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Vitelli

Mitglied
Das Ein-Zimmer-Appartement ist sauber und aufgeräumt, und es wirkt, als wäre es aus der Zeit gefallen; vor zwanzig Jahren kann es hier nicht anders ausgesehen haben.
Auf dem Nachtisch steht das Foto einer Frau; der Rahmen wirkt billig. Sie lächelt gezwungen.
Das linke Auge ist leicht zusammengekniffen; ich weiß nicht, ob es gewollt ist.
Ich höre, dass jemand schwerfällig die Treppe emporsteigt. Am Ende des Aufstiegs ein Keuchen. Schlüssel klirren.
Die Tür öffnet sich.
Der alte Mann scheint weder überrascht noch erschrocken, mich zu sehen.
Er schließt gewissenhaft die Tür hinter sich und fragt, ob er Hut und Mantel ablegen darf. Ich nicke.
Er geht zum Fenster. >>Ich möchte noch einmal das Wasser sehen.<<
Ich betrachte seinen krummen Rücken, während er aus dem Fenster schaut.
Der alte Norwegerpulli ist ihm mittlerweile 1, 2 Nummern zu groß.
>>Ich habe das Meer immer geliebt<<, sagt er. >>Ich hätte nie in einer Stadt leben können, die keinen Hafen hat.<<
Er dreht sich zu mir.
Auf’s Bett deutend, sagt er: >>Darf ich mich setzten?<<
Wir sitzen uns gegenüber und starren uns an. Sein Gesicht ist fahl und eingefallen.
Er holt einen Umschlag aus der Nachttischschublade und legt ihn neben das Foto. >>Da ist meine Sterbeversicherung drin<<, sagt er. >>Man soll sie gleich finden.<<
Er scheint auf eine Reaktion von mir zu warten. Als keine kommt, sagt er:
>>Ich lasse mich halbanonym beerdigen. Meine Urne kommt unter einen großen Baum auf dem Friedhof dahinten.<<
Er zeigt in die Richtung, in der sich der Friedhof befindet.
>>Dann steht nur mein Name auf einem Blechschild; ein Blechschild unter vielen. Und wenn dann jemand kommt und Blumen unter den Baum stellt, dann ist es so, als würde man auch mir gedenken.<< Er zögert, lächelt traurig. >>Na ja, ein bisschen wenigstens.<<
Liebevoll, aber etwas umständlich, nimmt er die Portraitfotografie aus dem Rahmen und liebkost sie. >>Ich habe diese Frau mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Auch mehr als mich. Okay, das ist nicht schwer.<<
Er lächelt wieder traurig.
>>Schade, dass sie mich nicht auch lieben konnte. Aber nun ja, dass ich ein paar Monate mit ihr verbringen durfte, ist wahrscheinlich mehr, als ein Mann wie ich verdient hat.<<
Er zieht den rechten Ärmel seines Norwegerpullis hoch. >>Das hab ich mir damals stechen lassen, nachdem sie mich endgültig verlassen hat. Wenigstens auf diese Weise sollte sie für immer bei mir sein.<<
Er zieht seine alten Schuhe aus und schiebt sie unter das Bett. >>Sie hat jemanden gefunden, der sie glücklich macht. Und ich freue mich für sie. Ehrlich. Zwei Kinder haben sie.
Sie wollte immer Kinder.<<
Er schlägt die Decke zurück und legt sich rücklinks hin. >>Vielleicht hätte sie mich lieben können, wenn ich weniger getrunken hätte… Aber wer weiß, ob ich sie dann hätte lieben können…<<
Er faltet die Hände über der Brust zusammen. >>Ich wäre dann soweit. Ich möchte Sie nicht aufhalten.<<
 
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hein

Mitglied
Hallo Vitelli,

deine Geschichte ist gut geschrieben, aber schwer zu lesen.

Du solltest für jede wörtliche Rede einen Zeilenwechsel machen.

LG
hein
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Hein, danke für dein Feedback. Und ja, du hast völlig recht, das hätte ich machen sollen. Beim Rüberkopieren wurde nur leider das Format zerschossen ... Und dann war ich zu faul, das alles zu ändern. (Peinlich-Smiley)
 
Hallo Vitelli,

auch mir gefällt die Geschichte mit dem gruseligen Ende gut. Da läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

Du solltest für jede wörtliche Rede einen Zeilenwechsel machen.
Hallo hein,

das stimmt nicht so ganz. Wenn es sich um den gleichen Sprecher handelt, erfolgt kein Zeilenwechsel. Nur wenn der Sprecher wechselt, kommt ein Zeilenumbruch hin.

