Zu viel Hass und Härte

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Immer hatte ich „die Ausländer“, „die Flüchtlinge“ und wie sie noch genannt werden, verteidigt, wenn in meinem Umfeld abfällig über diese Personengruppen gesprochen wurde.
In meiner Familie ist das recht oft der Fall, dass man mit Widerworten an eine universelle Menschlichkeit appellieren muss.
„Die Ausländer sind zu laut in der Nachbarschaft, sind unverschämt, halten nur die Hand auf, um staatliche Gelder, Sozialleistungen abzugreifen, sind einfach zu viele schon, sind gefährlich, dumm, schlecht…“ sagen sie in meiner Familie gern.
Ihr Hass und die Härte der Welt gehen gut ineinander auf.
Mit Seitenblick auf mich sprechen sie entweder gehemmter - oder sie schwingen ihre Reden dann besonders explizit in einer herausfordernden „Na, was sagst du jetzt?“-Manier.
Oder sie schieben noch ein paar rassistische Witze hintennach, wobei ich, zugegeben, über die harmloseren schon auch mitlache. Wirklich gilt es in meiner Familie fast als Herausforderung, mich auf diese Weise zum Lachen zu bringen. Wenn *jemand wie ich* über *so* einen Witz lacht, gilt er ihnen als besonders gelungen.
Alles in allem wissen sie aber, dass ich ihre menschenverachtenden Sprüche nicht gern höre.

Bislang galt: Wenn sie die gewissen Sätze absonderten und ich saß mit am Tisch, habe ich oft versucht, mit guten Worten dagegenzuhalten:
Nein, es gibt keine schlechtere Spezies Mensch. Wir hier sind nicht besser. Was uns alle eint, ist wichtiger und gewichtiger als das, was uns trennt.
Die Menschen im Unten – also auch wir - hadern miteinander, weil sie von allem zu wenig abgekommen, weil die Welt ungerecht ist und weil das Leben nicht überall lebbar ist. Niemand flüchtet gern. Die meisten möchten dort, wo sie geboren werden, friedlich und gut leben können – geht aber oft nicht. Wird auch bei uns immer schwieriger. Im Grunde sitzen wir alle im selben Boot und sollten uns gemeinsam gegen diese ungerechte Welt wehren…

So sprach ich oft. Sprach über Fluchtursachen, Kriege, globale Verteilungsgerechtigkeit und ein zutiefst irrelaufendes Weltsystem.
Und ich zählte Positives auf: Schau an, neulich habe ich mit nett mit ein paar Syrern unterhalten. Einem Ägypter. Der Nachbar mit dem fremdländischen Nachnamen trägt von sich aus der Oma die Einkäufe in den dritten Stock. Am Spielplatz sitzen die Kopftuchmamas und die barhäuptigen Mütter fröhlich nebeneinander und bauen Sandburgen mit ihren Kindern…
Will sagen: Sieh doch, es funktioniert das große Miteinander trotz aller Widrigkeiten.
Wir alle sind Eltern, die gern mit ihren Kindern spielen. Wir sind Menschen, die kommunizieren, die Zuwendung brauchen und hie und da ein bisschen plaudern, sich helfen.
Wir müssen uns darauf konzentrieren und die äußeren Widrigkeiten bekämpfen, nicht einander.

Vermutlich interessiert das den Leser nicht, aber die letzten Wochen waren sehr kräftezehrend für mich und die Meinen.
Ein Todesfall, das heißt: emotionales Grenzwandeln, Begräbnis organisieren, viel mit der Familie beisammensitzen, Wohnung ausräumen, Hinterlassenschaft regeln, Termine, Formulare, Telefonate.
Hinzu kommt, dass in der Welt da draußen auch schon wieder einiges passiert ist. Die Zeitungen sind grad voll mit „Messerangriff hier“ und Ausländer, Flüchtlinge als Täter, „Bösewichte“ eben.
Ich bin müde und habe der Welt nicht mehr viel entgegenzusetzen.
Schöne Worte und Zweckoptimismus reichen auch gar nicht mehr, um das irregelaufene Weltsystem auszugleichen.

