zur neige

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C

cellllo

Gast
Wie ist es möglich, dass es zu diesem einzigartigen Gedicht seit März/Juli keinen Kommentar gibt ???
Bei mir löste es so viel und vielerlei Echo aus, dass ich gar nicht weiß wo und wie anfangen.............
Vielleicht ganz grundsätzlich, spontan und persönlich :
Ich liebe Pflanzen über alles, ihre Bescheidenheit und Bedürfnislosigkeit ( nur etwas Erde, Wasser, Licht ) sind beispielhaft und rührend in Anbetracht ihres Lebenswillens und ihres Leistungswillens, solch hinreißende Schönheit der Blüten zu produzieren und so viel Frucht wie möglich zu bringen... Die Tulpen sind neben den selteneren Magnolien die allerersten BlütenPrachtsExemplare des Jahres und man kann es jedes Frühjahr von Neuem nicht fassen, wie aus Erde Wasser und Licht so herrliche Farbe ( "rot" ) in so wunderbarem Material entstehen kann, mit so edlem Oberflächenglanz, so eleganten Umrissen und Wölbungen und Muldungen... Was den Betrachter solch unfassbarer unschuldiger Schönheit aber immer am allermeisten anrührt und bewegt ist das Wissen, dass diese Pracht ganz bald verwelken wird und dieses Wissen um die Vergänglichkeit intensiviert die Wahrnehmung dieser Schönheit bis hin zu herzzerreißender Schmerzlichkeit, wenn die zu noch schnellerem Tod verurteilten wunderschönen Schnittblumen nicht nur die schönen festlichen Ereignisse unseres Lebens dekorieren, sondern Tod und Begräbnis geliebter Menschen......
Solches memento mori verwandelt sich hier in ein Gedicht angesichts einer Glasvase mit verwelkenden roten Tulpen. Der optische Tatbestand und sein Bedeutungsgehalt sind allbekannt und zur Genüge beschrieben besungen abgemalt oder photografiert worden, aber sicherlich noch nie so überraschend : so buchstäblich ausgemergelt mager und dabei so überraschend vielschichtig schillernd und ausdrucksvoll.

Der Titel "zur neige" bereitet den Leser gleich zu Anfang darauf vor, dass irgendetwas zu Ende geht.
In den mageren kurzen vereinzelten Zeilen vermutet man umso mehr Bedeutungsgewicht :
"das glas ist voll" assoziiert sofort die Redewendung "das Maß ist voll" d.h. jetzt reicht´s ! Schluss jetzt !
"stirb langsam" versetzt einen vollends in bedrohliche Spannung, dass es hier womöglich thrillerhaft um Leben und Tod geht - aber nichts Genaueres weiß man immernoch nicht, immernoch ist alles offen........
"sagst du lautlos" : das ist wirklich ein Moment atemloser Stille und Spannung, die sich direkt auf den Leser überträgt, da er hier das "du" noch spontan auf sich selbst beziehen kann !
Erst in der folgenden Zeile klärt sich der sachlich optische Tatbestand endlich : Ach ja, nur ein "glas" mit verwelkten Tulpen ! Die bedeutungsschwangere erste Zeile wird zur harmlosen gläsernen Blumenvase, aufatmend möchte man Vetrautes weiterlesen :... den tulpen ins verwilderte gesicht - ach nein : GEDICHT !
Der Text kippt schon wieder und damit endgültig :
Nicht mehr die Tulpen, das Gedicht als lebendiges Geschöpf ist das Gegenüber !
Das ist keine lyrische Beschreibung, kein verbales Abbild welker Tulpen, sondern quasi ein tulpenhaft rot welkender Text ! Diese Formulierung wird auch berechtigt dadurch, dass nicht "die rote Tulpe", sondern "das rote Wort" genannt wird.....
Schon der Titel "zur neige" enthält die im Bogen geneigten Stiele und die daran verwelkt herabhängenden Tulpenblüten, aus denen nicht naturalistische "Blätter" sondern die (Gedicht-)"lettern" herabfallen... Genial wird hier die Wortverwandtschaft bzw.die Alliteration dieser Wörter verarbeitet und in Visuelle Poesie umgesetzt : die identischen Buchstaben sind in der Senkrechte angeordnet, die beiden e und vor allem das n fallen aus der Reihe.....ja das ganze Gedicht ist quasi Visuelle Poesie : wirkt optisch insgesamt durch die extrem kurzen Zeilen der Wortfragmente und ihre extrem großen Abstände wie ein vertrocknetes Wortgerippe analog zu den dürren welken Pflanzen.
Naturalistisch beschrieben fallen die Blätter aufs Tischtuch.
Wie hier die l e t t e r n zu tisch und tuch (zer)fallen versinnlicht in reiner Textform direkt den Zerfall, die Vergänglichkeit alles Irdischen. Es erinnert aber auch an gewisse kubistische Bilder, die durch Fragmentierung und Zerstückelung die künstlerischen Mittel von der Pflicht der naturgetreuen Abbildung befreiten und dadurch ganz neue kreative Möglichkeiten schufen...Das Rot als Kennzeichen der lebendig frischen Tulpe verwelkt vergeht, aber "das rote wort" bleibt aktiv/schreibt fort (Alliteration zu wort).
Sehr sehr schön, wie sich die aktiv Schreibende vielmehr als passiv Geschriebene empfindet und ihr Fortleben passiv der Vitalität der Wörter anvertraut. Das erinnert an die alten Schriftsteller und ihre demütige Verehrung der Muse, die zum Schreiben befähigt.
Sehr sehr schön, wie zum Schluss und auch in Bezug zum Tulpengesicht(-gedicht!) das Auge als Organ der Wahrnehmung genannt wird, da der Anblick der Tulpen immerhin immernoch Anregung und Auslöser war, und wie der Gedanke "verwelkt"-"das auge bricht", also der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit das Mitgefühl und die Verbundenheit mit den Tulpen und überhaupt mit aller Kreatur ausdrückt.
Schade dass die grüne Bewertungslinie gar nicht meine riesige Bewunderung für dieses Gedichts anzeigt.
cellllo
 
