Ziele

Markus Veith

Mitglied
"Wenige werden von wenigen lange geliebt, weil nur wenige einen ganz freien Menschen dulden."

Sein Brustkorbbrodeln hat die Luft erhitzt. Wäre er nicht aus der Wohnung geflüchtet, hätten die Tapeten sicher Feuer gefangen. Seine Ohren, sein Gesicht fühlen sich an wie mit Brennnesseln gepeitscht. Finger und Beine sind nichts als gekochte Spaghetti.
Ihre Trennung brauchte nur 98 Zeichen:
Es tut mir leid, ich
komme heute
Abend zum Schlüs
selaustausch.
Habe mich zum
Tingeln entschie
den.
Seiner Feigheit reichen 43:
Hol deine Sachen.
Ich werde nicht
da sein.
‚Wie du mir, so ich dir', denkt er, schickt dann aber eine Nachricht hinterher:
Prima Methode,
per SMS. Viel
Glück beim
'Tingeln'!
Dieses Wort ist wie ein Irrlicht durch die letzten Jahre gezogen.
"Ich möchte nicht mehr tingeln. Ich habe es lange genug getan. Auf die Dauer ist das nichts."
Er ist der von Dauer gewesen, bei dem ihre Entscheidung endlich gültig hat werden sollen, der Ausgewählte, der ‚Lieblingsmann'. Irgendwie hört er in dieser Bezeichnung immer noch mehr Silben, als sie eigentlich besitzt.
- Tingeln. Ein Begriff wie ein trockener Schwamm. Eine Zeitlang hat er geglaubt, sie bemühe sich einen Wesenszug einzustudieren. Wie andere Menschen Toleranz oder Besonnenheit, weil sie das Gefühl haben, das würde gut zu ihnen passen. Als sei es chic. Wie ein neues Paar Schuhe, passend zu Ohrringen. Dieses Tingeln war ein Phantom, nicht greif-, nur spürbar. Es ist zu erwarten gewesen, dass es sich irgendwann von hinten anschlich, diese linke Ratte. "Meine Liebe, pseudonymen wir es Beziehungsmüdigkeit, unbefriedigte Befriedigung, meinetwegen auch Willensschwäche. Oder wollen wir es beim Namen nennen und Rumgeficke sagen?"
Die Betonplatten des Gehwegs drohen unter seinen Schritten zu schmelzen.
Es ist nichts geschehen, was nicht vorhersehbar war. Wut ist falsch, Erleichterung wäre angebrachter. Die Unsicherheiten haben nun ein Ende. Du kannst dir sicher sein, demnächst in Erinnerungen und Onaniebächen zu ertrinken. Bravo! Sicherheit ist gut! Mehr davon!
Stopp! Er muss seinen Zynismus unter Kontrolle kriegen, bevor er von ihm erwürgt wird.
Frühjahrsmüde wühlen sich die Menschen durch den Schlussverkauf, ertränken sich in den ersten Schokoeisshakes des Jahres. Er läuft durch die Fußgängerzone, weder ist sie sein Ziel gewesen, noch hat er eins, er hofft nur, dass ihn niemand sieht, den er kennt. ‚Bloß keine Gespräche. Bitte, jetzt nur keinen Smalltalk. Geht nach Hause und bestückt Winterklamotten mit Zedernholz!'
Natürlich weiß er, was dieses Tingeln bedeutet. Ein Bedürfnis, eine Unruhe. Bindungslimit. Ein Gefühl, als stehe man mit dem Auto in einer Sackgasse, und die einzige Alternative zu wenden ist eine rot umrandete Anliegerdurchfahrt. Bei ihm hat es sich immer neun Monate nach dem ersten Herzgeflimmer einstellt. Dann begann das unruhige Embryo sich in ihm zu regen, mit dem Hintern zu wackeln und den Zeigefinger lockend in seinem Unterleibes zu krümmen. Dann hat Herr Rossi wieder auf Glücksuche gehen müssen.
Nun ja, dieses Mal nicht.
