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WinterAgain

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Die aktuelle Fassung findet ihr hier.

Ort: die namenlose Stadt; der Turm des Alchmisten
Zeit: irgendwann


Myrus Magnificens war der klügste Mensch der Welt. Das war keine Lobhudelei kriecherischer Ratten oder eine hochtrabende Selbsteinschätzung seiner selbst, es war ein Fakt. Er entstammte einem ebenso weitverzweigten wie hochdekorierten Stammbaum von Alchimisten, eben jener Berufsgruppe die die Namenlose Stadt zu dem gemacht hatte was sie heute war: das Zentrum der zivilisierten Welt (und auch der unzivilisierten) und der Mittelpunkt allen Strebens. Alchimisten waren viele Dinge zugleich. Sie waren Mathematiker, Biologen, Astronomen und Astrologen, Wahrsager, Magier, Bibliothekare, Dichter, Physiker, Ärzte, Scharlatane, Intellektuelle und vor allem niemals zufrieden. Myrus war eine Bildung und Erziehung vergönnt gewesen, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Er hatte Bücher nicht nur gelesen, sondern sie auswendig gelernt, hatte Tiere nicht nur seziert, sondern sie in ihre Einzelteile zerlegt, sie vermessen und sich jedes Detail so akribisch und sorgfältig eingeprägt, dass er sie vor seinem geistigen Auge erschaffen und wieder zerfallen lassen konnte, wann immer ihm danach war. Myrus war ein wandelndes Nachschlagewerk und immer darum bemüht seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern. Ja Myrus war der klügste Mann der Welt und er hatte fest vor nun auch der bedeutendste zu werden. Er wollte es mit einem Feind aufnehmen und seiner Bestimmung zu folgen. Diesen Feind hatte noch nie jemand besiegt, weder sein Vater noch dessen Vater noch alle Väter, die ihm vorangingen: den Tod.

Myrus nahm in jungen Jahren den Kampf auf und lernte und forschte ohne Unterlass. Die ersten zehn Jahre seiner Forschung beobachtete er nur. Wie lange lebten welche Lebewesen unter welchen Bedingungen, was war lebensverkürzend oder -verlängernd, was war alt und was war jung und in welcher Relation zu welchem "jung" gibt es eigentlich ein "alt"? Ein Frosch mag im Vergleich zu einer Schildkröte ein sehr kurzes Leben haben, doch im Vergleich zu einer Kirschblüte war dieses Leben fast unfassbar lang. Allerdings kann eben jene Kirschblüte an einem Baum wachsen, der das Alter der Schildkröte um ein Vielfaches übersteigt. Was machte diesen Baum so alt? Es waren schier endlose Fragen und auch eine schier endlose Arbeit und Myrus war das ein ums andere Mal an ihr verzweifelt. Man sah ihn nicht selten neben einer der Alleen der namenlosen Stadt stehen, die Hände in die Borke einer alten Eiche gekrallt, sie mit aller Kraft schüttelnd und aus vollem Hals brüllend "verrate mir sein Geheimnis! los! ich befehle es dir! WAS - IST - DEIN - GEHEIMNIS?!" Die übrigen Städter waren bestenfalls befremdet und schlimmstenfalls belustigt über das Verhalten dieses Menschen, dem es vorherbestimmt war der klügste Mensch der namenlosen Stadt zu sein. Aber Myrus begriff etwas. Langsam zwar, doch er begriff: Leben bzw. ein langes Leben war eine gute Mischung aus Pflege der Bedürfnisse, Enthaltsamkeit, Willen und Glück. So glücklich er war als er diese Erkenntnis hatte, so deprimiert war er als er genauer über sie nachdachte. Was sollte er mit seiner Erkenntnis anfangen?
Er konnte eine Pflanze, ein Tier oder gar einen Menschen so lange hätscheln und pflegen wie er wollte, irgendwann starb sie, es oder er mit absoluter Gewissheit und das Glück war selbst für einen Alchimisten ungreifbar. Vielleicht gelang es in ferner Zukunft irgendjemandem (seinem Sohn vielleicht?) diese störrische, inkonstante Konstante zu zähmen, doch Myrus würde nicht dieser Jemand sein. Das Einzige was ihm blieb war der Wille.

Der Wille zu leben, weiter zu existieren, der jedem Lebewesen innewohnt, das war es, worauf er sich konzentrierte. Aber der Wille allein war wie ein Geist: ohne Körper und ungreifbar für ihn und bei jedem Lebewesen war er unterschiedlich stark ausgeprägt. Myrus verzweifelte über diesen Gedanken und war eines Abends kurz davor aus dem obersten Fenster seines schwarzen Turms zu springen, doch gerade als er auf den Sims steigen wollte, glitt er aus und konnte sich gerade noch an einem Bücherregal festhalten. Dies war aber dazu gedacht, Bücher und nicht Alchimisten in der Lebenskrise zu tragen und brach aus der Wand.
Ein Regen aus Büchern ging auf ihn nieder und eins traf Myrus so hart an der Schläfe, dass er Sternchen sah. Er rappelte sich auf und sah auf das Buch, dass ihn fast besinnungslos geprügelt hätte. Es war ein schwerer Dünndruckwälzer von viertausend Seiten mit schwerem, muffigem Ledereinband- Das war ... Moment mal ... Myrus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen.
Es waren die psycho-magischen Schriften und Zauberformeln über Gedanken- und Gefühlskontrolle von dem Magier und Wissenschaftler Adalbertius Incognitio. Myrus erinnerte sich dieses Buch gelesen zu haben (zumindest in Auszügen). Das war eher esoterischer als empirischer oder magischer Lesestoff und zu gut zwei Dritteln wertlos, doch es gab einige Zaubersprüche und Rituale, die tatsächlich neu waren und das Potenzial hatten revolutionär zu werden. Besonders in Erinnerung war Myrus das Ritual über die Konservierung von Emotionen geblieben. Von Liebe, Hass, Neid und Scham. Wieso sollte es eigentlich nicht auch mit Trotz gehen? Was war denn der Wille zu Leben anderes als der Größte Trotz den ein Lebewesen aufbringen konnte? Wie unter Strom stand Myrus auf und in seinem Hirn arbeitete es. Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan. Ein Plan der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun, doch das was sich da in seinem Kopf formte war ein Plan. Der Plan für ein Lebenswerk.

Am liebsten hätte er Adalbertius Incognitio umarmt, nur hatte der vor mittlerweile vierzig Jahren gelebt und war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Schmachtens zu der Erkenntnis gelangt, dass er ein Weibchen der, in den Bergen hinter der namenlosen Stadt lebenden, Riesenskorpione zu heiraten hatte woraufhin ihn die Braut erst vergiftete, dann mit ihren Scheren sauber in zwei Teile schnitt und fraß (die Geschichte schweigt sich übrigens darüber aus WER Adalbertius und den Skorpion getraut hatte). Myrus war wie im Rausch für fast zwei Jahre verließ er seinen Turm nicht. Er musste erst Dinge herstellen. Er brauchte einen Impuls, einen Impuls der stark genug war, um eine Emotion zu stimulieren, sollte sie einmal durch das Ritual des Adalbertius Incognitio verkörpert worden sein. Er brauche eine Flüssigkeit, einen Stoff, in dem er diese Emotion und die Impulse konservieren konnte, er brauchte ein Gefäß, das diese Substanz halten und sich an den Körper eines Probanden anpassen lassen konnte und dafür brauchte er einen geeigneten Probanden.
Myrus löste alle seine Konten bei der Bank der namenlosen Stadt auf und verschleuderte das Bargeld an seine Spitzel, die ihm geeignete Probanden aussuchen sollten. Myrus wollte einen Menschen, bei welchem der Trotz dem Tod etwas entgegenzusetzen beispiellos groß war. Und so kam Immolius Gladortalis in den Turm des Alchimisten.