O

orlando

Gast
Schade dass die grüne Bewertungslinie gar nicht meine riesige Bewunderung für dieses Gedichts anzeigt.
Dem wird nun abgeholfen. :)

Liebe Elke,
mich spricht das Gedicht auf einer Parallelbene an, die aber die Überlegungen celllos mit einbezieht.

Ich denke an den langsamen "Freitod" eines Alkoholikers, eines hochbegabten Dichters, der bis zum Ende seine glühenden Worte streut. Und ich denke an Serge.Den Besonderen.
Ganz wunderbar, wie sich hier die verschiedenen Ebenen kreuzen, bedingen, aber nicht gegenseitig aufheben.
Diejenigen, die ihre Wohnungen mit Schnittblumen schmücken (schon die Bezeichnung Schnittblume birgt den Tod), schauen letztendlich den Pflanzen beim Sterben zu. Fast immer unbewusst. - Es gibt einen Punkt, ein letztes Aufbäumen, einen Augenblick absoluter und reiner Schönheit, bevor sie ihre Häupter neigen und sich ergeben.
Besser kann man ein Bild kaum gestalten.
Und kaum ein schöneres Abschiedsgedicht verfassen. Formal nicht. Und inhaltlich schon gar nicht.

orlando
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo cellllo,

Dein riesiger Kommentar zu dem Gedicht ist überwältigend einfühlende Teilnahme und in weiten Teilen auf den Punkt getroffene Rekonstruktion seines Schaffensprozesses.
Ich fühle mich reich beschenkt!
das Gedicht als lebendiges Geschöpf ist das Gegenüber
Ja, das "verwilderte Gedicht" (im lyrischen Gedicht) ist konkret florales Material; ein Durcheinander, das sich schweren Hauptes aus der Neige noch ein letztes Mal lichtwärts aufbäumt, bevor es, sich entblätternd, zerfällt.
Und so ist es auf seine Art auch Liebesgedicht, welches das geschundene Wort bewusst nicht beim Namen nennt.

Ich hätte nicht gedacht, dass die kargen Worte doch so deutlich sprechen.
Vielen Dank für Deine wirklich großartige Resonanz.

Grüße von Elke
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo orlando,

Diejenigen, die ihre Wohnungen mit Schnittblumen schmücken (schon die Bezeichnung Schnittblume birgt den Tod), schauen letztendlich den Pflanzen beim Sterben zu. Fast immer unbewusst.
Dito. Mir wurde das in jenem Sommer bewusst, als eine Nachbarin und Rosenbäuerin empfahl: "Stelle sie über Nacht bis zum Hals in viel Wasser, dann halten sie länger". Seither weiß ich, dass auch der Tod gut riechen kann.