Wenn ich am Familientisch widerspreche, haben sie nun haufenweise Fakten zur Hand, die ihre Weltsicht stützen und sogar in den Zeitungen stehen – und ich habe nur eine Utopie, die immer ferner scheint.
Schon vollends haben sich die Gesellschaften von der Idee verabschiedet, diese Welt könne eine gute, lebenswerte für alle sein.
Dass es systembedingt Armut und Elend in den verschiedenen Abstufungen gibt, nimmt man scheinbar nur noch hin und nur noch stellt man sich die Frage, ob man die Flüchtlinge, welche das System produziert, an der Grenze abfangen oder aufnehmen soll; ob man sich vielleicht nur die „Nützlichen“ rauspicken sollte, ob die Betroffenen eine Rettung überhaupt „verdient“ hätten oder ob die paar, die wir aufnehmen, überhaupt einen Unterschied machen angesichts der schieren Masse derer, die eine Flucht gar nicht erst schaffen.

Wohl bin ich nach wie vor überzeugt, dass meine Worte wahr sind:
Nein, es gibt keine schlechtere Spezies Mensch. Wir hier sind nicht besser. Was uns alle eint, ist wichtiger und gewichtiger als das, was uns trennt. Die Menschen im Unten hadern miteinander, weil sie von allem zu wenig abgekommen, weil die Welt ungerecht ist und das Leben nicht überall lebbar ist. Niemand flüchtet gern. Die meisten möchten dort, wo sie geboren werden, friedlich und gut leben können – geht aber oft nicht. Im Grunde sitzen wir alle im selben Boot und sollten uns gemeinsam gegen diese ungerechte Welt, die sukzessive ungerechter wird, wehren.

Aber ich weiß: Worte allein überzeugen nicht.
Als Worte stehen diese Wahrheiten verloren in der Welt herum und sehen sich umzingelt von anderen, ungünstigen Umständen und Begebenheiten, welche zu widersprechen scheinen.
In diesem Unten sammeln sich einfach schon zu viele Menschen auf zu engem Raum und rangeln miteinander um das Wenige, das zu wenig ist. Da ist gemeinhin kein Platz mehr für gute Gedanken. Man muss schauen, dass man selber nicht untergeht.
Die Welt ist zu ungerecht, die Umstände sind zu ungünstig geworden, als dass man sich mit ein bisschen Freundlichkeit und gutem Willen im Einzelfall darüber hinwegretten könnte.
Das gelebte Weltsystem fördert vor allem das aus den Menschen zutage: Hass und Härte.
Unter schlechten Umständen verhalten sich die Menschen schlecht: Das gilt für meine Familie wie für irgendwelche Messerstecher, Terroristen. Es ist Krieg auf allen Ebenen.

