Zoo der Lyroten

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Elias

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Zanderherz sah in die Runde. Noch waren alle Präsidiumsmitglieder gutgelaunt und frisch. Es würde sie sicher treffen wie ein Schlag. Seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Damals, als alles begann, war man noch voller Ideale. Die Organisation wurde aufgebaut. Man scheute weder Mühe noch geringe Kosten, um Literatur zu präsentieren – L I T E R A T U R.
Wie in die Innenflächen seines frontalen Schädelknochens gemeißelt stand dieses Wort vor ihm und flammte in glühendstem Blau auf. Es ging ihnen um das Edelste - zu einem günstigen Preis. Es schmerzte ihn nicht wenig, dass die Beschmutzungen selbst im Zustand äußerster Reinheit unvermeidliche Begleiterscheinungen waren. Nach endlosen Richtungskämpfen hatten sie sich durchgesetzt - die Avantkognitivisten und Vortexmaximalisten: Sprache an den Grenzen des Universums, rein und hart wie Diamant. Die Vokale i und u waren per Satzung verboten, Worte wie L … und L …. damit obsolet. Herz-Schmerz-Verse …
Zanderherz erschauerte. Er hatte sich geschworen, diese Worte nie wieder zu denken. Nun war es doch geschehen und sie erinnerten ihn an die dunkelste Ecke der Organisation - den Zoo der Lyroten, wie sie abfällig und voller Verachtung genannt wurden, jene, die in einem hermetische gesperrten Bereich des Web-Space hausten. Man schämte sich ihrer und wenn sie nicht ein Quell reichlicher Einnahmen wären, hätte man sie bereits eliminiert. Der Zutritt war kostenpflichtig und es erboste Zanderherz, wie viele Menschen dafür zahlten, die verstaubten Produkte einer entrationalisierten Gefühlswelt lesen zu können, die dem Anspruch der elitärsymbolistischen Paradigmen der Organisation zuwider liefen. Manchmal könnte er rasend werden. Diese unverschämten Emotionaleuphoriker hatten es zudem im letzten Jahr gewagt, einen Streik anzuzetteln. Man stelle sich vor - einen Streik!
Zanderherz schnaufte gekränkt.
Anstatt dankbar für Unterkunft und digitronisches Futter zu sein, bissen sie die Hand, die ihnen ihr virtuelles Überleben garantierte. Nach zweiwöchiger Schreibruhe gab das Präsidium der Forderung nach Einnahmebeteiligung nach, da die Besucherzahl dramatisch rückläufig war. Nun, man war kompromissbereit und hatte Großzügigkeit walten lassen, wenngleich es schmerzte zuzusehen, wie der Kreis erlauchter Bookerpreisträger kompromittiert wurde. Einer der ihren sollte nach internen Informationen demnächst gar …
Zanderherz stockte und wagte den Gedanken nicht auszuspinnen. Es war grandios, umwerfend, fast undenkbar. Sie hätten den ersten jener Preisträger in ihren Reihen und es würden weitere folgen und folgen und …
Ihm schwindelte ein wenig.
Nun ja, nicht immer lief alles so glatt. Dieser peinliche Ausrutscher. Letztes Jahr beim Golden Globe hatte dieser unsäglich Plot gewonnen und es kam heraus, dass das Drehbuch von einem der Organisationsmitglieder verfasst worden war. Peinlich. Der Ausschluss war unvermeidlich. In einer Ecke des Lyrotenzoos fristete er nun sein kümmerliches Dasein, verfasste weitere international beachtete Schmachtwerke. Wie Zanderherz über vertrauliche Kanäle gehört hatte, stand die Verleihung des O … bevor. Diesmal verlor der nicht die Beherrschung. Er hatte ES nicht gedacht. Sein Magen schmerzte leicht.
Doch das waren nur jene, die man gut im Griff hatte. Ein Ärgernis, sicher. Schlimmer jedoch waren jene, die dem innersten Zirkeln angehörten und dennoch sündigten. Die Mitglieder des Präsidiums hatten freien Zugang zu den abgesperrten Bereichen. Zanderherz vermutete, dass einige von ihnen mehr trieben, als nur die abschreckende Wirkung dieser Form von Verbalinjurie zu studieren. Bisher konnte man nichts beweisen. Nur heute, da würde er zuschlagen, erbarmungslos, hart. Als eine Art Lyruch hatte Zanderherz das Amt des Schließmeisters für den Zoo der Unaussprechlichen, der Undenkbaren inne. Der Schmutz, der bei diversen Spülungen in den interner Filtern hängen blieb, landete zuerst bei ihm. Es gab geheime Kanäle, Liebschaften, Abtrünnige und Verräter. Er war ihnen auf der Spur. Doppelidentitäten, gefälschte Nicks, Spammailattacken, nichts entging seinem wachsamen Auge. Trotzdem. Er musste sich zugestehen, dass er sich den Kampf gegen die hohlorgan- und triebgesteuerten Dichtkünste einfacher vorgestellt hatte. Seiner Meinung nach würde sie einfach austrocknen, verschrumpelt, verkarsten, nebst ihren Quellen, die das reine Ganze verschmutzten. Stattdessen entfaltete der Lyrotismus eine emsige Geschäftigkeit und war eine stete Gefahr.
Die Trochäiker, Jambisten und Sonettisten waren die schlimmsten unter ihnen, wenngleich auch den Expressionisten und den Sestinikern nicht zu trauen war. Am ehesten konnte man noch mit den Thanatologen, wenn ihnen nicht immer alles so Wurst wäre. Zanderherz liebt wehrhafte Feinde. Dort wo er zuschlug, musste er Widerstand spüren, das Knirschen verbaler Knochen, das reimatische Zerplatzen strophaler Struktur. Es vermittelte ihm das Gefühl, gut getroffen zu haben. Heute würde er es krachen lassen. Leise rieb er zwischen Daumen und Zeigefinger das Stückchen Papier, das ihm einer seiner Getreuen zugesteckt hatte. Ein Beweisstück.