Immolius war einhundertsechs Jahre alt, was in der Unterschicht der Namenlosen Stadt für zwei gute Durchschnittsleben gereicht hätte. Er hatte ein erfülltes Leben geführt als er eines Tages um die Mittagszeit herum an Altersschwäche starb. Immolius´ Trotz war stark, doch der Tod war stärker. Er war ein altgedienter General der Armee gewesen, ein kluger Taktiker und ein großer Freund des Kampfes. Sein Rapier hatte mehr Leben genommen als die Waffen mancher Kompanie zusammen. Er wurde in allen Ehren beigesetzt und die Trauerfeier war glorreich und die Menge der Trauergäste groß. Doch die Nacht war dunkel. Zwei leprakranke Schergen von einem von Myrus´ Bediensteten hatte von der Beerdigung Wind bekommen und beichtete dem Spitzel davon, welcher es wiederrum Myrus zutrug. Man sah dann in der darauffolgenden Nacht zwei dubiose Gestalten an der Gruft des Immolius Gladortalis. Am Tag darauf war Myrus in seinem Labor und hantierte freudig an seinen Geräten herum. Der Proband lag auf seinem Tisch und das Experiment konnte beginnen. Er war etwas übernächtigt, doch die Wissenschaft schlief nicht. Er holte die Schriften des Adalbertius Incognitio aus ihrem Regal und er öffnete sie andächtig. Das Ritual konnte beginnen. Myrus zeichnete mit fahrigen Fingern die Beschwörungszeichen auf den Boden rund um den Körper und in dem Moment, in dem sich das letzte in die Reihe fügte, leuchteten sie strahlend auf. Nun kam der anstrengende Teil des Rituals.
Myrus kniete sich auf den kalten Boden und betete die Formeln zur Beschwörung herunter. Alle vierhundertsechzehn. Auswendig. Und wenn er fertig war, fing er wieder von neuem an. Emotionen und Gedanken, die noch in dem Toten steckten, waren wie glitschige Aale und Myrus musste sie in seine Netze treiben. Geduldig und ohne müde zu werden wiederholte er die vierhundertsechzehn Formeln kniend vor dem erkaltenden und langsam faulenden Körper. Er zählte nicht mit, weil auch er selbst sich in einer Art Trance befand, doch rückblickend glaubte er etwa zwei Tage so auf Knien vor der Leiche von Immolius Gladortalis gekniet und die Formeln vor sich her gemurmelt zu haben. Er sprach sie mit sturer Beharrlichkeit so lange, die auch die letzte Emotion und der letzte Gedanke aus dem Körper, der mal Immolius Gladortalis gewesen war, herausgepresst sein würde.

Nach zwei Tagen des ununterbrochenen hin- und her Schaukelns und Murmelns, zeigte das Ritual plötzlich Wirkung. Es tat dies so überraschend und abrupt, dass Myrus zuerst glaubte jemand hätte ihn mit einem Knüppel zu Boden geprügelt. Ein stechender Schmerz schoss ihm in die Augäpfel und Ohrmuscheln und seine Nebenhöhlen schienen so groß wie Wassermelonen zu werden. Ein krümmte sich unter schweren Magenkrämpfen und seine Kiefer stießen in spastischen Zuckungen immer wieder aufeinander, sodass er sich um ein Haar einen Gutteil seiner Zunge abgebissen hätte. Er schwitzte und weinte Blut und trotz seiner jungen Jahre wurden seine Haare in Sekunden schneeweiß. Die Runen auf dem Boden schienen nun zu pulsieren und gleichzeitig in einer unbekannten Sprache zu flüstern, zu schreien und zu singen. Myrus lag dort auf dem Boden und konnte nur einen klaren Gedanken fassen: etwas muss schiefgelaufen sein, etwas muss schiefgelaufen sein, etwas mu... Und dann genauso plötzlich wie die Wirkung des Rituals eingesetzt hatte, war sie vorbei. Was übrig blieb war ein keuchender Alchimist in einer Lache seines ausgeschwitzten Blutes umgeben von irgendwelchen wilden Zeichen. Myrus hob den Kopf und war augenblicklich der Überzeugung, dass rein gar nichts bei dem Ritual "schiefgelaufen" war. Im Gegenteil. Das Ritual hatte planmäßig funktioniert, Adalbertius Incognitio hatte nur über seine Nebenwirkungen geschwiegen, da es sonst wohl nie jemand versucht hätte. Myrus konnte das sehr gut verstehen. Über dem Körper von Immolius schwebte nun eine Kugel, die aussah wie aus Wasser gemacht. In ihr schienen Gesichter zu schweben. Wenn man genau darüber nachdachte war "Gesichter" wohl etwas zu schmeichelhaft "Fratzen" träfe wohl eher. Sie zogen sich zusammen und dehnten sich aus, stülpten sich von innen nach außen und schienen aber alle Myrus anzuschauen. Die Emotionen waren verkörpert worden. Das Ritual hatte Erfolg gehabt.

Myrus musste nun den nächsten Schritt einleiten. Er brauchte jene halb magische, halb chemische Kraft, die sich wie ein Parasit an Materie klebt: Die eine Materie, die in der Lage ist Kraft zu besitzen und zu bündeln, wo es eigentlich keine geben sollte. Er verbrachte nun die nächsten Monate damit diese alchimistische Essenz aufzukochen. Das war keine leichte Angelegenheit, war doch jene Essenz doch nichts anderes als die konzentrierte Mischung jedes Elementes, das in der alchimistischen Welt existierte. Myrus mischte flüssiges Eisen mit flüssigem Arsen und fügte dem Ganzen noch eine gute Schippe Quecksilber hinzu und dann fehlte Gold als Neutralisator und Chlor als Katalysator. Die Möglichkeiten waren zwar nicht endlos doch vielfältig und es musste mancher Kopf rollen, manches Versprechen getan werden und mancher Geldbeutel den Besitzer wechseln, um die Elemente zu beschaffen, die Myrus benötigte. Er sättigte die Essenz zusätzlich mit Pflanzen und Kräutern ebenso wie mit Tieren und Nährstoffen und vor allem das Quieken und Fiepsen der Tiere, erfüllte die Umgebung mit Geräuschen, bei denen jedem geistig gesunden Menschen nicht ganz wohl sein sollte.
Die Essenz blubberte und kochte und an dem Schwappen, dass sie, ohne jedes Zutun von außen, zeigte, erkannte Myrus, dass die Essenz reif war. Noch nie hatte jemand es gewagt, die verkörperten Emotionen eines Toten mit jener kraftverleihenden und unberechenbaren Essenz zu vermischen, die sich wie ein Bandwurm an Dinge klammerte und nicht mehr losließ. Er hatte nur eins vergessen. Es fehlte noch etwas: wirkliche, menschliche Intelligenz.