Im Grunde ist es mit ihr nicht anders gewesen. Die ausgelassenen Gelegenheiten haben in ihm getrommelt und geflucht - pünktlich auf den Monat - aber irgendwie hat er es ausgesessen. Doppelt so lang wie sonst. Was nun in Zeitraffer durch seinen Kopf flimmert, macht den Film nicht kürzer: Fetenlaune, ein paar Tage Balzen und schließlich schwuppdiwupp. Ehrlich gemeinte Ich-liebe-dich's, die Minderwertigkeit herausgerutschter Ich-habe-dich-lieb's sind zu Wortklaubereien erklärt worden. "Ihr seid schon komisch, ihr zwei", hat sein Freund bemerkt, der häufig mitkam und ihr Vertrauter wurde. "Irgendwie habt ihr die Kuschelphase komplett ausgelassen, und seid sofort zum Was-sich-liebt-das-neckt-sich-Level übergegangen." - Eine Liebe wie ein Pingpong-Spiel. Kadack-kadack. Zusammenspiel um Punkte. Kadack-kadack. Feuerwerk-Dialoge wie aus Hollywood-Komödien. Kadack-kadack. Harry & Sally hätten es nicht besser machen können. Kadack-kadack. Ihr entzückendes Schnauben nach seinem Verbal-Ass. "Es macht Spaß, euch zu erleben." Kadack-kadack. Und dann: Tingelwarnung! Kadack-kadack. Aus!
Tü-tü-tü - Tü-tüt - Tü-tü-tü
Komme gegen
halb sieben. Ich
wollte dich nur
vorwarnen und
den Rest persön
lich ...
Ja, ja. - ‚Ja, ja' heißt ‚Leck mich am Arsch.' Er versucht sich einzureden, dass er nie wirklich verliebt gewesen sei. Warum sonst hat es kein Gekuschel gegeben? Eine Laune, eine Tingelsingel-Fingerübung, die irgendwie eineinhalb Jahre länger als gewöhnlich gedauert hat. Künstler brauchen keine Beziehung, sondern Freiheit, weniger die Affären als viel mehr die Trennungen. ‚Mach mich bloß nicht glücklich und stör meine Dramaturgie.' "Ja, ja", sagt er zu sich selbst, während seine Finger in der Hosentasche versuchen, den Schlüsselhals zu würgen.
"Und würdest du mich fragen, was wohl Zukunft mag sein, so würde ich dir sagen: ‚Zukunft heißt: Niemals allein.'" - Woher kommt diese Zeile?
Er denkt an gemeinsames Aufwachen und an seine morgendlichen Arbeitswutanfälle. Wenn er, von einer Idee erweckt, an den Rechner geeilt ist, um die nächste Stunde wie besessen auf die Tastatur einzuhämmern, den Bildschirm mit Worten zu füllen. Dann hat ihre Hand eine Tasse Tee vor ihn hingestellt, schwarz und gezuckert wie er ihn gerne trank. Er hat ihre kühle Hand, die nie ganz warm wurde, an seinem Hals gespürt, ihren Kuss an seiner Schläfe, den Kopf nach hinten sinken lassen, ihn zwischen ihren noch bett-warmen Brüsten gewendet ... und schließlich den Winter bemerkt, der während der Nacht die Welt da draußen bepudert hatte. - Ein Augenblick, der beinahe ein Heiratsantrag geworden wäre. Für sie muss es die Bestätigung gewesen sein, dass er ihr nie ganz allein gehört, ihr nie ganz und gar gehören würde. Seine andere Geliebte besteht aus Worten.
"Ich mag es nicht, so weich zu sein", hat sie gesagt. - Er denkt an Küchentisch-Debatten über Gott und die Welt (immer zwiegespalten und dadurch immer gut) und an Pärchensitz-Vorbestellungen für Zeichentrickfilme, an Wasserpfeifenabende und Saunabesuche, an hungrige Blicke und scharfe Mahlzeiten, an ihre beiden von Fingernägeln oder rauen Türrahmen zerkratzten Rücken, an die zuckende Ekstase ihres biegsamen Körpers, dem sich niemand entziehen kann. Auch andere nicht. Das hat er immer gewusst - und es genossen. Weil er sich ihrer sicher sein durfte. Weil zu dem zum hemmungslosen Flirt fähigen Körper auch eine Schulter gehörte, an die er sich lange hat anlehnen dürfen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wer sich gegen die andere Schulter stemmen könnte. Diese Sicherheit war nötig. Das Land, das vor ihm liegt, mag frei sein, aber auch rau und beschwerlich. Wer nicht strampelt, strauchelt. Und die Schulter zum Ausruhen hat so gut getan. Ihnen beiden. Wie er dachte.
Er holt sein Handy aus der Seitentasche.
Dieses Hin&Her
ist so billig und
schwach. Dass
wir das noetig
haben ...