Also nein, ich habe nichts mehr gesagt, als wir alle am Samstag auf diesem Flohmarkt waren.
In diesem Festzelt, das noch von einem niederbayrischen Volksfest übrig war. Dort wurde allerlei verkauft. Bücher, Nippes, Bekleidung, Spielzeug, Möbel sogar. Im Zelt war es heiß und stickig, es wurde gefeilscht.
Vor dem Zelt saß man auf Bierbänken beisammen, aß Bratwürste oder Kuchen, trank Bier aus Maßkrügen (zu Erinnerung: Niederbayern) und zeigte sich gegenseitig die Schnäppchen, die man gemacht hatte.
Unweit von unserem Tisch saß eine Gruppe dunkelhäutiger Menschen, die sich angeregt und, ja, lautstark unterhielten. Ja, sie waren laut und sie waren viele. Worüber sie sprachen, ob sie Streit hatten oder nur lebhaft diskutierten, vermag ich nicht zu sagen. Ich verstand ihre Sprache nicht. Vermutlich ein afrikanischer Dialekt.
„So ein Gfrast“ ätzte jemand von meiner bayrischen Verwandtschaft.
„Wenn ich die schon sehe… gehören nicht hierher…kann man sich nicht mal mehr auf die Straße trauen…. dann stechen sie dich mit dem Messer ab…kriegen auch noch alles in den Arsch geschoben vom Staat…“ hörte ich die Leute von meinem Tisch lästern.
Ich habe nur noch den Kopf gesenkt.
Ja, mag sein, es gibt zu viele Geflüchtete, auch hier, in dieser bayrischen Kleinstadt, weil zu viele Menschen flüchten müssen, eh schon wissen, irregelaufenes Weltsystem, und die hiesigen Kapazitäten sind überlastet. Den Menschen, den Gesellschaften kann man nicht ewig weiter was aufbürden, kann man nicht alle in diesem Unten so eng zusammenpferchen, dann gibt es eben diese Konflikte und Disharmonie.
Die Menschen sind müde und ausgelaugt – und ich war es auch.
Zu viel Gerangel um das Flohmarktzeug im stickigen Zelt, zu wenig freie Tische hier draußen.
Zu müde, um matte Geschichten zu erzählen, die weismachen wollen, wir im Kleinen könnten uns schon irgendwie gut arrangieren, allen Widrigkeiten zum Trotz. Nur noch Widrigkeiten überall.
Ich habe an meiner Limo genuckelt und gehofft, dass die Afrikaner leiser würden oder sich zum Gehen entschließen, aber wollten sie nicht.
Ich glaube, sie haben die wütenden, abfälligen Blicke und Bemerkungen, die von unserem Tisch ausgingen, noch nicht mal registriert - so sehr mit sich selbst beschäftigt waren sie.
Wir sind dann gegangen.

Tags darauf, Geburtstagsfeier im Familienkreis.
Die Gäste sitzen in meiner Küche, in der nicht recht Platz ist für Viele, sodass man sich um den ausgezogenen Küchentisch relativ eng zusammendrängen muss. Wir sind keine Familie mit Vorzeigehäusern, die so großzügig gebaut sind, dass man ein eigenes Esszimmer hätte. Aber es gibt Torte mit Beeren-Mascarpone-Creme, die ich gebacken und auf den festlich gedeckten Tisch gestellt habe. Kaffee ist serviert.
„Ja, die Ausländer…“ muss jemand grad wieder anfangen.
„Die Ausländer verschmutzen alles“, „Die Ausländer trennen den Müll nicht“ „sind einfach unmöglich“, „dreckig“, „fies“ usw. macht ein anderer seinem Ärger Luft, gut hörbar vor allen Gästen.
Ich atme schwer ein, aber schon wieder nicht finde ich die Kraft für Widerworte.
Ich senke den Kopf und ich schaffe es nicht, mich vom Gesagten zu distanzieren, abzugrenzen. Ich will eigentlich nicht jemand sein, der an dieser Stelle schweigt, denn wer schweigt, stimmt zu.
Ich möchte gern ringsum signalisieren: Seht her, das kann man auch anders sehen. Ich sehe das anders. Ich bin nicht so, so muss man nicht sein. Es gibt keine schlechtere Spezies Mensch.
Aber geht irgendwie nicht.
Und das, obwohl Leute mit am Tisch sitzen, die mich noch nicht so gut kennen und vor denen ich mich erst noch profilieren müsste: Egal, sollen sie halt denken, ich wäre auch so.
Keine Kraft für Worte, die sowieso keine Kraft mehr haben.
Nicht schon wieder eine Diskussion anfangen.
Gab zuletzt auch eh schon so viel Diskussionen wegen jeder Kleinigkeit, wegen Organisatorischem, Kleinkram, nicht schon wieder streiten, denk ich mir.
Nippe an meiner Kaffeetasse und versuche, ein anderes Thema aufzumachen.
„Möchte jemand noch ein Stück Torte?“
Zu viel Hass und Härte in der Welt, um mich herum, dagegen komme ich nicht mehr an.

03. 09. 2024​
 
Der lange Text leidet an einem Übermaß an Emotionalität und auch an Selbstmitleid. Er ist auf seine Art ebenso unfifferenziert wie die ressentimentgeladene Umgebung, auf die er reagiert. Tut mir wirklich leid, dass ich so hart urteilen muss - aber wem ist mit so großer Ausbreitung eigenen Schmerzes in diesem Zusammenhang gedient? Doch nur dem eigenen Ego und dessen Entlastung.