Auch über dieser Aufgabe zerbrach sich Myrus mehrere Jahre den Kopf, während der Körper von Immolius immer weiter zerfiel und von Tag zu Tag nicht mehr als das Skelett auf dem Tisch lag, welches die Decke von Myrus Labor angrinste. Myrus verlagerte seine Studien nun darauf zu erforschen wie Denken funktioniert und abläuft. Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen nun all seine Experimente und Erkenntnisse darzulegen und die Schlüsse die er aus denselben zog näher zu erläutern (es wäre ein eigenes Buch für sich) daher hierzu nur so viel: nach drei Jahren des Studiums kam Myrus zu dem Schluss, dass jeder Gedanke ein Impuls im Hirn war und das Hirn war nichts anderes als ein Übersetzer, der diese Impulse auffängt und seine Schlüsse aus ihnen zieht. Myrus machte sich nun daran selbst so einen Übersetzer zu bauen und ihn in den Kopf des Skelettes einzusetzen.
Er verband dann schließlich auch die Extremitäten des Skelettes mit seinem eigens gebauten Gehirn aus Kupferdraht. Geduldig wickelte er Knochen zusammen und stabilisierte das Gerippe, dem nun mehr und mehr organisches Material fehlte, um es auf natürliche Weise zusammenzuhalten. Jetzt fehlte nur noch der anfängliche Impuls mit dem Myrus dem Organismus seine Intelligenz, sein kontrollierendes Element in Schwung bringen wollte.

Myrus hatte jetzt alle Komponenten beisammen, um nun sein Lebenswerk einzuleiten. Zuerst bedurfte es einer Paarung der Essenz mit den konservierten Emotionen. Die Essenz war erstaunlich offen für die Materie der Emotionen und mit einem glücklichen Schmatzen nahm sie die Materie in sich auf. Nach ein paar Sekunden färbte sich die Essenz anders ein. War sie vorher noch eine milchige grünlich- weiße Masse gewesen, klarte sie sich jetzt auf und wurde erst smaragdgrün, dann knallgelb, für einen kurzen Moment tiefschwarz und dann verblieb sie in einem satten, klaren blau, dass aus sich selbst zu leuchten schien. Er ließ diese emotionsgeschwängerte Essenz kontrolliert auf den Körper los und die Essenz klebte sich wie eine halb flüssige- halb gasförmige Nacktschnecke an die Gerippe. Sie schien neugierig und kroch in jeden Winkel und jeden Hohlraum, den das Skelett ihr bot, um sich dann im Rippenkorb einzunisten und zu ruhen schien. Jetzt kam der gefährliche Teil der Verschmelzung: Myrus musste in das Labor, nahe an die Essenz heran und das Kupferkabel, welches er schon Tage zuvor an der obersten Spitze seines Turmes angebracht hatte, mit jenem kupfernem Gehirn verbinden, dass er selbst in mühevoller Kleinarbeit entworfen, gefertigt und in den Schädel anstelle des längst verwesten Gehirns eingesetzt hatte.

Er näherte sich vorsichtig dem Gerippe des Probanden und hantierte am Schädel herum. Er bohrte ein kleines Loch mit einem Handbohrer in die Schädeldecke und versuchte den Draht durch dasselbe zu schieben. Kaum war der Bohrer durch die Schädeldecke gebrochen, da gab die Essenz schon ein Geräusch von sich, das an Wind erinnerte, der um ein kleines Hexenhäuschen in sturmgepeitschter Nacht herumweht und sie schloss das Loch im Schädel einem blauen Lichtschein innerhalb von Sekunden. Myrus war arg erschrocken als er diesen laut hörte und gut eine Körperlänge zurückgesprungen. Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn und trat mit weichen Knien wieder an den Körper heran. Ihm fiel jetzt in diesem Moment ein, dass er die Essenz zwar erschaffen hatte, doch kontrollieren konnte er sie nicht. Genaugenommen hatte er keine Ahnung ob sie gefährlich war oder nicht. Überhaupt wusste er nicht wie man die Essenz zerstören konnte, außer sie mit der Zeit veralten zu lassen. Er schob diese Gedanken beiseite. Er war jetzt zu weit gegangen um umzukehren und hatte zu hart gearbeitet um jetzt abzubrechen!
Ja das sind die Gedanken die Wissenschaftler sich selbst einreden, wenn sie ihren inneren Kompass zu beruhigen versuchen.

Schweren Herzens fing Myrus also wieder zu bohren. Als er spürte, dass die Decke des Schädels allmählich nachgab hielt er das Ende des Drahtes schon parat um ihn mit dem "Hirn" in Kontakt zu bringen bevor die Essenz die Verwundung des Wirtskörpers heilen konnte. Das Loch klaffte auf (wieder dieses windige Geräusch von der Essenz) und so schnell er konnte schob Myrus den Draht in das Loch und spürte wie er das "Hirn" im Inneren traf. Dann war das Loch auch schon zugewachsen und Myrus hätte den Draht selbst nicht besser im Schädel fixieren können. Jetzt wartete Myrus auf den Impulsgeber, in seinem Fall auf einen Blitz, der, so die Theorie, in die Turmspitze einschlagen und am Kupferdraht entlang in den Schädel fahren und in ihm die Impulse auslösen würde, die die Essenz kontrollieren und die in ihr gelösten Emotionen verstehen und hervorrufen könnten. Die Essenz würde mit dem Hirn in einer seltsamen Mischung aus Symbiose und technischer Abhängigkeit miteinander leben müssen, wie in einem echten, vollständig biologischen Körper. Was war in einem solchen ein Hirn ohne das Herz? was das Herz ohne das Hirn? Myrus musste jetzt nur noch auf einen Blitz warten und da dieser von Myrus so ersehnte Gast immer in einer Reisegruppe zusammen mit Donner und Regen zu erscheinen pflegt, hoffte Myrus sehnsüchtig auf ein Gewitter.
Er musste sich drei ganze Wochen gedulden bis er mit einem freudigen Lächeln fernen Donner vernahm.


Um Myrus´ Turm stürmte und tobte es. Regen klatschte immer in regelrechten Wellen gegen die Fenster und der Donner war gerade im Labor ohrenbetäubend. Myrus sah gerade mit einer seltsamen Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung in seinem Labor und starrte aus dem Fenster nach draußen. Gerade wollte er das Barometer zum x-ten Mal überprüfen, als es laut knallte und das Kupferkabel auf einmal glühte. Es knisterte und knackte und das Glühen fuhr unaufhaltsam auf den Schädel zu. Es war getan. Als das Glühen nun auch den Schädel erreichte wehte die Essenz nicht nur, sie schrie regelrecht auf. Es war ein Geräusch, dass aus den untersten Kreisen der Hölle kommen musste und Myrus versteckte sich völlig verstört hinter einem Stuhl. Funken stoben aus dem Brustkorb des Gerippes und die Essenz erinnerte zeitgleich an einen Tornado und an ein Meer im Sturm. Sie wallte auf und schien zu fauchen und das Kupfer um die Knochen herum glühte und wurde so weich bis es untrennbar mit den Knochen des Skelettes verschmolzen war. Dann war es wie bei dem Ritual des Adalbertius Incognitio auf einmal ganz still.
Myrus lugte etwas hinter dem Stuhl hervor nur um dann sofort vor Schreck wieder rückwärts umzufallen. Wie ein Mensch, der aus einem Albtraum erwachte, schoss das Skelett in die Höhe und riss dabei de Kupferdraht ab, der an das Dach gebunden war. Es rutschte zurück und strampelte mit den Füßen und fiel dann klappernd von eben dem Tisch, auf dem es fast zehn Jahre lang gelegen hatte. Blaue Nebel der Essenz stiegen aus seinen Augenhöhlen und seinem Schlund und die Essenz in seinem Rippenkorb schien zu pulsieren und ihn verlassen zu wollen. Die Essenz konnte aber nicht mehr weg. Sie würde nie wieder wegkönnen.