Niemand stirbt gleich, jeder auf seine Art und Du hast recht, auch sergeRobert starb langsam. Er hat mich phänomenal und schmerzlich beeindruckt auf seine sehr eigene Weise. Auch weil ich ihn länger kannte.
Manchmal denke ich, ein bisschen serge sind wir alle. Wenn auch sehr viel weniger ehrlich.
Es ist gut, ihn gelegentlich durch meine Gedichte geistern zu wissen. Dieses hatte ich im März geschrieben. Aber etwas stimmte nicht mit dem Schluss. Ich war unzufrieden. Dann vergaß ich es und fand es im Sommer wieder und stark genug, es doch noch zu Ende zu bringen. Schön, dass es auch Dich als Leserin erreicht hat.

Herzlichen Dank für Deine Anerkennung und die offenen Worte.

Grüße von Elke
 

namibia

Mitglied
Liebe Elke,

mich spricht das Gedicht ebenfalls sehr an. Es lässt jede Menge Raum für Assoziationen, allein bei dem Wort rot in Verbindung mit Blumen, tauchen sofort Rosen auf mit den daraus resultierenden Bildern, mir gefällt die eigenwillige Form der Lettern, die fallen.. es hat fast etwas japanisches, dein Gedicht.

Ich habe es sehr gerne gelesen und werde es immer wieder lesen, um Neues darin zu entdecken.

Alles Liebe

Namibia alias anna amalia
 

Walther

Mitglied
hi Elke,

das geht auch kürzer, das kommentieren. selten ist es gelungen, dem sterben eines straußes so viel kluges abzugewinnen!

danke dafür.

lg w.
 

Label

Mitglied
Liebe Nachtigall

was kann man noch zu so einer ausführlichen Besprechung und Lob wie dem von gitano noch hinzufügen?
Nichts außer
ein wirklich schönes Gedicht, das ich offenbar übersehen hatte.

liebe Grüße
Label
 

ENachtigall

Mitglied
Danke, liebe anna amalia,

herzlich willkommen in der Leselupe.
Dein Hinweis auf den japanischen Charakter zeigt mir einen bislang so nicht wahrgenommenen Wesenszug des Gedichtes auf. Du hast damit unbedingt recht. Das Bedächtige spielt eine tragende Rolle.
Es bringt mich immer wieder zum Staunen, wie sich scheinbar Unaussprechliches in floralen Metaphern manifestieren lässt.

Grüße von Elke
 

ENachtigall

Mitglied
Liebe Label,

auch Dir vielen Dank für Deine anerkennenden Worte. Bei all der Fülle von Texten ist es ein Geschenk, ein Gedicht nach solcher Zeit derart gewürdigt zu finden!

Nebenbei bemerkt:
Den ausführlichen Kommentar zu Anfang verdanke ich übrigens keinem gitano, sondern einer neuen Stimme unter uns: cellllo. Passt gut, wo wir doch bereits einen Cellisten haben ;)

LG

Elke
 

namibia

Mitglied
Liebe Elke,

ja, bei deinem Gedicht schossen mir sofort die japanische Kirschblüten und Ikebana durch den Kopf. Seltsam die Assoziationen, die wir manchmal haben.

Liebe Grüße und danke für das Willkommen

Namibia alias Anna amalia
 
N

Noemi

Gast
Hallo Nachtigall,
als ich dein Gedicht las, war ich erstaunt und sofort begeistert. Eine visuelle Poesie! Toll!
Was man alles mit den Worten anstellen kann!
Die Vase mit den Tulpen(?) ist sofort sichtbar und greifbar, die zweite Ebene nimmt man fast parallel wahr.
Dein Gedicht sticht aus der Masse heraus. Gefällt.

Grüße
Noemi
 

ENachtigall

Mitglied
Liebe Noemi,

Dein Kommentar hat mich sehr gefreut!
Als ich das schrieb, war ich "zu nahe dran", die optische Form selbst wirklich wahrzunehmen.
Ich bin glücklich, dass ich es als Ganzes fertig stellen konnte. Das gelingt mir oft nicht.

Viel Spaß beim Lesen und Gelesen werden.

LG

Elke
 



 
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