Im Übrigen würde der Text als veröffentlichter Tagebucheintrag deutlich stärker wirken, wenn er sehr viel kürzer und prägnanter wäre, zugespitzt auf einige wenige Kernaussagen und beschränkt auf eine Auswahl besonders drastischer Situationen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Michael Kempa

Mitglied
Ein Übermaß an Emotionen? Erdling beschreibt gerade, wie er seine Emotionen unterdrücken muss, um in seiner Umwelt bestehen zu können.
Dafür ist der Text extrem kurz.
Warum so hart urteilen? Weil Härte gerade gefragt ist?
Wem ist mit dieser Geschichte gedient? Tja...
Wem soll sie denn dienen? Und wenn eine Emotion oder ein Gedanke gerade nicht so passt, dann muss der Nagel halt platt ins Holz geklopft werden. So lange, bis alles glatt ist.
Sollen wir uns auf besonders drastische Situationen beschränken? Kein Problem! Im Handumdrehen kann Blut fließen, Bomben explodieren, Menschen verhungern. Es geht halt auch anders: Subtil, zart und beschreibend. Darum finde ich diesen Beitrag hervorragend!
Grüßle aus dem tiefsten Schwarzwald,
Michael
 

anbas

Mitglied
Hi,

inhaltlich gefällt mir der Text. Mir geht es ähnlich - zumal ich immer mehr zu der Überzeugung komme, dass Zahlen und Fakten hier nicht weiterhelfen. Im schlimmsten Fall werden die Quellen, aus denen man seine Informationen hat, als Fake, Lügenpresse, staatlich gesteuert usw. dargestellt. Auch gibt es inzwischen immer irgendwo eine Quelle, die genau den anderen Standpunkt untermauert.

Auch ich schweige zu oft. Bei den letzten Demos gegen rechts ist mir dann aber klargeworden, dass man so zwar keine Meinungen ändert aber Zeichen setzt Außerdem kann es einem selber guttun. Zum einen zeigt man Flagge, zum anderen sieht man, dass man eben nicht alleine ist.

Ich versuche daher meine Aufmerksamkeit auf Berichte zu lenken, in denen z.B. über erfolgreiche Projekte der Integration berichtet werden und beteilige mich an Kampagnen, in denen man Aufrufe, Petitionen usw. unterschreiben kann (z.B. von Campact). Das genügt zwar nicht den Ansprüchen, die ich an mich selber habe, doch ich bin zumindest nicht ganz tatenlos.

Diskussionen, in denen ich mich entweder 36 Stunden am Tag :) mit Zeitungsartikeln, Fachliteratur usw. herumschlagen muss, oder entsprechenden Diskussionsveranstaltungen (live oder in den Medien (auch hier in der LL)) entziehe ich mich weitgehend. Ich weiß, dass ich damit angreifbar bin. Mit dieser Haltung können "Kampfdiskutierer" schlecht umgehen. Wir leben schließlich in einer Zeit, in der vor allem Fachleute, Fakten und Fake die Auseinandersetzungen bestimmen. Im Grunde bin ich aber davon überzeugt, dass es in vielen dieser Diskussionen um tief liegende Werte und Ideale geht (z.B. Menschenbild, Vorstellung einer sozialen Gesellschaft usw.), und die lassen sich - zumindest bei mir - nicht durch irgendwelche Statistiken, Fachaufsätze, Untersuchungen usw. verändern. Da neige ich genau zu dem, was "die andere Seite" auch tut: Ich vertraue den Quellen, die meine Ansichten unterstützen.

Von der Form her ist mir der Text etwas zu lang. Ich wollte ihn daher zunächst gar nicht lesen, hab mich dann aber doch dazu "überwunden" ;).

Anflüge von Selbstmitleid sehe hier übrigens nicht. Es ist ein emotionaler, resignierender Text, der durchaus seine Berechtigung hat.

Danke für diesen Text, zu dem ich nun viel mehr geschrieben habe, als ich wollte (und für den ich sicherlich von dem einen oder der anderen heftig Haue bekomme :D).