Der Tote rappelte sich auf und schien das erste Mal einen Blick auf seine knöchernen Finger zu werfen. Er drehte sie vor seinen Augen nur eine kurze Zeit lang, dann schüttelte er sie als hätte er eine Spinne darauf entdeckt. Er blickte an sich herab und umfasste ungläubig seine Rippen und sein Brustbein. Er schreckte vor der Essenz in seinem Brustkorb zurück und sah sich um. Hätte es Gesichtszüge gehabt, so wären sie in diesem Augenblick panisch gewesen. Scheinbar verwirrt sah der Tote sich um und blickte auf das Fenster.
Myrus verstand was er tun wollte und er spurtete hinter seinem Stuhl hervor, schnitt dem Untoten den Weg ab und warf ihn nieder. Der Untote war erstaunlich flink auf den Beinen, doch Myrus konnte ihn noch rechtzeitig einholen. Es gab nichts was der Untote gegen Myrus Attacke tun konnte, denn Essenz hin, Essenz her, das Skelett eines Menschen wog nur etwa 20kg und es war Myrus ein leichtes eben diese 20kg umzuwerfen. Der Untote wehrte sich gegen ihn und Myrus hörte wie seine Rippen knackten und einsackten, nur um von der Essenz wieder nach außen gedrückt und geheilt zu werden. Myrus nahm den Totenschädel in beide Hände und blickte ihm in die Toten Augenhöhlen "Sie mich an!" rief er laut "Sieh mich an! beruhige dich" Langsam hörte das Gerippe auf unter ihm herumzuzappeln. Er spürte das es ihn ansah.
Die blauen Nebelschwaden, die in seinen Augenhöhlen eben noch so präsent gewesen waren, schienen sich etwas weiter in den Schädel zurückzuziehen. Myrus sah dies als verhältnismäßig gutes Zeichen und stieg von dem Gerippe herunter und es richtete sich auf und sah sich jetzt bewusst im Raum um. Dann sah es Myrus an und klapperte mit den Zähnen.

Myrus brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass das Skelett mit ihm reden wollte. Er unterbrach es "ich verstehe dich nicht!" sagte er "du hast keine Stimmbänder mehr, du kannst nicht reden" Das Skelett griff sich hastig an die Kehle und Myrus Empathie sagte ihm, dass die gerade erst niedergekämpfte Panik es wieder zu übermannen drohte. Und so ging er vorsichtshalber einen Schritt auf den Untoten zu und umklammerte seine Schultern "Ich weiß das du Angst hast" der Untote sah sich hektisch nach links und rechts um und versuchte Myrus´ Hände von seinen Schultern zu wischen, doch der Alchimist hielt ihm stand "Ich weiß das du verwirrt bist" sagte er. Wieder machte das Skelett Anstalten sich aus Myrus´ Griff zu winden und der blaue Nebel tauchte wieder in seinen Augen auf. Fieberhaft überlegte Myrus wie er zu dem Untoten durchdringen konnte.
Wie nannte er ihn in seinen Gedanken überhaupt? Er hieß doch ...

"Immolius!" rief er laut und der Angesprochene hielt kurz inne. Er hatte ihn. "Immolius" rief Myrus noch einmal "Du bist Immolius Gladortalis, der größte Held und Kämpfer unserer Zeit! Erinnerst du dich?!". Selbstverständlich war dies nur ein Schuss ins Blaue, Myrus hatte keine Ahnung ob oder woran sich jemand (war das da überhaupt ein Jemand?) nach dieser Erweckung erinnern konnte. Myrus Magnificens, der klügste Mensch der Welt, hatte keine Ahnung was er tat. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er raten und eben diesen Schuss ins Blinde wagen.
Das Skelett nickte. Langsam. Bedächtig. Der Nebel zog sich wieder zurück. Myrus sah Immolius weiter an und war nun sicher ihn loslassen zu können. Immolius stand einfach nur da und schien zu einer Salzsäule erstarrt. Dann marschierte er links an Myrus vorbei zu einem der vier Schreibtische, die in seinem Labor standen. Myrus beobachtete die Bewegungen von Immolius. Er ging unnatürlich schnell und seine Arme schwangen etwas zu stark an seinen Seiten hin und her, so stark sogar, dass es fast lächerlich aussah. Sein Gang wirkte sehr federnd und im Schein der Kerzen leuchtete das halb geschmolzene Kupfer auf seinen Knochen leicht orange, was im extremen Gegensatze zum kalten, bläulichen Schein der Essenz in seinem Brustkorb und in seinen Augenhöhlen stand. Immolius griff sich wahllos ein Papier und einen Bleistift und schien etwas darauf zu kritzeln. Dann stakste er wieder federnd zu Myrus und gab ihm den Zettel. Myrus las: Was hast du mit mir gemacht?

Der Alchimist schluckte. Auf die naheliegendste Frage hatte er sich nicht vorbereitet. Aus einem Instinkt und einem Schuldgefühl heraus entschied Myrus, dass dieser arme, tote Mann wenigstens die Wahrheit verdiente "Mein Name ist Myrus Magnificens. Ich bin Alchimist und... nunja ich habe dich von den Toten zurückgeholt" Immolius rührte sich nicht. Nur der blaue Nebel trat wieder in seine Augenhöhlen. Er schien Myrus zu fixieren. "Ich ähm... also... Ich habe ein Experiment gemacht und d-..." Immolius griff Myrus an die Kehle und drückte zu. Ihm blieb augenblicklich die Luft weg. Immolius mochte zwar nicht so stabil auf den Beinen stehen, doch Kraft hatte er wie ein normaler Mensch.
Myrus Augen fingen an aus den Höhlen zu treten, während ihn Immolius wohl anschrie. Es war der Tatsache geschuldet das Immolius nicht sprechen konnte, dass dies nur als heiseres Fauchen bei Myrus ankam "N... Nich..." röchelte er. Fauchen.

Myrus hätte schwören können, dass Immolius etwas wie "Warum sollte ich das tun?" gebrüllt hatte. Myrus japste nur noch "F... Frag... bean…wor" dann ging ihm endgültig die Puste aus. Sein Blickfeld engte sich ein, aber es reichte noch soweit, dass er sehen konnte wie Immolius den Totenschädel schieflegte. Er schien nachzudenken. Keine Sekunde zu früh ließ er Myrus Hals los und dieser trank gierig die Luft.
Immolius stand einfach da und sah ihn aus nebligen Augen an. Dann suchte er wieder einen Papierfetzen. Er fand einen, Kritzelte und warf ihn Myrus vor die Füße. Er las Wieso ich? Was hast du getan? Was bin ich?
Myrus richtete sich auf "Du bist du" sagte er, immer noch leicht röchelnd, "Immolius Gladortalis der Große. Ich habe dich von den Toten zurückgeholt, weil du der größte Krieger unserer Zeit bist. Der größte Krieger der jemals gelebt hat, furchtlos und aufrecht bis ins Alter von einhundertsechs Jahren. Wenn jemand den Tod verkraften und ihm trotzen würde dann du" Wieder legte Immolius den Totenschädel schief. Das Leuchten in seinen Augen intensivierte sich. Er kritzelte hektisch und warf Myrus einen neuen Schnipsel vor die Füße Warum? Myrus war verwirrt "habe ich doch gesagt, weil du der tap..." Er kritzelte. Myrus las Ich meine nicht, warum du mich von den Toten zurückgeholt hast, sondern warum du mich von den Toten zurückgeholt hast!