Ewige Lichter gibt es nun mal nicht. Es sind rechtzeitig ausgetauschte Talgkerzen. Ein Kollege hat mal geschrieben, Normalität sei die Wolllust der Langeweile. Das hat was für sich. Liebe kann plötzlich kommen, aber Nicht-mehr-Liebe schleicht sich wie diese feige Tingel-Ratte von hinten an. - Sei es wegen dem Rauchen oder seiner marottenhaften Arbeitsmethoden, wegen ihrer wundgeschmusten Haut, weil er Rasieren abscheulich findet oder wegen seiner Müdigkeit nach Schaffensphasen, sei es wegen seinem Zeitmangel, seiner Besessenheit, oder seinem Stil - die Liste ließe sich fortführen. Er hatte auch Negativ-Listen über sie, aber soweit er sich erinnern kann, hat er sie nach jeder Erstellung zerrissen. Auch wenn jeder einzelne Punkt mit spitzen Nadeln an seinem Ego pinnte, so hat er doch immerhin versucht, es zu ändern. - Sich zu ändern. Allerdings erst, nachdem sie ihm anvertraute, dass da eine Noch-Nummer 2 an ihrer anderen Schulter mit ihr einschlafen wollte ...
"Ich will es nicht wissen", hat er in sicheren Zeiten zu ihr gesagt. "Gesetzt den Fall, es käme zu einem Getingel, zu einem Betthupferl, und du wärst aber weiterhin dazu entschlossen, bei mir zu bleiben, und - gesetzt den Fall - es ließe sich so gesichert verheimlichen, dass ich es nie im Leben herausfinden würde, dann will ich nichts darüber wissen."
Ignoranz? - Nein. Ein einfaches und uraltes Prinzip: Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. ‚Alles oder nichts' statt ‚Alles nichts, ... oder?' Misstrauische Gedanken kann er sich im freien, rauen Land nicht erlauben. Die lassen straucheln und er muss mit beiden Beinen strampeln. Mit den Beinen, die sich nun anfühlen wie Spaghettis zehn Minuten nach al dente.
Tü-tü-tü - Tü-tü - Tü-tü-tü
Ich schaffe es
eine h später.
Das wäre halb acht. Aber er will nicht. Was würden Erklärungen denn noch bringen? Er will laufen und den Gehwegen von seiner brodelnden Hitze abtreten.
‚Ich habe einen Verstand, der viel zu gut funktioniert', loben ihn seine Gedanken und er beißt sich dabei auf die Zunge. Er erinnert sich an die einsame Nacht, in der er plötzlich aufwachte und ihm alles klar war. Das Herumgedruckse und Zögern, die Berichte seines Freundes - ihres vertraut Gewordenen (Diese Bekanntmachung hat er schon lange bereut. Der Arme saß sicher nicht sonderlich gut zwischen ihren Stühlen.) Ihre Bemerkungen und Verhaltensweisen, die Mienenregungen, die er beobachtet hatte, ergaben Sinn. Kein Wunder! Tingeln hat ja auch sicheren Erfolg versprochen! Der Stier von der Nachbarkoppel hat schon lange mit den Hufen gescharrt. Obwohl er von dem Wiedertreffen mit ihrem Schulfreund wusste, haben seine Alarmglocken nicht früher geschrillt. Klar, ein Schulfreund hat den Mutterbonus. Ein Schulfreund hat schon vor zwei Jahrzehnten beim Topfschlagen das Pixi-Heftchen gewonnen, dass Mama unter die Tefalhaube gelegt hat. Ein armer Poet, der Hallo winkt statt Guten Tag schüttelt, der die Tochter ab und an um zwanzig Euro anpumpt, der kann nix sein, selbst wenn er das Geld immer zurückzahlt.
Heute gewinnt der Schulfreund Herzen, hat einen gesicherten Job, ist hilfsbereit, raucht nicht, (könnte es sich finanziell aber leisten), fährt Motorrad, (was jedenfalls besser ist als auf Monatsfahrkarte) und - ganz wichtig - er hat Geduld mit ihr und klopft möglicherweise noch immer gegen die Haube! Ergo: Ein Bilderbuch-Schwiegersohn. Wie geschaffen für die widerspenstig heiratsunwillige Tochter. Da kann der "Künstler" - ein Wort, dass man wundervoll ausspucken kann - mit seinem gammeligen Lebensstil, dem ungesicherten Status und diesen spinnerten Ideen nicht mithalten. - Aus! Aufschlagwechsel. Kadack-kadack. Netz!
"Nun, du gehörst vielleicht nicht zu meiner Zielgruppe", hat er zu ihr gesagt. Diskussionen über seine Texte sind immer öfter in destruktiver Kritik versandet. Bis sie sich bei Fragen nach ihrer Meinung umgewandt hat und zur Bauchtanzgruppe gegangen ist - weil sie ihn nicht kränken wollte.