Liebe Grüße

Andreas
 
Der Kommentar von anbas weist genau das auf, das mich schon an Dichter Erdlings Text gestört hatte. Beide Male geht es primär um subjektive Befindlichkeit. Es wird hier besonders deutlich:

Auch ich schweige zu oft. Bei den letzten Demos gegen rechts ist mir dann aber klargeworden, dass man so zwar keine Meinungen ändert aber Zeichen setzt Außerdem kann es einem selber guttun. Zum einen zeigt man Flagge, zum anderen sieht man, dass man eben nicht alleine ist.
Das sind die üblichen Floskeln, mit denen man sich selbst etwas vormacht. Es ist eine Art Selbstbetrug, eine politisierte deutsche Innerlichkeit. Sie verhilft dazu, unsere umfassende gesellschaftliche Krise nicht in den Blick nehmen zu müssen.

Wie anbas lebe auch ich in einer deutschen Millionenstadt und ich verschließe die Augen nicht. Ich erkenne, wie sehr sich die allgemeinen Lebensbedingungen für die breiten Schichten der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren verschlechtert haben - z.B. in den Schulen (ich wohne gleich neben einer und erlebe den Schulalltag mit seinen Ausfällen fast hautnah mit), in den überfüllten Arztpraxen, wo Abwimmeln Standard geworden ist, im öffentlichen Nah- und Fernverkehr (heruntergewirtschaftet und dem Andrang nicht mehr gewachsen), auf dem Wohnungsmarkt, wo die Knappheit alle Hemmungen beseitigt und wir Richtung schlimmstes 19. Jahrhundert unterwegs sind (überfüllte Mietskasernen, hoch verdichtete "Gängeviertel") ...

Gewiss hängt alles mit allem zusammen: eine total verfehlte Außenpolitik - und hier war ich oft mit Dichter Erdling einer Meinung - hat zur Folge eine schon rein quantitativ nicht mehr zu bewältigende Massenimmigration. Nie lebten auf deutschem Boden so viele Menschen - und gleichzeitig gehen uns bei dadurch erhöhtem Arbeitsvolumen nicht nur die Facharbeiter aus, und das wird bei sinkendem Bildungsniveau auch nicht besser werden. Wir sind ökonomisch eindeutig im Abstieg begriffen und haben die Kombination von Deindustrialisierung und zu versorgender neuer breiter Unterschicht zugelassen.

anbas empfehle ich ein Experiment. Er kann mal versuchen, sich als Neupatient über doctolib oder ein anderes Portal einen Hausarzttermin z.B. in Dessau oder einer ähnlichen ostdeutschen Stadt zu organisieren - viel Spaß. Die soziale Misere ist in der Provinz ebenso angekommen wie in den Metropolen. Gegen den Ärztemangel haben die Omas gegen Rechts noch kein Mittel gefunden. Aber genau hier, im konkreten Alltag der Menschen. liegen die Wurzeln der Ressentiments. Sie äußern sich oft angreifbar, manchmal unentschuldbar, aber es ist trotzdem das Sein, dem das Bewußtsein folgt.

Ob einer in Hamburg oder Berlin ein Zeichen setzt und sich nicht allein fühlt, spielt anderswo in den Wahlkabinen keine Rolle. Das ganze Elend dieser Blindheit wird auch hier deutlich:

Im Grunde bin ich aber davon überzeugt, dass es in vielen dieser Diskussionen um tief liegende Werte und Ideale geht (z.B. Menschenbild, Vorstellung einer sozialen Gesellschaft usw.), und die lassen sich - zumindest bei mir - nicht durch irgendwelche Statistiken, Fachaufsätze, Untersuchungen usw. verändern. Da neige ich genau zu dem, was "die andere Seite" auch tut: Ich vertraue den Quellen, die meine Ansichten unterstützen.
Das ist eben die gute alte deutsche Innerlichkeit. Auf gut Deutsch: Man will sich nicht belehren lassen und fühlt sich wohl dabei. Oder man fühlt sich später doch unwohl und verfasst daraufhin gefühlvoll-weinerliche Texte über das Misslingen einer fruchtbaren Kommunikation.
 