Die Sitzung nahm ihren Verlauf. Notwendige Absprachen wechselten sich mit lästigem und der avantkognitivistischen Überichbildung unwürdigen Gezänke ab. Wenn man wenigstens die Emotionen in den Griff bekäme! Zanderherz liebt die rasiermesserscharfen Schnitte in den Verstand des anderen, wenn dieser nicht immer gleich so, er suchte das passende Wort, so direktmimisch reagieren würde. In jahrelangen mühseligen Prozessen war das Eisen der Vernunft aus dem Berg des Gefühls gebrochen worden. Man hatte es im Fegefeuer eines strikt entbauchten Diskurses zum Wortstahl gehärtet. Ostrowski! Der Osten!
Er spürte, wie ein leichter Ekel in ihm aufstieg und schämte sich dafür. Derartig einströmende Leibesempfindungen konnten jeden fein ziselierten Gedankengang ruinieren. Jedes aus dem Bauch-Heraus war ihm zuwider. Er stöhnte. Nie würde man der Gefühle so gänzlich Herr werden. Aber er würde hart abrechnen und heute einen Schritt vorankommen im Kampf gegen das Unreine, das Zentrum des Körperlichen, dort wo der Mensch tief innen, direkt in der Mitte des Leibes, nichts außer Verdauung und deren stinkende Begleitprodukte war.
Er atmete erleichtert auf. Es war ihm gelungen, Umschreibungen zu finden, die seinem Ideal von Reinheit nahe kamen. Die Dinge nennen, ohne sie zu nennen. Zanderherz kaute befriedigt auf den Fingernägeln, eine Angewohnheit, die er im Grunde verfluchte und dies umso mehr, je weniger er zur Nagelschere greifen musste.
Es hatte ihn geschockt, als einer seiner Maulwürfe im Zoo ihm einiges über den Präsidenten steckte. Im Kern verfault. Wie sollte jemals der Brillant reinsten Sprachfeuers entstehen, wenn die Substanz, aus der sie ihn zu schleifen gedachten, eine einzige Kloakenmischung war. Der Präsident … er hatte heimlich um einige Gedichte aus dem Zoobestand gebeten - für seine Mutter, wie ihm sein Maulwurf mitteilte. Zanderherz griff sich instinktiv an die linke Brust, als könne er im Dienste der Sache den Herzschlag anhalten, wenigstens solange, bis der Verstand zu seinem und nicht nur irgendeinem angemessenen Urteil kam.
Die Mutter. Zanderherz schauderte. Was taten Menschen nicht alles aus Liebe. Aber genau hier lag das Problem. Die nur scheinbar edelste Regung des Menschen versperrte, nein verkleisterte den Zugang zu jenen klaren Quellen, die einzig und allein erfrischen konnten. Liebe. Bestenfalls als ironisches Spiel der Verführung geduldet, durfte es nie soweit kommen, dass sie ihre Schleimspur in die Sprache einer erlauchten Gesellschaft ätzen durfte.
Er schreckte aus seinen Gedanken empor. Der Präsident hatte das Wort ergriffen.
„Am Schluss unserer Sitzung haben wir leider einen sehr bedauerlichen Fall zu besprechen. Es geht um unseren Lyrikfreund Zanderherz.“
Zanderherz richtete sich auf.
„Uns wurden aus vertraulichen Quellen Materialien zugespielt, die belegen, dass Zanderherz seit geraumer Zeit mit einer Dame namens Blümchenwiese aus dem Zoo der Lyroten Kontakt unterhält.“
Zanderherz schluckte schwer. Er spürte seine Augen vorquellen. Die fragliche Dame war sein Maulwurf. Er durfte ihren Auftrag nicht preisgeben.
„Ehe ich weitere Informationen zum Vorgang mitteile, möchte ich unseren Lyrikfreund Zanderherz Gelegenheit geben, sich zu äußern.“
Die Präsidiumsmitglieder drehten ihre Köpfe, starrten stumm und feindselig auf ihn, der ihnen stets als leuchtendes Vorbild vorangegangen war. Er musste etwas sagen. Vielleicht die Wahrheit oder besser doch nicht. Schwer wie Blei hing ihm die Zunge im Mund.
„Los Zanderherz, äußere dich“, schallte es aus einer Ecke des Raumes.
Zanderherz fühlte, wie seine Irritation in Wut umschlug: „Ich kann alles erklären. Aber was soll das hier, seid ihr die Inquisition?“
Er spürte, wie er die Beherrschung verlor. Gott, er machte Fehler und alles wegen ein paar unwürdiger Gefühle. Sein Magen begann heftig zu schmerzen. Er fühlte, wie sein Herz zu rasen begann. Ausgerechnet das Herz. Gerade noch konnte er sich zurückhalten, vor Erregung in einen seiner Fingernägel oder das, was von ihm übrig war, zu beißen. Er musste kühlen Kopf bewahren. Er, der die reine entemotionalisierte Sprache zum Standard erhoben hatte, durfte jetzt nicht versagen.
Er spüre, wie sich die feindselige Stimmung im Saal verstärkte.
„Du Sau. Und mich wolltest du damals fertigmachen“, jemand goss ihm ein Bier übers Hemd. Der Raum verschwamm in einer Art wattigem Grau, aus dem hin und wieder Gesichter in sein Bewusstsein wippten. Er stütze sich schwer atmend auf, riss die Arme nach vorne und bekam etwas Warmes, Rundliches zwischen seine Finger. Je stärker er zudrückte, desto mörderischer erscholl Gebrüll. Ein harter Gegenstand rammte sich ihm in die Rippen.
„Ja, mich auch. Exkommuniziert ihn“, schrie jemand quer durch den Raum.
Er hörte Glas splittern. Etwas Schweres schlug auf seinem Kopf auf, fühlte sich an wie ein gewichtiger A3-Foliant. Der Große Conrady! Das Licht ging aus. Jemand keuchte über ihm. Der Tisch flog um. Etwas Spitzes zerkrachte auf seinem Rücken. Starke negative Gefühle durchzuckten ihn. Gefühle! In einer Ecke flackerte Feuer auf. Rauch quoll hoch und drohte ihn zu ersticken. Das Warme, Runde rutscht aus seinen Fingern und schrie: „Du Hund!“
Nur raus hier, dachte Zanderherz, nur raus! Der Lärm wurde unerträglich. Etwas röchelte neben ihm. „Polizei, Polizei!“. Der Raum versank in Chaos und Dröhnen. Überall barsten glühende Biergläser an der Wand, die sich senkte und ihn zu begraben drohte. Panik machte sich ihn ihm breit. Auf allen Vieren brach er sich durch Beine und Leiber einen Weg in Richtung Ausgang. Draußen ertönten Sirenen, jaulten, schrillten, klingelten ihm das Trommelfell aus den Ohren. Ein wüster Schmerz durchzuckte seine Schläfen. Der Magen verselbständigte sich und flog schmatzend in den quittegelben Himmel. Flüssigkeit lief ihm übers Gesicht. Er wischte sie ab und erreichte die Tür.

