Zucker

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Val Sidal

Mitglied
@Plejadus

Hinweise zu einem guten Text sollten doch genauer begründet werden – das möchte ich hier auch tun.

Du sagst: „bzw. dessen Flachheit vermag ich zumindest teilweise nachzuvollziehen. Ein wenig gilt hier aber auch der Verweis auf die Gratwanderung zwischen Auserklären und Reduktion einer letztlich doch gestalterisch recht komprimiert angelegten KG.“ – ich stimme dem zu, weil mir ein lakonischer Stil durchaus zusagt.
Sie steht genau neben dem Streuer. Aber sie lässt mich mehr als kalt
– „die Vase mit den authentischen PVC-Blumen begeistern“ lässt den Prot. kalt – nicht aber die ungebührliche, beinahe übergriffige und unerträgliche Nähe zum Streuer; sie übernimmt die Kontrolle und zwingt den Prot, zur Intervention:
stets schiebe ich sie so weit weg, wie es mir möglich ist, ans andere Tischende.
– der emotionale Gehalt der Situation, die Verteidigung des angebeteten Streuers gegen die Zudringlichkeit der Vase – eine herrlich ironisch-tragikomische Situation, in der der Prot. sich vergegenständlicht und sich auf die Existenzebene der Einrichtung herabsteigt – doch die Krise kommt nicht rüber, und die Chance, dieses Drama (lakonisch) erlebbar zu machen, wird nicht genutzt. .

Einmal in Fahrt, übernimmt das innere Monster die Steuer und spinnt dunkle Absichten
Gern würfe ich sie diesem Mittdreißiger und Caféinhaber an den Schädel, einem brillentragenden Schleimbeutel mit, worauf ich wette, BWL-Vergangenheit. Oft stelle ich mir vor, wie er im Hinterzimmer vor seiner gelangweilten Belegschaft herum doziert;
-- die Wut steigt, aber der Text humpelt und stottert.
Sachen wie:

'Ich bin der festen Ansicht, dass wir davon absehen können, Investitionen in das Interieur zu tätigen. Das macht nach wie vor einen guten Job.
' -- verschleppt das Tempo, ohne dem Prot,, dem Plot oder der Atmosphäre etwas Werthaltiges hinzuzufügen.

Dann der Wendepunkt – das auslösende Ereignis der Krise:
Gestern trug sich etwas zu, das mich davon ferngehalten hat, heute mein Café zu besuchen. Und ich fürchte, dass ich auch nicht morgen und übermorgen und jemals wiederkehren werde.
Ich trank meinen Kaffee, hatte bereits den Baum gekerbt und untersuchte die Tischdecke auf Gewebsverschleißspuren, als die Bedienung kam, 'Ich darf doch?' mehr sagte als fragte und im Begriff war, mir den Zuckerstreuer abzuräumen
– einen Aspekt der Problematik sehe ich darin, dass „die Bedienung“ zu spät und aus dem Nichts auftaucht. So kann es nicht gelingen, die Wucht der Auflösung mit der innenwohnenden Energie zu entfalten. Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, dass „die Bedienung“ im ersten Teil bereits erscheint, gewissermaßen wie ein Teil der Einrichtung.

Das Ende mit dem hermetischen Ausklang – besser vorbereitet – würde in Murakami-Manier auf die in der Geschichte oszillierenden Denk- und Erlebnisoptionen hinweisen, die jenseits der Unmittelbarkeit der gegenständlichen Realität durchschimmern. So würde ich es lösen:

[blue]"Das ist nur die halbe Wahrheit", sagte ich, worauf sie mir hart den Streuer entwand: "Das ist mir bekannt, mein Herr“, und leicht übergebeugt entgegnete sie: „die andere Hälfte habe ich."

Es waren nicht ihre Worte, nicht nur. Es war das Gesicht, das zu mir sprach, der Blick, der in mich drang. Er ist in mir.

Er kerbt mir mein Hirn.
[/blue]
Wenn meine Argumente dem Text nicht gerecht wurden, dann – Pardon.
 