Hallo Arno Abendschön!

Ich merke, irgendwas an meinem Text triggert dich.
Ich weiß nur nicht, was, denn deinen Ausführungen kann ich nur zustimmen – und mein Text steht auch gar nicht im Widerstreit zu dem, was du sagst.

Einige Passagen als Beispiel:

Die Menschen im Unten – also auch wir - hadern miteinander, weil sie von allem zu wenig abgekommen, weil die Welt ungerecht ist.

(…)

Im Grunde sitzen wir alle im selben Boot und sollten uns gemeinsam gegen diese ungerechte Welt wehren.

(…)

Schöne Worte und Zweckoptimismus reichen auch gar nicht mehr, um das irregelaufene Weltsystem auszugleichen.

(…)

Worte allein überzeugen nicht.
Als Worte stehen diese Wahrheiten verloren in der Welt herum und sehen sich umzingelt von anderen, ungünstigen Umständen und Begebenheiten, welche zu widersprechen scheinen.
In diesem Unten sammeln sich einfach schon zu viele Menschen auf zu engem Raum und rangeln miteinander um das Wenige, das zu wenig ist. Da ist gemeinhin kein Platz mehr für gute Gedanken. Man muss schauen, dass man selber nicht untergeht.
Die Welt ist zu ungerecht, die Umstände sind zu ungünstig geworden, als dass man sich mit ein bisschen Freundlichkeit und gutem Willen im Einzelfall darüber hinwegretten könnte.


Ich weiß sehr gut, wie es im Unten aussieht.
Von dort komme ich, dort bin ich verwurzelt.
Bildungsmäßig habe ich einen Aufstieg geschafft – geldmäßig eher nicht.
So wandle ich zwischen den Welten und gehöre nirgendwo richtig dazu.
Aber das ist schon okay für mich. Ich sehe das als Gewinn. So kann ich von hier nach da vermitteln, zum Beispiel beim Schreiben und bin da wie dort ein bisschen „zuhause“.

Manchmal treten aber auch Differenzen zutage, die problematisch sind.
So ist meine Familie teilweise offen ausländerfeindlich und ich bin eben immer die gewesen, die hier „anders“ ist.
Das heißt nicht, dass ich Massenmigration toll finde – zum Unterschied zu den meisten in meiner Familie laste ich das aber nicht den Flüchtenden an oder sehe in diesen die „schlechtere Spezies Mensch“.
Das ist der Punkt, der uns unterscheidet. Ich meine, es ist ein gravierender Punkt.
Und immer habe ich widersprochen, wenn jemand davon anfing, über „die“ zu schimpfen; letztens allerdings nicht mehr, aus den besprochenen Gründen – und weil es vielleicht auch gar keinen Unterschied macht. Weil es eben schon zu schlimm steht mit allem. Weil in diesem Unten kein Raum mehr ist für eingeschobene zwischenmenschliche Freundlichkeit; nur noch äußere Widrigkeiten, Enge.

Zum Einwurf der „Weinerlichkeit“ etc.:
So wie ich es empfinde und erlebe, schreibe ich es auf, vor allem, wenn ich meine, dass mein Erleben/Empfinden eine allgemeine Relevanz haben könnte.
NICHT subjektive Befindlichkeit steht bei mir im Zentrum, sondern eben ein Größeres. Befindlichkeitsliteratur haben wir schon zur Genüge, das meine ich auch.

Aber ja, ein bisschen Selbsttherapie ist bei meinem Schreiben oft auch mit dabei, oder sagen wir, ich versuche, mir schreibend die Welt und meine Gedanken zu ordnen.
Will mich nicht von meinen Idealen entfremden lassen, mir treu bleiben, mich im Trubel der Zeit nicht verlieren.

Mit diesen Gedanken hoffe ich, dich wieder ein bisschen versöhnlicher zu stimmen und danke dir jedenfalls fürs Lesen und Diskutieren.

Liebe Grüße von Erdling
 
An die übrigen Kommentatoren, die zugewandter reagiert und sogar reichlich Sterne spendiert haben: Vielen Dank dafür!