Mit einem Ruck richtete sich Zanderherz auf, sah sich verwirrt im Raum um. Alles war ruhig. Die Sonne schien durchs Fenster, Vögel zwitscherten. Er schaltete den Wecker aus, fuhr sich übers Gesicht. Er versuchte, sich zu erheben. Seine Beine zitterten so, dass er das Gleichwicht verlor und aus dem Bett fiel.
Verdammte Gefühle, dachte er, verdammte Gefühle. Sie bringen mich noch in den Träumen um.
 

Artist

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Hallo Elias,
großartiger Text, der in seiner parodierenden Hermetik, wunderbar die Kämpfe zwischen Kopf und Körper, zwischen einem dogmatischen Über-Ich und einem "chaotischen" ES beschreibt, denen wir alle täglich, natürlich auch diejenigen, die Kunst machen, unterliegen.
Viele Grüße und fröhliche Weinacht.
Artist
 

molly

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Hallo Elias,

Deine Geschichte habe ich sehr gern gelesen. :)
"Zanderherz", welch schönes Wort.

Freundliche Grüße

molly
 

Elias

Mitglied
Jetzt online

Hatte ein paar Wochen technische Probleme mit dem Zugang, daher meine späte Reaktion. Besten Dank Euch und alles Gute im Neuen Jahr. E.
 



 
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