Das war Stoff zum überlegen. Warum eigentlich? Er war in den letzten Jahren so damit beschäftigt gewesen es einfach zu tun, dass er sich nie wirklich reflektiert gefragt hatte, weshalb er es tat. War es nicht seine Bestimmung die Natur in all ihren Aspekten zu erforschen und all ihre Gesetze umzugestalten? Er musste lachen. Schallend und anhaltend. Immolius legte den Kopf schief und sah ihn mit seinen nebligen Augen an, als sei Myrus hier das anormale hier im Raum. "Ich weiß es nicht" lachte Myrus schallend "ich weiß es nicht". Immolius wollte ihn schon wieder am Hals packen, da hörte Myrus auf zu lachen und sah ihn von einer Sekunde auf die andere todernst an.

Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. Der emotionale Stress dieses Tages, die vielen Nächte ohne Schlaf die giftigen Dämpfe in diesem Labor all das kam auf einmal mit der Macht einer Schlammlawine auf ihn nieder. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Einen anderen Menschen als sich selbst gesehen? Wann hatte er sich zuletzt gewaschen? Alle diese Fragen waren nur Dominosteine in seinem Kopf, die von einem einzigen fallenden Dominostein in Bewegung versetzt wurden. Dieser Gedanke lautete: Ich hab´s geschafft! Es war so unglaublich, dass er an diesen Gedanken noch keine Zeit verschwendet hatte. Er hatte es geschafft! Er hatte den Tod besiegt! Es war alles nicht umsonst gewesen! Er war der größte Alchimist dieser Zeit! Der größte Alchimist aller Zeiten! Er hatte es geschafft.

Er sprang wie ein Wahnsinniger in seinem Labor herum, vollführte Luftsprünge und sang Lieder die er gar nicht kannte, die ihm aber plötzlich einfielen und auf seinen Kopf rieselten wie Schneeflocken. Immolius sah sich dieses Affentheater an. Er wurde wütend. Er war verwirrt. Er war traurig. Er hatte Angst. Doch zuallererst war er wütend. Er wusste nur eins: an alldem hier war dieser kreischende Affe dort drüben schuld. Jener kreischende Affe, der ganz offensichtlich gerade, vor seinen Augen, den Verstand verloren hatte. Jener kreischende Affe, der dort gerade auf dem Fenstersims tanzte und irre vor sich hin meckerte.
Sein Entschluss war eher eine Emotion als eine von der Ratio diktierte Handlung. Immolius sprang auf den Tisch und er war selbst überrascht, dass ihm das gelang. Der Tisch war gut und gerne vier Meter von ihm entfernt gewesen. Egal. Kaum war er klappernd auf dem Tisch gelandet, stieß er sich schon wieder ab und umklammerte den Alchimisten im Sprung. Dieser stand gerade besonders instabil auf einem Bein und das schiere Momentum riss ihn von diesem. Beide brachen sie durch die Fensterscheibe und stürzten gute vierzig Meter hinab.

Immolius klapperte und knackte beim Aufprall und er spürte wie fast jeder Knochen in seinem Leib brach als er aufschlug. Doch die Essenz tat das, wozu sie bestimmt war. Unter blauem Leuchten richteten sich seine Knochen wieder von selbst in die ursprüngliche Stellung und das mit ihnen verschmolzene Kupfer diktierte die Richtung. Das war der Moment in dem Immolius feststellen musste, dass er sich auf diese Weise nicht von seinem Leiden würde erlösen können. Er war unsterblich. Myrus nicht. Der Bezwinger des Todes schlug auf dem Pflaster vor seinem Turm auf und brach sich Schädel, Genick und Rippen und er hatte keine Essenz, die ihm das schnell würde richten können. Myrus starb mit einem irren Grinsen auf den Lippen, schneeweißem Haar und abgemagert bis auf die Knochen. Er würde nie wieder aufstehen. Anders verhielt es sich mit Immolius. Dieser blieb nur etwa zehn Minuten liegen und wartete auf den Tod. Als er sich eingestand, dass dies sinnlos war, stieß er einen verzweifelten Schrei aus, den jeder andere nur als gespenstisches Fauchen wahrnahm und selbst das wurde bald von Wind verschluckt.

Immolius richtete sich auf und hörte den Regen auf seinen Schädel prasseln. Er ging zurück in den Turm des Alchimisten und musste dafür ein Fenster einschlagen, durch das er im Stande war zu schlüpfen. Drinnen angekommen suchte er Kleidung. Er hatte einen Entschluss gefasst, aber um diesen zu verwirklichen musste er sich verkleiden. Im Schlafzimmer des Alchimisten fand er einen alten Kleiderschrank und als er ihn aufriss nahm er sich eine okkulte Kutte mit schwarzer Kapuze und weiten Ärmeln heraus und dazu schwarze Lederstiefel. Alles saß irgendwie falsch. Er klemmte sich zwei Kissen des Alchimisten in den Hohlraum um seine Beckenknochen und zurrte sie mit einem Gürtel darum fest. Er stapfte hoch und fand nach einigem Suchen die Vorratskammer.
Dort stand ein Fass mit Löschsand, den der Alchimist wohl für alle Fälle hier lagerte oder besser gelagert hatte. Es konnte durchaus passieren, dass die ein oder andere Chemikalie Feuer fing. Immolius kippte zwei mittelgroße Apfelsäcke mit Sand voll und zwei kleine Lederbündel mit Trockenfleisch ebenfalls.

Wieder im Schlafzimmer des Alchimisten angekommen band er sich die beiden kleinen Sandbeutel an die Waden, die mittleren legte er in die Hohlräume zu den Kissen. Nun war sein Gang nicht mehr so federnd. Ein Schwergewicht würde er in diesem Leben (war das ein Leben?) wohl nicht mehr werden, doch jetzt würde es etwas mehr als das Fliegengewicht eines ausgemergelten Alchimisten brauchen, um ihn von seinen Füßen zu fegen. Er klappte den Schrank zu und sah sich zu seinem Entsetzen selbst im Spiegel, der an der Außenseite der Tür befestigt war. Er sah ein Gerippe, in dessen Brustkorb ein halb flüssiges und halb gasförmiges, blaues Licht leicht pulsierte. Langsam trat auch blauer Nebel aus seinen schwarzen Augenhöhlen und er ekelte sich vor seinem eigenen Totenlächeln. Adern gleich zogen sich die Kupferdrähte um seine Knochen. Es war abstoßend. Wieder stieß er ein wütendes Fauchen aus und drosch mit der Faust auf den Spiegel ein, der ihn so beleidigt hatte mit dem was er ihm zeigte. Zwei seiner Mittelhandknochen brachen als er wieder und wieder auf den Spiegel einschlug, doch die Essenz (die gottverdammte Essenz) löste dieses Problem vorbildlich. Als der Spiegel zerstört war fasste Immolius einen Entschluss, der eigentlich von vornerein schon klargewesen war. Nur jetzt hatte er den Grund für seine Entscheidung gesehen. Er würde nicht zu seiner Familie gehen, er würde niemanden aufsuchen den er kannte. Er würde diesem, seinem stärksten Bedürfnis nicht nachgeben. Sämtliche Leute, die ihn so sahen, würden wahrscheinlich ihren Verstand verlieren. Er würde weggehen. Weit weg. Vorher brauchte er nur noch eine Sache.