Danke an anbas, an Michael Kempa und an hans beislschmidt aus dem „Off“.

Rundumgrüße auch an die „stillen“ Leser
 
Geschätzte Erdling,

ich bin wohl nicht der Einzige, der von deinem Text in Schwingungen versetzt wurde. In #4 fällt bezeichnenderweise das Stichwort "campact". (Sieh dir mal an, wie die sich im Ukraine-Krieg von Anfang an positioniert haben.) Einige andere Passagen dort im Kommentar könnten dir auch die Ohren klingeln lassen, z.B.:

Im schlimmsten Fall werden die Quellen, aus denen man seine Informationen hat, als Fake, Lügenpresse, staatlich gesteuert usw. dargestellt.
Und dann weiter unten der Bezug auf Werte und Ideale - das ist so auch die Argumentationslinie für die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Fortsetzung des Krieges. Gerade wer selbst, wie du oft, entschieden andere Positionen vertreten und auf den Zusammenhang zwischen kriegerischer Außenpolitik und Folgen für uns hingewiesen hat, könnte jetzt nachdenklich werden: Beifall von welcher Seite?

Selbstverständlich ist die Thematisierung deiner Situation im Tagebuch hier an sich ohne weiteres möglich. Textkritisch habe ich mich ja schon geäußert: zu lang, zu wenig prägnant. Mag sein, dass das zum Teil auch Geschmacksfrage ist.

Ja, "getriggert" ist richtig. Ich sehe in deinem Text eine Art Privatisierung großer sozialer Probleme, die Verlagerung eines allgemeinen Problems auf die Ebene individueller Kommunikation. Und so etwas ärgert mich tatsächlich mächtig.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Lieber Arno Abendschön,

mein Text ist ein Bericht aus diesem Unten, von dem wir die ganze Zeit sprechen.
Das ist oft ziemlich weit weg von den Radiosprechern und Artikelschreibern, die „Freundinnenschaft“ sagen (grade erst gehört) oder „Fan:in“ hinschreiben und sowas ernst meinen.
In diesem Unten, aus dem ich komme, lacht man sich über sowas nur kaputt und sie fragen: „Wie nennt man einen Schwulen, der brennt? – LGBBQ, haha.“
Die Radiosprecherin, die grad „Freundinnenschaft“ gesagt hat (eine Literaturfachfrau) kenne ich wiederum persönlich, weil u.a. sie es war, die meine erste Veröffentlichung möglich gemacht und mir einen Preis überreicht hat (war ein öffentlich ausgeschriebener Wettbewerb).
Das illustriert sehr gut, wie weit die Stühle auseinanderstehen, zwischen denen ich sitze.

Schön sprechen und sich kooperativ, friedlich verhalten, nur ja nicht „die Falschen“ wählen – darum geht es diesen Leuten sehr oft, die vom Unten nur wenig Ahnung haben.
Berichte wie der hier besprochene könnten, sollten das von dort nach da ein wenig aufbrechen. Das finde ich wichtig.

Die Conclusio aus meinem Bericht ist dann auch: Den Leuten im Unten ist es schon so eng, dass es dort nicht mehr lange friedlich bleiben kann, da hilft es nichts mehr, an allgemeine Menschenfreundlichkeit zu appellieren.
Die Umstände müssen sich ändern!
Schönsprech und Lieb-sein-Attitüden allein helfen nicht.
Ich finde, das ist exakt das Gegenteil davon, gesamtgesellschaftliche Probleme zu individualisieren, wie du moniert hast.

Schon der Titel sagt es aus: Da ist zu viel Härte in der Welt. Härte führt zu Hass.
„Ihr Hass und die Härte der Welt gehen gut ineinander auf“ schreibe ich gleich im ersten Absatz.

