser von Griechenland.

Z: Wuff, wuff, knur, wuff, wuff (Nein. Kein Problem. Ein Problem würde ich einfach auffressen.)

H: Schön, es peinigt dich also etwas. Und ich vermute mal, ich weiß was dich peinigt. Es stand ja in den Zeitungen.

Z: "böses langes knurren" (Mein Peiniger schimpft sich Herkules!)

Zerberus musste Atem schöpfen nach diesem Knurren. Das, was ihn da beschäftigte, griff also nicht nur seine Seele an, sondern auch seinen Körper. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, bellte er weiter.

Z: Wuff, knurr, wuff, wuff, wuff, knurr, knurr, wuff (Seit der Entführung darf ich mich nicht mehr bei Hades blicken lassen. Und das ist noch viel schlimmer, also von diesen Hänfling entführt wurden zu sein, verlockt durch einen riesigen Knochen. Und dafür muss Herkules bitter büßen.)

H: Hades lässt seinen Wachhund nicht mehr herein? Hast du mal Zeus gefragt, ob er einen Schoßhund braucht?

Das hätte ich bleiben lassen sollen. Ich wollte ihm kränken, denn natürlich war mir das Böse seiner Seele bewusst und ich wollte ihm etwas zum Nachdenken geben. Doch er gab mir auch etwas. Seinen heißen, stinkenden Atem, als er wütend bellte, mich anknurrte und sich dann geräuschvoll von meinen Innenhof entfernte.

Meine Erfahrung sagte mir, dass er wiederkommen würde. Doch zuvor musste ich dringend ins Badehaus. Ich hoffe, die Menschen erfinden eins etwas, was angenehme Gerüche erzeugt, ohne dass man sich erst umständlich wasche muss. Der Atem von Zerberus, der nun an mir haftete, gehörte jedenfalls eindeutig nicht dazu.

Ich sollte Recht behalten. Am nächsten Vormittag betrat Gerion wieder mein Büro, um mir erneut meinen neuen Patienten anzukündigen. Zerberus hatte sich scheinbar wieder beruhigt. Ich entschuldigte mich für mein Verhalten am gestrigen Tag und Zerberus entschuldigte sich für sein abruptes Entfernen. Die Arbeitsgrundlage war jetzt also geklärt.

Nun geneigter Leser, hast du bis hierhin gelesen, so bedanke ich mich für deine Geduld und komme nun zum nächsten Punkt. Allgemein gesagt, waren die Sitzungen tatsächlich anstrengend und zahlreich. Kurz gesagt wollte Zerberus von mir eine Lösung haben, die ihm seinen Peiniger und seine Herkunft vergessen machte. Eines ums andere Mal zermarterte ich mir den Kopf darüber, doch was ich auch vorschlug es funktionierte nicht.

Doch dann kam der Wendepunkt. Wenn alles Psychische nicht funktionierte, so musste eben ein physisches Mittel helfen. Ich erwarb eigenständig Erkenntnisse über die Pflanzen, die in meiner Umgebung wuchsen, experimentierte mit ihren Bestandsstoffen und hoffe, einen Trunk zu brauen, der Zerberus dabei helfen konnte, seine bösen Erinnerungen zu vergessen. Selbstverständlich gab es dabei auch viele Fehlschläge. Der widerlichste Fehlschlag war eine sehr süße, schwarze Brühe, die aber alles andere als den gewünschten Effekt erzielte. Stattdessen trieb Sie den Energiehaushalt kurzfristig in die Höhe, machte dabei aber auch sehr durstig. Die Schäden, die Zerberus durch diesen Prozess anrichtete waren immens. Zuerst zerstörte er das schöne Atlantis bis auf die Grundfesten, bis nichts mehr davon übrig blieb. Danach soff er vollkommend erschöpft das halbe Hochmeer aus. Ich nannte es seitdem Mittelmeer.

Ich schweife aber schon wieder ab und strapaziere deine Geduld, geneigter Leser. Fest steht, irgendwann fand ich die richtigen Zutaten, um Zerberus von seinen Leiden zu befreien. Denn seit der Einnahme erschien er immer seltener bei mir. Jedoch, was ich auch irgendwann mit Entsetzen feststellen musste: auch von unseren Göttern und Halbgöttern hörte man immer weniger und je länger ich über die Gründe nachdachte, desto mehr erschien es mir, als wären die Erlebnisse dieser mächtigen Wesen nur eine spannende Erzählung für das Volk.

Ich begann mir Sorgen zu machen. Konnte mein Trank daran schuld sein? Selbigen habe ich ja nur Zerberus verabreicht aber gab es vielleicht eine schlimme Nebenwirkung, die ich da übersehen habe? Ich hörte mich bei meinen Mitbürgern um. Sie sahen mich mit fragenden Gesichtern an, als ich sie auf die Götter ansprach. Und es geschah noch etwas. Meine Bürger wurden krank. Dadurch, dass sie die Verbindung zu den Göttern verloren, oder vielleicht war es ja auch umgekehrt, die für Ihre Gesundheit zuständig waren, waren sie natürlich anfälliger. Mit der Zeit erkannte ich das ganze Ausmaß des Trankes, den ich Zerberus verabreicht hatte. Nicht nur er vergaß die Götter – und am Ende sich selbst. Sondern auch die Menschen verloren die Verbindungen zu den Göttern und Halbgöttern und waren nun auf sich allein gestellt. Vielleicht gab es sie noch, aber wir sahen und hörten sie nicht mehr. Auch Zerberus blieb nun aus, und ich hoffte, dass er wenigstens von seiner Pein erlöst werden konnte.

Angesichts dieser Tatsache begann ich nun für den Rest meines Lebens für meine Mitbürger zu sorgen. Denn die Götter fehlten ja nun. Ich erforschte die Pflanzen und ich erforschte die Menschen. Ich heilte sie, wenn ich konnte und ich sprach ihnen Mut zu, wenn sie vor das Tor traten, das nur in eine Richtung beschritten werden konnte. Und es machte mich glücklicher als meine erste Profession. An Ruhm dachte ich nicht mehr. Anders als noch als Psychologe. Der verbreitete sich nun von ganz allein.

Geneigter Leser. Du hältst diesen Brief und damit meine letzte Aufgabe, die ich in dieser Welt zu erfüllen hatte, in den Händen. Sieh es als Beichte an oder als Warnung. Aber es bedeutet auch, dass die Götter die Katastrophe überlebt haben und nach wie vor gewollt und ungewollt, je nach Gesinnung, für ein Gleichgewicht unter den Reich der Lebenden sorgen. Und nach wie vor haben sie eine Weitsicht auf die Dinge, die mir und allen nachfolgenden Menschen verwehrt bleiben wird. Vieleicht wandeln sie ja gar unter uns. Vielleicht auch die Nachkommen von Zerberus. Angepasst an die Menschenwelt. Und des Weiteren bedeutet es, dass der Mensch, aufgrund des Eingriffs der Götter in unsere Welt, auch wenn er noch so schwach ist, immer noch existiert. Und das sollte dir und deinen Brüdern und Schwestern Mut machen. Damit verabschiede ich mich.

Hippokrates von Kos

Erst blind, später wissend
 



 
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