Seine Gruft war ein Prachtbau aus weißem Marmor, vor welchem zwei martialisch aussehende Krieger, mit, auf dem Boden ruhenden Großschwertern, Wache hielten. Er stand in der Kutte des Alchimisten vor seiner offiziell letzten Ruhestätte und versuchte den Mut aufzubringen hineinzugehen. Der Anblick des so gnädig anmutenden Schicksals, aus welchem er gerissen worden war, war nur sehr schwer für ihn zu ertragen. Niemand hatte ihn auf seinem Weg hierher gesehen und trotzdem fühlte er sich beobachtet. Als er wie ein Dieb durch die Straßen der namenlosen Stadt geschlichen war, war ihm zum ersten Mal bewusst aufgefallen wie leise er sich bewegte. Myrus musste seine Knochen mit irgendetwas eingefettet haben um jedes Geräusch zu unterdrücken.

Über was man so alles nachdachte, wenn man sich vor etwas drückte! Erstaunlich! Immolius nahm all seinen Mut zusammen und schritt auf seine Gruft zu. Das Portal war über fünf Stufen zu erreichen die etwas in die Erde führten und Immolius kam jede Einzelne vor wie ein Berg von welchem er heruntersprang. Unten war es dunkel und Immolius entzündete eine der Kerzen, die er noch vorsichtshalber in die Kutte gesteckt hatte. Er war unten in der Gruft angekommen. Graue Granitfliesen kleideten den Fußboden aus und die Absätze von Immolius ´ Stiefeln hallten lange durch die Gruft. Er öffnete ein eisernes Tor und stand vor seinem leeren Sarg. Der Anblick war furchteinflößend und peinigend, aber Immolius war nicht deswegen gekommen. Er war wegen dem gekommen, was dort ganz schwach im Schein seiner Kerze reflektierte.
Seine Rüstung stand auf einem Ständer genauso wie er sie zu Lebzeiten getragen hatten und am Gürtel hing immer noch sein Rapier, mit dem er schon zu Lebzeiten so manches Leben beendet und manche Gefahr überstanden hatte. Sie waren die einzigen Freunde, die ihm bei seiner größten Aufgabe zur Seite stehen würden. Sie waren etwas rostig und das Rapier nicht mehr scharf, doch damit hatte Immolius gerechnet. Er holte Fett, Öl, Lappen und Wetzstein aus seiner Tasche und pflegte die Plattenteile der Rüstung sorgfältig. Immolius schrubbte so lange bis er sich in den Beinschienen spiegeln konnte und er klopfte den wollenden Gambeson darunter gut aus und fettete das Leder der Handschuhe wieder ein, bis es so geschmeidig wie zu seinen Lebzeiten war. Dann pflegte und schärfte er das Rapier und mit jedem Schliff mit dem diese Waffe wieder so tödlich wie einst wurde, stieg auch sein Selbstbewusstsein und seine Zuversicht die Aufgabe, die vor ihm lag zu meistern.

Dann legte er die Rüstung an. Stück für Stück und zurrte sich ganz allein fest, den einen Knappen würde er jetzt nicht bekommen. Nach einigen Stunden stand er in voller, polierter Rüstung in seiner Gruft vor seinem Sarg, den Rapier an der Seite, den Helm unter dem Arm. Die Kutte des Alchimisten hatte er als Mantel über die Rüstung gezogen und ihre Weite lies dies zu. Mit ihrer schwarzen Farbe und den königsblauen Runen auf ihr verlieh sie seiner Erscheinung etwas Imponierendes. Er setzte seinen Helm auf und war sich nun gewiss, dass niemand seinen Totenschädel sehen könnte, wenn er es nicht wollte. Er zog die Kapuze über den Helm und trat hinaus in die Dämmerung. Ein neuer Tag begann in der namenlosen Stadt, aber Immolius würde ihn nicht hier erleben. Er würde hinaus in die Welt ziehen. Er würde nie anhalten und nie müde werden bis er jemanden fand der ihn wieder von dieser Welt in die Jenseitige bringen konnte. Immolius war um seinen langen Schlaf betrogen worden und er würde ihn sich wiederholen.



Ende
 
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Ruriro

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Hallo WinterAgain,

großes Lob! Eine Mischung aus Frankenstein, dem Golem von Prag und ein bisschen Steampunk. Ich bin gespannt, wie es weitergeht!
Das einzige, was mir fehlt, wäre etwas mehr Ausführlichkeit: Allein die Entwicklung vom Kampf gegen den Tod bis zum durchgedrehten Alchemisten hätte durchaus den Umfang eines Buches verdient. Zumal Du deutlich zeigst, dass Du voll in die psychologische Tiefe einsteigen kannst!

Ich würde mich freuen, wenn die Geschichte von Immolius weitergeht (oder vielleicht auch die Vorgeschichte von Myrus genauer erzählt wird)!

Liebe Grüße!
 

WinterAgain

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Hallo Ruriro
Ich bedanke mich sehr für das Lob.
Um ehrlich zu sein bin ich selber gespannt wie es weitergeht.
LG
W.A.
 

jon

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Teammitglied
Kurzfassung:

Mir gefällt die Sprache und vor allem Sprachrhythmus (trotz der z. T. sehr langen Sätze). Gelegentlich ist es nicht so exakt gebaut und/oder präzise formuliert, wie der Sprachstil verlangt. Ich fände - vor allem angesichts der etwas schwerfälligen, fast altertümelnden Sprache - mehr Luft-schaffende Absätze gut. Was mich ärgert, sind die (noch immer) vielen Fehler.

Langfassung:

Ort: die namenlose Stadt; der Turm des Alchmisten
Später im Text steht meist "die Namenlose Stadt", was eben das zum Namen der Stadt macht. Du musst dich entscheiden, ob "Namenlose Stadt" oder "namenlose Stadt".


Myrus Magnificens war der klügste Mensch der Welt. Das war keine Lobhudelei kriecherischer Ratten oder eine hochtrabende Selbsteinschätzung seiner selbst, es war ein Fakt.
Richtig wäre (z. B.): keine Lobhudelei und auch keine hochtrabende Selbsteinschätzung oder weder eine Lobhudelei noch eine hochtrabende Selbsteinschätzung
Reizvoll finde ich die Mischung aus den alten, behäbigen Sprachstrukturen und dem modernen, manchmal sogar modischen Vokabular. "Fakt" z. B. ist in dieser Verwendung ein modischen Wort, "Tatsache" wäre das organisch zur Struktur passende Wort.

Er entstammte einem ebenso weitverzweigten wie hochdekorierten Stammbaum von Alchimisten, eben jener BerufsgruppeKOMMA die die Namenlose Stadt zu dem gemacht hatteKOMMA was sie heute war: das Zentrum der zivilisierten Welt (und auch der unzivilisierten) und der Mittelpunkt allen Strebens.
zu "Namenlose Stadt" siehe oben
Präzision: Man entstammt keinen Stammbaum, sondern einer Familie oder Dynastie.
Keine Klammern im Erzähltext! Die Faustregel ist: Schreib so, wie man es vorlesen würde. Hier heißt das: Entweder die Klammern weglassen oder – wenn ein Einschub gesprochen werden soll – Gedankenstriche.