Hey, okay! Die Frau, die er liebte, ist für Identifikationsfiguren. Aragorn und Harry Potter. Er schreibt lieber über Problemfälle und Anti-Helden. Was macht das? Die Frau, die er liebte, mag ja auch edle Weine, deren Bouquet man durch Schwenken und Mundspülen genießen kann, was er als ‚affigen Benimm-Firlefanz' bezeichnet und Zwei-Euro-fünfzig-Lidl-Trocken trinkt, weil im frei-rauen Land Genuss keine Edel-Frage ist. Er will irgendwann Kinder, sie knirscht mit den Zähnen, wenn der Türke unten im Haus seine ‚Blagen' nicht gebändigt bekommt. Was macht das? Nichts. - Nichts wirklich. Herrje, es gibt eine Menge Unterschiede zwischen Land- und Stadtkindern. Ist es denn unbedingt nötig, sich zu mögen und zu verstehen? Er kreiert Wortspielereien und prosaische Was-wäre-wenn-Gedankenspielchen, die weder jedermanns Sache noch Hauptangelegenheiten einer Beziehung sind, oder? Was macht das alles, so lange Gemeinsamkeiten nicht ausnahmslos bedeuten, sich Asterix-Sprechblasen zu zitieren und an verbilligten Dienstagabenden ins Kino zu gehen. Immerhin war da noch verdammt guter und in jeder Hinsicht ausgefüllter Sex.
Er merkt, dass er sich selbst zu verarschen versucht. Ihre letzten gemeinsamen Erlebnisse waren Terminkalendervergleiche. Am Telefon. Seine Zigarette (die zigste nach jener, mit der er sich den Scheiß abgewöhnen wollte) landet im Rinnstein. - Es ist nichts geschehen, was nicht vorhersehbar war ...
Die Kirchturmuhr zeigt neunzehn Uhr zehn. Es sind fünf Straßenbahnminuten bis zu ihm nach Hause. Er könnte noch eine Erklärung hören. Seine heißen Füße setzen sich in Bewegung. An der Haltestelle kommt eine Bahn und fährt ohne ihn weiter.
Immer ist Angriff seine beste Verteidigung gewesen. Ein "Was ist hier los? Sag mir was ich denken soll" kam immer von ihm. Auch nach jener Erkenntnisnacht, in der er nicht mehr hat weiterschlafen können; nach dem folgenden Tag, an dem er nur durch die Wohnung gependelt ist wie ein Tiger im Käfig und spät abends, nach stundenlangem Starrkampf gegen das Telefon, endlich kapituliert und zum Hörer gegriffen hat.
"Du wirst kleiner, wenn du weinst." Er hat die Bedeutung dieser Liedzeile schon früher begriffen, doch nie so erlebt. Immer sind es jene Neun-Monats-Beziehungen gewesen, die er hatte weinen hören, bis er "trostlos, zwischen bitterkalten Fingern, letztes Mitleid wie ein welkes Blatt" zerrieb. Großer Gott, er sei doch auch schwach, in diesem Falle sei er es ehrlich und gerne. Warum könne sie es nicht sein? ... Er liebe sie.
Jenes Mal haben sie die Kurve noch gekriegt. Das - immerhin - hat er an dem Abend erreicht. Doch einer Liebe immer wieder noch eine Chance zu geben, begradigt die Straße so lange, bis sie sich teilt. "Auf der Leinwand steht nicht ‚Ende', sondern ‚Schluss'."
Tü-tü-tü - Tü-tü - Tü-tü-tü
Der Schlüssel
liegt im Brief
kasten
Mit jedem Schritt zurück zählt er sich Vorteile auf und kommt auf eine beträchtliche Anzahl. Nicht nur, dass er diese unglückliche Bahnverbindung in die Nordstadt nun nicht mehr fahren muss. Endlich darf er über alles schreiben. Für seine Zielgruppe. Und er würde eine Weiche finden. Wieder vom Besiegten zum Geliebten werden.
Die Gleise verlaufen entlang der Strasse, die er geht. Er kommt an einen freien Platz, eigentlich mehr der Rest einer Baustelle. Wenn sie mit der Bahn zurück fährt, muss sie hier vorbeikommen. Er lehnt sich an einen Bauzaun und wartet.
Sie sitzt in der Übernächsten, sieht ihn aber nicht, wie er dort steht, die Hände tief in den eingerissenen Taschen der Cordjacke vergraben, seine Nase pathetisch gen Sonnenuntergang und sie beobachtet. Ein stolzes "Viel Glück" in ihre Richtung verkneift er sich.
 



 
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