Er geht zum Fenster. >>Ich möchte noch einmal das Wasser sehen.<<
So ist es durchaus richtig.

Man könnte aber Absätze einbauen zur Lesefreundlichkeit.
Die Guillemets wirken etwas ungewohnt.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo Vitelli,

ein paar Kleinigkeiten hätte ich auch noch.
Auf einem Nachtisch kann kein Foto stehen. Mit einem zweiten 't' wird daraus das gemeinte Möbelstück (einmal am Anfang, einmal etwa in der Mitte mit -schublade dran).
Das andere 'Unding', finde ich, ist das Blechschild. In einem Waldfriedhof oder etwas Vergleichbarem wird da gewiss kein Blechschild geduldet. Das Schild, den Grabstein ersetzend, sollte natürlich aus Holz sein.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

Vitelli

Mitglied
Hallo zusammen.

Danke für die Kommentare, liebe Leute.

@Rainer, ja, der Nach(t)tisch geht auf mich. Aber nein, Blechschilder gibt es - glaube mir, ich kennen den besungenen Baum. Kritik an der Kritik: Wenn man sich schon die Mühe macht einen Rechtschreibfehler aufzuzeigen (auf das Blechschild gehe ich mal nicht ein), dürfte man auch ruhig einen Satz an den Inhalt "verschwenden."

Das mit den Zeilenumbrüchen hat SilberneDelfine richtig und schön erklärt; aber ich stimme zu, dass ich die "Lesefreundlichkeit" hätte steigern können, wenn ich mir mit der Form etwas mehr Mühe gegeben hätte.

Viele Grüße,
Vitelli

Edit: @SilberneDelfine: Die Guillemets wirken ungewohnt? Sind die nicht eher Standard? Hab grade mal ein paar Bücher durchgeblättert ... Aber: Ich lese aktuell diverses von Cormac McCarthy und Kent Haruf, und die verzichten beide komplett auf Anführungszeichen - das empfinde ich als sehr angenehm und hat bestimmt Zukunft. Nur: Man muss sich schon sehr konzentrieren beim Lesen. Und die Charaktere in den Büchern sprechen sich schon auffällig oft mit Namen an ... ;) Trotzdem, mir gefällt's.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Vitelli,

oh, entschuldige. Ich war etwas in Eile, da ist mir das glatt durchgegangen, hatte nur die Sternchen geworfen. Deine Geschichte hat mir also gefallen.
Zum Inhalt: Ja, man fragt sich zunächst, in welcher Beziehung der Besucher zu dem alten Mann steht. Und immer deutlicher wird klar, dass der Alte sich auf das Sterben vorbereitet. Ich habe da so ganz spontan die Assoziation gehabt, der Besucher müsse Gott sein, der ihn zu sich holt. Dem Gruselfaktor von SilberneDelfine folgend könnte es aber auch ganz einfach der Sensenmann sein - oder aber ein böser Einbrecher, der ihn bedroht. Da hat der Leser die freie Wahl.
Auf jeden Fall funktioniert der Spannungsbogen und macht die Geschichte lesenswert.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vitelli,

das ist ein sehr gelungener Einstieg.
Bei der Kürze des Textes hat mich jetzt die Formatierung nicht wirklich gestört.
Der Monolog des Alten ist sehr eindringlich und gräbt sich beim Leser ein.

Ein paar Kleinigkeiten:

als wäre aus der Zeit gefallen
Fehlt hier nicht ein "es"?

Ich höre, dass jemand schwerfällig die Treppe emporgestiegen kommt.
Warum nicht einfach "emporsteigt"?

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Manfred
 
Zuletzt bearbeitet:
Edit: @SilberneDelfine: Die Guillemets wirken ungewohnt? Sind die nicht eher Standard? Hab grade mal ein paar Bücher durchgeblättert ..
Hallo Vitelli,

auf mich wirken sie in der LL ungewohnt :) das heißt nicht, dass ich es schlecht finde, sie einzusetzen. In Büchern sind sie irgendwie nicht so groß wie hier, da wirkt es etwas anders. Bei mir funktionieren sie nicht so ohne weiteres auf der Tastatur - ich schreibe auch meistens mit dem Handy.