Alchimisten waren viele Dinge zugleich.
Nein, waren sie nicht. Sie waren nicht mal ein Ding.

Sie waren Mathematiker, Biologen, Astronomen und Astrologen, Wahrsager, Magier, Bibliothekare, Dichter, Physiker, Ärzte, Scharlatane, Intellektuelle und vor allem niemals zufrieden.
Das hat am Ende durchaus seinen Witz, aber im Großen und Ganzen ist das Unsinn. Ein Alchemist ist einer, der Alchemie betreibt. Ein Alchemist, der sich auch mit Mathematik beschäftigt, ist Alchemist und Mathematiker - und eben nicht nur Alchemist. Davon abgesehen ist das eine de facto nicht realisierbare Mischung. Und: Hier stört mich ausnahmsweise mal das moderne Vokabular.

Myrus war eine Bildung und Erziehung vergönnt gewesen, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Er hatte Bücher nicht nur gelesen, sondern sie auswendig gelernt, hatte Tiere nicht nur seziert, sondern sie in ihre Einzelteile zerlegt, sie vermessen und sich jedes Detail so akribisch und sorgfältig eingeprägt, dass er sie vor seinem geistigen Auge erschaffen und wieder zerfallen lassen konnte, wann immer ihm danach war.
Das mit dem Auswendiglernen hat nur wenig mit Bildung zu tun.
Die "nicht nur - sondern auch"-Konstruktionen passen nicht zueinander: Bei den Büchern sind "lesen" und "auswendig lernen" zwei Schritte, bei den Tieren ist der "sondern"-Teil eine Präzisierung von "sezieren". Und: De facto hat er also auch die Tiere "auswendig gelernt".
PS: Das sind nur zwei Elemente - angeblich beschäftigt er sich als Alchemist aber mit viel mehr Dingen/Themen.

Myrus war ein wandelndes Nachschlagewerk und immer darum bemühtKOMMA seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern.
Ein Nachschlagewerk ist nicht klug - das also macht ihn nicht zum klügsten Menschen der Welt.

Ja Myrus war der klügste Mann der Welt und er hatte fest vorKOMMA nun auch der bedeutendste zu werden.
Wann ist "nun"?

Er wollte es mit einem Feind aufnehmen und seiner Bestimmung zu folgen.
Schlecht gebaut: Das klingt, als wäre egal, was für ein Feind das ist. Eventuell: mit seinem Feind Oder: mit dem Feind ("dem" eventuell kursiv).

Diesen Feind hatte noch nie jemand besiegt, weder sein Vater noch dessen Vater noch alle Väter, die ihm vorangingen: den Tod.
vorangegangen waren

Myrus nahm in jungen Jahren den Kampf auf und lernte und forschte ohne Unterlass.
Zusammen mit dem "nun" von eben heißt das, dass Myrus schon in jungen Jahren der klügste Mensch der Welt war - da ist nicht viel Zeit-Spielraum für den beschriebenen Werdegang.

Die ersten zehn Jahre seiner Forschung beobachtete er nur.
Präzision: Während der ersten zehn Jahre

Ein Frosch mag im Vergleich zu einer Schildkröte ein sehr kurzes Leben haben, doch im Vergleich zu einer Kirschblüte war dieses Leben fast unfassbar lang.
mochte

Allerdings kann eben jene Kirschblüte an einem Baum wachsen, der das Alter der Schildkröte um ein Vielfaches übersteigt.
konnte, überstieg
Falsch: Ein Baum kann das Alter von wem auch immer nicht übersteigen. Das Alter des Baumes kann das. Oder der Baum kann wen auch immer im Alter übertreffen.

Was machte diesen Baum so alt?
Die Zeit? Nein im Ernst: Du meinst Was ließ den Baum so alt werden?

Es waren schier endlose Fragen und auch eine schier endlose Arbeit und Myrus war das ein ums andere Mal an ihr verzweifelt.
war ein ums andere Mal
Wobei: Zeitfehler! verzweifelte ein ums anders Mal

Man sah ihn nicht selten neben einer der Alleen der namenlosen Stadt stehen, die Hände in die Borke einer alten Eiche gekrallt, sie mit aller Kraft schüttelnd und aus vollem Hals brüllend "verrate mir sein Geheimnis! los! ich befehle es dir! WAS - IST - DEIN - GEHEIMNIS?!"
Wenn er neben der Allee steht, kommt er gar nicht so nah an die Alleebäume ran.
Eine alte Eiche schütteln?? Ob Myrus der klügste Mensch ist, ist bislang eine Behauptung, die durch nicht Sichtbares bestätigt wird, aber dass er einer der stärksten Menschen sein muss, wird hier deutlich. - Ach nein! Da steht ja, dass er die Borke schüttelt. Das ist nicht nett. ;)
brüllen: "Verrate
Wessen Geheimnis soll die Eiche verraten? Des Todes? Sie lebt doch noch, wie kommt Myrus darauf, dass sie es kennen könnte?
Los! Ich

Die übrigen Städter waren bestenfalls befremdet und schlimmstenfalls belustigt über das Verhalten dieses Menschen, dem es vorherbestimmt warKOMMA der klügste Mensch der namenlosen Stadt zu sein.
zur Stadt: siehe oben
Wie "vorherbestimmt"? Durch was oder wen? Und wieso wird das überhaupt erwähnt? Er ist es - Punkt.

Aber Myrus begriff etwas.
Wieso "aber"?

Langsam zwar, doch er begriff: Leben bzw. ein langes Leben war eine gute Mischung aus Pflege der Bedürfnisse, Enthaltsamkeit, Willen und Glück.
Keine solche Abkürzungen im Erzähltext! Du würdest ja nicht vorlesen: … Leben be zett weh Punkt ein …
"Pflege der Bedürfnisse" ergbt keinen Sinn. Du meinst wohl Pflege und Erfüllung der Bedürfnisse
Aha. Bäume üben also Enthaltsamkeit. Und sind ganz toll gewillt, was auch immer zu tun.
Wenn er wirklich der klügste Mensche der Welt ist und so verdammt lange für diese Erkenntnisse braucht, dann will ich nicht wissen, wie brettern ein durchschnittlich kluger Mensch dieser Welt ist.

So glücklich er warKOMMA als er diese Erkenntnis hatte, so deprimiert war erKOMMA als er genauer über sie nachdachte. Was sollte er mit seiner Erkenntnis anfangen?
Der klügste Mensch der Welt sucht also jaaahrelang nach einer Antwort, die ihm bei seiner eigentlichen (selbstgestellten) Aufgabe gar nichts nützt? Ich wiederhole mal: Wie dumm sind dann die "Normalen"?

Er konnte eine Pflanze, ein Tier oder gar einen Menschen so lange hätscheln und pflegenKOMMA wie er wollte, irgendwann starb sie, es oder er mit absoluter GewissheitKOMMA und das Glück war selbst für einen Alchimisten ungreifbar.
würde sterben
Was hat das Glück in diesem Satz zu suchen?