Lord Nelson

Mitglied
Hi Val Sidal,

gerne habe ich deine Verbesserungsvorschläge und auch die treffenden Erläuterungen zu der wunderbaren Kurzgeschichte gelesen. An einer Stelle aber schießt du imho übers Ziel hinaus:

"Das ist nur die halbe Wahrheit", sagte ich, worauf sie mir hart den Streuer entwand: "Das ist mir bekannt, mein Herr“, [red]und leicht übergebeugt entgegnete sie[/red]: „die andere Hälfte habe ich."
Während du zuvor das "entgegnete sie" vor dem "Das ist mir bekannt" zu Recht moniertest, setzt du es nun zwischen die beiden Sätze einer direkten Rede. Nachdem sie ja unmittelbar zuvor selbst gesprochen hat, ist das Vokabel "entgegnete" hier fehl am Platz. Wenn überhaupt, dann müsste es heißen "setzte sie hinzu" oder "fuhr sie fort".

Mit der leicht übergebeugten Körperhaltung kann ich persönlich wenig anfangen. Es kommt für mich so rüber, als beuge sie sich erst nach dem ersten von ihr gesprochenen Satz über - das irritiert mich. Was genau sollte das "leicht übergebeugt" dem Leser signalisieren?

Lord Nelson,
etwas ratlos
 

Val Sidal

Mitglied
@Lord Nelson

dein Einwand ist berechtigt.

Mein Vorschlag zur Änderung der Satzstruktur verfolgte das Ziel, das Tempo und Timing des Textes so zu gestalten, dass der Leser der Szene näher kommen kann, um mit einer Großaufnahme der "Bedienung". emotional stärker einbezogen zu werden.

So könnte der von dir zurecht aufgezeigte Mangel behoben werden:

[blue]"Das ist nur die halbe Wahrheit", sagte ich, worauf sie mir hart den Streuer entwand: "Das ist mir bekannt, mein Herr“, entgegnete sie leicht übergebeugt: „die andere Hälfte habe ich."[/blue]

Deine Ersatzvorschläge für "leicht übergebeugt" würden in ihrer Rationalität und überflüssigen (Nach-)Vollziehbakrkeit die Atmosphäre der hermetischen Situation beeinträchtigen. Im Ausklang der Gschichte spielt sich zwischen den Beiden etwas ab, was -- zumindest für den Prot. -- einschneidend wirkt und sein Leben verändert, doch dem Leser nicht unmittelbar zugänglich gemacht wird.
Ich finde, "leicht übergebeugt" funktioniert in jeder Hinsicht. Dennoch: Es ist Sache des Autors.
 

Lord Nelson

Mitglied
Deine Ersatzvorschläge für "leicht übergebeugt" würden in ihrer Rationalität und überflüssigen (Nach-)Vollziehbakrkeit die Atmosphäre der hermetischen Situation beeinträchtigen.
Ich hatte gar keine Ersatzvorschläge.

Verstehe ich dich also richtig, dass das "leicht übergebeugt" den Eindruck einer gewissen Intimität zwischen den Protagonisten erzeugen soll? Ich hatte mit dieser Formulierung eher einen Haltungsschaden der Dame, wenn nicht gar Gebrechlichkeit assoziiert - mein persönlicher Eindruck, eben.
 

Plejadus

Mitglied
Habe ich ValS korrekt verstanden, möchte er mit der Ergänzung eine Eindringlichkeit implementieren, nämlich, dass sich die Bedienung in einer vertraulichen/wissenden Form dem Prot nähert, um ihm die Entgegnung zu eröffnen.
Wie auch immer man einen solchen Vorgang in Formulierung brächte, so wohnte mE einer solchen Präzisierung doch eine den Leser unnötigerweise einengende Intention inne.
Es ist fernerhin nicht ganz so, dass die Bedienung nicht bereits vorher Erwähnung fand. Sie fand diese als spöttisch konnotierte im Rahmen des inneren Monologs des Prots.
Das sich möglicherweise konspirativ flüsternd dem Prot Entgegenbeugen, kann (mithin) auch ohne eine Erwähnung zu finden, angenommen werden.
Es ist, wie bereits beschrieben, eine immerwährende Gratwanderung zwischen Erklärung und Verzicht.
Vielen Dank an Euch beide für die konstruktive Besprechung!
- Plej.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Plejadus,

Deine Geschichte über scheinbar banale Besuche in einem Café fasziniert. Sie überzeugt durch genaue Beobachtungsgabe, Einfühlen in die Hauptperson und findet ihren Höhepunkt in einem schlichten Zuckerstreuer.