In meinem anderen, kürzlich geposteten Beitrag „Sense & Sensibility, Gefühl vs. Vernunft“ steht auch demgemäß zu lesen:

„Was wir heute fühlen sollen, ist selten konstruktiv.
Es gibt kaum noch beworbene Fakten, welche uns Großmut, Völkerverständigung oder das Friedliche nahelegen. Wir sollen anderes fühlen.“

Will sagen: Die äußeren Umstände sind so gestaltet, dass fast nur Negativgefühle wachsen können.
Die Umstände sollten, könnten, müssten andere sein!
Alles andere ist Symptombekämpfung.

Auf Reizwörter wie „Lügenpresse“ oder „Fake News“ (oder „Campact“) habe ich übrigens bewusst nicht reagiert.
Bin grad, wie gesagt, ein wenig kraftlos und will mich lieber freuen, wenn ein Leser etwas aus meinen Texten mitnimmt, wenn sich gemeinsame Ebenen auftun - anstatt auf Punkt und Komma alles auszudiskutieren.

Alles Liebe von

Erdling
 
Gut denn, liebe Erdling-Frau,

gehen wir mal davon aus, dass ich deinen Text möglicherweise missverstanden habe. (Andere vielleicht auch?) Gegen seine von dir beabsichtigte Zielrichtung, so wie jetzt skizziert, habe ich keinerlei Einwände. Wie sollte ich - ich lebe hier am Rand eines Ostberliner Plattenbauviertels (wenn auch nicht selbst im Plattenbau) und erlebe die von uns beiden thematisierten negativen Veränderungen ja selbst in meiner direkten Umgebung. Die Randbezirke hier im Osten werden seit etwa zehn Jahren geflutet mit Armen, Kinderreichen, Unterstützungsbedürftigen. Das sind nicht nur Migranten, auch Verdrängte aus den zu teuer gewordenen zentraleren Vierteln. Dort konzentrieren sich jetzt jene, die groß im Verdrängen sind, in mehrfacher Hinsicht. Es waren und sind auch die Wortführer in den Krisen und Kriegen der Gegenwart. Die, die nicht zu Wort kommen, äußern sich dann an der Wahlurne. Rangfolge der Parteien z.B. bei der Europawahl im Bezirk Lichtenberg (gut 300.000 Einwohner): 1. AfD (17,5%), 2. BSW (15,2), die anderen mit Abstand dahinter.

Diese Klassenkampfsituation spiegelt sich auch in der extrem ungleichen Arztverteilung über die Stadt wider. (In Hamburg ist es genauso.) Die von mir besuchte Arztpraxis (ein kleineres Medizinisches Versorgungszentrum) hatte schon vor 2022 reichlich zu tun (gut 2000 Stammpatienten). Bald nach Einsetzen der Flüchtlingswelle aus der Ukraine hatten sie den grandiosen Einfall, sich diesem Personenkreis speziell anzubieten. Die Praxis erschien in Zeitungsanzeigen als eine von mehreren Dutzend geeigneten Anlaufstellen. Sie sorgten sogar für eine Ukrainisch sprechende Kraft am Tresen. Ergebnis: Im Jahr darauf war das gesamte bewährte Team der nichtärztlichen Angestellten verschwunden, hatten wohl alle gekündigt und wurden mehr schlecht als recht durch andere ersetzt. In dieser Zeit fand ich im Internet eine interessante Replik des leitenden Arztes dieses Instituts auf eine sehr negative Patientenrezension bei Google. Der Arzt schrieb ganz brutal, sie müssten bis zu einem Drittel ihrer Patienten loswerden. Wörtlich: "Sonst halte ich es auch nicht mehr aus."

So sieht die alltägliche soziale Realität hier aus. Vielleicht hast du ein wenig Verständnis dafür, dass mir manchmal die Bratkartoffeln hochkommen. Und ich gebe mir schon Mühe, meine Meinung nicht allzu drastisch zu formulieren (Netiquette!).

Liebe Grüße
Arno Abendschön
 
Lieber Arno Abendschön,

gerade dich habe ich als jemanden kennen- und schätzen gelernt, der beim Diskutieren fair und freundlich bleibt, selbst wenn die Wogen hoch gehen. Wegen einer Netiquette brauchst du, meine ich, kein schlechtes Gewissen haben.
Das passt schon.

Liebe Grüße nochmal,

Erdling
 



 
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