Aber: Ich lese aktuell diverses von Cormac McCarthy und Kent Haruf, und die verzichten beide komplett auf Anführungszeichen -
Das finde ich allerdings furchtbar. Mir sind auch schon solche Bücher in die Hände gefallen, wo in der wörtlichen Rede komplett auf Anführungszeichen verzichtet wird, das war für mich ein Grund, kein Buch mehr von diesem Autor zu lesen.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Vitelli,

Schade… Deine Geschichte konnte ich nicht genau verstehen und sie liess mich etwas ratlos zurück. “Jemand” kommt in ein Zimmer (hat also die Schlüssel) Ich fragte mich: wer ist das? Es erscheint ein alter Mann, der seine Geschichte erzählt. Er scheint in seiner eigenen Wohnung zu sein (da ja auch sein Bild dort steht), fragt aber: darf ich mich setzen? Zum Schluss (---àIch wäre dann soweit. Ich möchte Sie nicht aufhalten.<<) fragte ich mich: wer ist denn nun dieser Besucher, der vor ihm in der Wohnung wartet?

Aus den Kommentaren heraus lese ich, dass es Gott, der Sensenmann, - oder aber ein böser Einbrecher, sein könnte.

Nun… man sagt ja immer so schön: Das kann sich der Leser selbst ausmalen – aber für mich funktioniert dieses “selbstausmalen” nur, wenn es keine logischen Widersprüche gibt. Wenn es tatsächlich der Sensemann sein soll, dann würde ich wenigstens die Anführungszeichen ganz weglassen. Denn so, siehts wirklich nach einem “normalen Dialog” aus. Ich experimentiere auch gern mit dem weglassen von Anführungszeichen. Eine meiner Lieblingsautorinnen (Zsuzsa Bánk) macht das in fast jedem Text so. Aber ich merke, dass man dazu den Text gut im Griff haben muss, damit es auch flüssig rüberkommt.

Das Wort “ficken” will mir nicht so ganz zu dem netten Opi und dem restlichen Sprachstil passen. :) Aber naja…

Deine Schreibweise gefällt mir sehr.

Liebe Grüsse,

Ji
 
Oh, da hast Du natürlich auch noch eine Variante genannt, liebe SilberneDelfine, die aber in Deutschland natürlich eine sehr kontroverse ist. Vielleicht hatte ich sie deshalb nicht bedacht.
Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Vitelli,

oh, entschuldige. Ich war etwas in Eile, da ist mir das glatt durchgegangen, hatte nur die Sternchen geworfen. Deine Geschichte hat mir also gefallen.
Zum Inhalt: Ja, man fragt sich zunächst, in welcher Beziehung der Besucher zu dem alten Mann steht. Und immer deutlicher wird klar, dass der Alte sich auf das Sterben vorbereitet. Ich habe da so ganz spontan die Assoziation gehabt, der Besucher müsse Gott sein, der ihn zu sich holt. Dem Gruselfaktor von SilberneDelfine folgend könnte es aber auch ganz einfach der Sensenmann sein - oder aber ein böser Einbrecher, der ihn bedroht. Da hat der Leser die freie Wahl.
Auf jeden Fall funktioniert der Spannungsbogen und macht die Geschichte lesenswert.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
Hallo Rainer, danke für dein aufschlussreiches Feedback.

Viele Grüße,
Vitelli
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Vitelli,

das ist ein sehr gelungener Einstieg.
Bei der Kürze des Textes hat mich jetzt die Formatierung nicht wirklich gestört.
Der Monolog des Alten ist sehr eindringlich und gräbt sich beim Leser ein.

Ein paar Kleinigkeiten:



Fehlt hier nicht ein "es"?



Warum nicht einfach "emporsteigt"?

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Manfred
Hallo Franke, auch dir lieben Dank. Und ja, du hast recht - mit beidem. Das "es" ist mir durchgegangen und "emporsteigt" liest sich flüssiger.
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Vitelli,
...
Das finde ich allerdings furchtbar. Mir sind auch schon solche Bücher in die Hände gefallen, wo in der wörtlichen Rede komplett auf Anführungszeichen verzichtet wird, das war für mich ein Grund, kein Buch mehr von diesem Autor zu lesen.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
Hallo. Tja, wie unterschiedlich man etwas wahrnehmen kann - ich finde das, wie gesagt, sehr angenehm.