Wenn mir nochmal einer begegnet, werde ich ihn mit anderen Augen betrachten!

Wie auch jedes Café. Wenn eine Geschichte es schafft, sich auf diese Weise in die Köpfe und Herzen der Leser zu schleichen, hat sie den Stempel mehr als verdient!

Den drücke ich Dir jetzt auf ...

und viele Grüße von

DocSchneider
 

Plejadus

Mitglied
Vielen Dank Frau @Doctor,

für Ihre Worte und die angenehme Stempelung.
Fühle mich nicht unerheblich podestiert.
Offenbar hat man den angewürzten Zucker
hierorts gefressen..

Gruß
Plej.
 

Plejadus

Mitglied
Hallo @hudriwurz!

Schön, dass auch Ihnen offenbar der Zucker
zusprach.
Das Ende?
Nun, ich wollte niemanden das Kopfkino verleiden, weshalb
ich den Schluss unkandiert ließ bzw das Publikum vorzeitig, aber
freundlichst aus der Abführung wies.
Ich hoffe, Sie kommen dennoch klar.
Gruß
Plej.
 

MicM

Mitglied
Hallo Plejadus,

ein Glück, dass neue Kommentare diesen wunderbaren Beitrag in der Chronologie wieder nach oben schoben, so dass ich ihn, der ja bereits ausführlich rezensiert und gestempelt wurde, auch noch zuckersüß genießen konnte.

Nur eine Bemerkung: wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich bei dem Prot schon um einen älteren Zeitgenossen, der es immerhin geschafft hat, seine Frau zu überleben. Für einen älteren Herren echauffiert er sich aus meiner Sicht dann doch recht heftig über Kleinigkeiten dieser Welt (bspw. brave Bestuhlung oder feigen Kaffee) und entwickelt noch recht intensive erotische Fantasien. Darf er natürlich auch im hohen Alter - bei mir hat’s aber ein wenig gehakt.

Auf bald
MicM

PS: Nach dieser erkenntnisreichen Lektüre bin ich froh, dass ich meinen Kaffee ohne Zucker trinke. Diesen Zuckersteuern habe ich noch nie recht getraut…
 

Plejadus

Mitglied
Guten Tag MicM,

Schön, dass sie ausmahmsweise mal zum Streuer griffen,
wozu dieser Text Sie ja geradezu nötigt,
und ebenso schön, dass Sie dies offenbar mit Gewinn taten.
Der Text hält fraglos die Pforten offen fürs Kopfkino des Lesers
und genauso fraglos sieht niemand den exact gleichen Film.
Mir als Textverbocker erschien ein durchaus älterer, jedoch nicht hochbetagter Zeitgenosse, aber ich gebe zu, man kann ihn sich auch als (Lust)Greis imaginieren.
Ein sich verhaken ist so oder so praktisch nicht verhinderbar, aus eben dem genannten Grunde.
Dank und Gruß
Plej.
 

Veil

Mitglied
Gute Texte vergisst man nie!

Nachdem du fortgefahren warst, lieber Plejadus, hab ich Löcher in den Blättern des Rhododendronstrauches entdeckt. Ich grinste leicht und gab ihm ne Extraportion Dünger. Er dankte es mir und verwies auf die Kiefern, die leider allzu hoch ihre Nadeln in den Himmel streckten.
Seitdem hängt an besagtem Strauch ein Schild mit der Aufschrift "Kiefer!"

:D
 

Plejadus

Mitglied
:D

Eine clevere Lösung für ein schwer zu Kitsch neigendes Friedhofsgestrüpp, Frau von Veil.
Ich hoffe, die Wunden am Blatt waren nicht so tief und die
Unschuldsvermutung gilt auch innerhalb Eurer Gartenumzäunung.

Bist Du gut durch den Baum und Böllerparkour geeiert?


Das Licht kommt zurück, heut hab ich's gespürt.


Lieber Gruß
Plej.
 

Veil

Mitglied
Außer Wölfe gegen Zwölfe
Oder Schweine gegen Zweie
Hörten wir nur Regenschauer

Mischten Karten, lochten Achten
Während fernfern Böller krachten
Letztes nur von kurzer Dauer

Plejadus sprach: Es werde Licht!
Und siehe da, es wurde schlicht...
 



 
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