Schönen Abend,
Vitelli
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Vitelli,

Schade… Deine Geschichte konnte ich nicht genau verstehen und sie liess mich etwas ratlos zurück. “Jemand” kommt in ein Zimmer (hat also die Schlüssel) Ich fragte mich: wer ist das? Es erscheint ein alter Mann, der seine Geschichte erzählt. Er scheint in seiner eigenen Wohnung zu sein (da ja auch sein Bild dort steht), fragt aber: darf ich mich setzen? Zum Schluss (---àIch wäre dann soweit. Ich möchte Sie nicht aufhalten.<<) fragte ich mich: wer ist denn nun dieser Besucher, der vor ihm in der Wohnung wartet?

Aus den Kommentaren heraus lese ich, dass es Gott, der Sensenmann, - oder aber ein böser Einbrecher, sein könnte.

Nun… man sagt ja immer so schön: Das kann sich der Leser selbst ausmalen – aber für mich funktioniert dieses “selbstausmalen” nur, wenn es keine logischen Widersprüche gibt. Wenn es tatsächlich der Sensemann sein soll, dann würde ich wenigstens die Anführungszeichen ganz weglassen. Denn so, siehts wirklich nach einem “normalen Dialog” aus. Ich experimentiere auch gern mit dem weglassen von Anführungszeichen. Eine meiner Lieblingsautorinnen (Zsuzsa Bánk) macht das in fast jedem Text so. Aber ich merke, dass man dazu den Text gut im Griff haben muss, damit es auch flüssig rüberkommt.

Das Wort “ficken” will mir nicht so ganz zu dem netten Opi und dem restlichen Sprachstil passen. :) Aber naja…

Deine Schreibweise gefällt mir sehr.

Liebe Grüsse,

Ji
Hallo Rina, ich freue mich über deine Kritik, kann sie nur, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen, sorry.

Es sieht nach einem "normalen Dialog" aus? Es spricht doch nur der alte Mann. Und "ficken"? Wo hast du das denn bitte gelesen?

Viele Grüße,
Vitelli


@all, es freut mich, dass ihr die Geschichte unterschiedlich lest - so hatte ich mir das gewünscht. Oder, wie Rainer es formuliert: der Spannungsbogen aufgeht.

P.S. Schaue mir mal an, wie man hier zitiert, damit ich demnächst besser auf eure Beiträge eingehen kann. Interessantes Forum!
 

Mimi

Mitglied
Hy, Vitelli,

mir fällt dein Schreibenstil als erstes angenehm positiv auf... die Geschichte lässt viel Raum für Interpretationen des Lesers, ich mag es wenn der Leser gefordert wird und von "ficken" habe ich auch nichts gelesen ( da hat JiRina sich bestimmt verlesen;))
Zusammengefasst: gute Kurzprosa mit nur kleinen Kritikpunkten.

Saludos
Mimi
 

Ji Rina

Mitglied
Upps....o_O Da habe ich etwas zweier Texte durcheinandergebracht....Zwei Texte die von einem einsamen Menschen in einem Zimmer und einem Foto handeln.
Der andere Text steht unter KG). Tut mir leid, ich war unterwegs und mit Handy.

Hallo Rina, ich freue mich über deine Kritik, kann sie nur, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen, sorry.

Es sieht nach einem "normalen Dialog" aus? Es spricht doch nur der alte Mann. Und "ficken"? Wo hast du das denn bitte gelesen?
Naja gut, mich nimmt die Geschichte halt nicht mit. Na und? Ist doch egal. Meine Gründe hatte ich ja bereits im vorigen Kommentar angegeben.
Liebe Grüsse,
Ji
 

Vitelli

Mitglied
Hy, Vitelli,

mir fällt dein Schreibenstil als erstes angenehm positiv auf... die Geschichte lässt viel Raum für Interpretationen des Lesers, ich mag es wenn der Leser gefordert wird und von "ficken" habe ich auch nichts gelesen ( da hat JiRina sich bestimmt verlesen;))
Zusammengefasst: gute Kurzprosa mit nur kleinen Kritikpunkten.

Saludos
Mimi
Hallo, Mimi.

Vielen Dank für dein nettes Feedback. :)

Viele Grüße,
Vitelli
 



 
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