Vielleicht gelang es in ferner Zukunft irgendjemandem (seinem Sohn vielleicht?)KOMMA diese störrische, inkonstante Konstante zu zähmen, doch Myrus würde nicht dieser Jemand sein.
Hat er denn einen Sohn?
Keine Klammern!
Was denn für eine Konstante?? Das Glück? Das ist - wie richtig angedeutet - keine Konstante, sondern in dieser "Gleichung" eine Variable. (Eine, die zudem zeitabhängig ist.)
Konstanten sind konstant – da gibt es nicht zu "zähmen".
Ja natürlich wird es Myrus nicht sein, wenn es erst jemand in ferner Zukunft ist.

Das EinzigeKOMMA was ihm bliebKOMMA war der Wille.
Nö. Da war doch was mit Enthaltsamkeit …


Einschub: Oben steht
Ort: die namenlose Stadt; der Turm des Alchmisten
Also all das, was bis jetzt erzählt wurde, findet dort statt? Auch das mit dem Eichenbaumborkeschütteln?

Nachtrag: Das mit dem schönen Rhythmus findet sich in der Langfassung nicht wieder, weil ich dafür den Textfluss zerrupfen musste. Ich meine damit die Mischung aus langen und kurzen Sätzen, die verhindert, dass der Text zu einem Klang-Brei verschwimmt. Dieses Risiko besteht bei diesem Grundstil ja - das wird sehr gut durch diesen Längenwechsel aufgebrochen. Wenn jetzt noch ein mutigeres Spiel mit Absätzen dazukäme …



Ich unterbreche hier mal aus Zeitgründen. Auf Wunsch gern mehr.
 
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WinterAgain

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Ort: die Namenlose Stadt; der Turm des Alchimisten

Zeit: irgendwann




Myrus Magnificens war der klügste Mensch der Welt. Das war weder Lobhudelei kriecherischer Ratten oder hochtrabende Selbsteinschätzung, es war ein Fakt. Er reihte sich in einen ebenso weitverzweigten wie hochdekorierten Stammbaum von Alchimisten, eben jener Berufsgruppe, die die Namenlose Stadt zu dem gemacht hatte, was sie heute war: das Zentrum der zivilisierten - und auch der unzivilisierten - Welt und der Mittelpunkt allen Strebens, ein. Alchimisten waren Koryphäen verschiedenster Wissenschaften. Sie waren Mathematiker, Biologen, Astronomen und Astrologen, Wahrsager, Magier, Bibliothekare, Dichter, Physiker, Ärzte, Scharlatane, Intellektuelle und vor allem niemals zufrieden. Myrus war eine Bildung und Erziehung vergönnt gewesen, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Er hatte Bücher nicht nur gelesen, sondern sie auswendig gelernt, hatte Tiere nicht nur beobachtet und ihr Verhalten studiert, sondern sie seziert, in ihre Einzelteile zerlegt, vermessen und sich jedes Detail so akribisch und sorgfältig eingeprägt, dass er sie vor seinem geistigen Auge erschaffen und wieder zerfallen lassen konnte, wann immer ihm danach war. Myrus war ein wandelndes Nachschlagewerk und Erfinder in einem, immer darum bemüht, seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern. Ja Myrus war der klügste Mann der Welt und er hatte fest vor, auch der bedeutendste zu werden. Er wollte es mit dem Feind allen Lebens aufnehmen und seiner Bestimmung folgen. Diesen Feind hatte noch nie jemand besiegt, weder sein Vater noch dessen Vater noch alle Väter, die ihm vorangegangen waren: den Tod.

Myrus nahm in jungen Jahren den Kampf auf und lernte und forschte ohne Unterlass. Die ersten zehn Jahre seiner Forschung verbrachte er mit Beobachten, Skizzieren, Lesen und Notieren. Wie lange lebten welche Lebewesen unter welchen Bedingungen, was war lebensverkürzend oder -verlängernd, was war alt und was war jung und in welcher Relation zu welchem "jung" gibt es eigentlich ein "alt"? Ein Frosch mochte im Vergleich zu einer Schildkröte ein sehr kurzes Leben haben, doch im Vergleich zu einer Kirschblüte war dieses Leben fast unfassbar lang. Allerdings konnte eben jene Kirschblüte an einem Baum wachsen, dessen Lebenszeit das Alter der Schildkröte um ein Vielfaches überstieg. Wie brachte dieser Baum es fertig so alt zu werden? Wer oder was ließ dies zu? Es waren schier endlose Fragen und auch eine schier endlose Arbeit und Myrus verzweifelte ein ums andere Mal an ihr. Man sah ihn nicht selten neben einer der Alleen der namenlosen Stadt stehen, die Hände in die Borke einer alten Eiche gekrallt, sie mit aller Kraft schüttelnd und aus vollem Hals brüllen: "Verrate mir dein Geheimnis! Los! Ich befehle es dir! WAS - IST - DEIN - GEHEIMNIS?!" Die übrigen Städter waren bestenfalls befremdet und schlimmstenfalls belustigt über das Verhalten dieses Menschen, der eigentlich die geistige Elite der Namenlosen Stadt darstellen sollte. Trotz seiner etwas unorthodoxen Methoden und teils heftigen Gefühlsausbrüche, begriff Myrus etwas. Langsam zwar, doch er begriff: Leben, oder besser, ein langes Leben war eine gute Mischung aus Pflege, Willen und Glück. So glücklich er war als er diese Erkenntnis hatte, so deprimiert war er als er genauer über sie nachdachte. Was sollte er mit seiner Erkenntnis anfangen, wo er doch nur Einfluss auf die Pflege hatte? Und er konnte eine Pflanze, ein Tier oder gar einen Menschen so lange hätscheln und pflegen, wie er wollte, irgendwann würde sie, es oder er mit absoluter Gewissheit doch sterben. Jeder Bauer, der sein Zugpferd schlachtet, da es nicht mehr kräftig genug ist, um seinen Pflug zu ziehen, wusste das.
Man musste kein Alchimist sein, um das zu verstehen, man musste aber einer sein, um ein so großes Ego aufzubauen, dass man dachte dies mit ein paar Tinkturen, Salben, Beschwörungen und Inhalationen ändern zu können. Myrus hatte versucht ein Pferd zu reiten aber einen Esel gesattelt, kurz: er war die Sache von Grund auf falsch angegangen. Zu seinem großen Leidwesen war selbst für einen Alchimisten das Glück ungreifbar. Vielleicht gelang es in ferner Zukunft irgendjemandem diese Variable in eine Konstante zu verwandeln und dahingehend zu zähmen, doch Myrus konnte nicht dieser Jemand sein. Er hatte andere Aufgaben.

Das Einzige, was ihm jetzt noch zur Forschung blieb, war der Wille. Der Wille zu leben, weiter zu existieren, der jedem Lebewesen innewohnt, das war es, worauf er sich konzentrierte. Aber der Wille allein war wie ein Geist: ohne Körper und ungreifbar für ihn und bei jedem Lebewesen war er unterschiedlich stark ausgeprägt. Myrus verzweifelte über diesen Gedanken und war eines Abends kurz davor aus dem obersten Fenster seines schwarzen Turms zu springen, doch gerade als er auf den Sims steigen wollte, glitt er aus und konnte sich gerade noch an einem Bücherregal festhalten. Dies war aber dazu gedacht, Bücher und nicht Alchimisten in der Lebenskrise zu tragen und brach aus der Wand. Ein Regen aus Büchern ging auf ihn nieder und eins traf Myrus so hart an der Schläfe, dass er Sternchen sah. Er rappelte sich auf und sah auf das Buch, dass ihn fast besinnungslos geprügelt hätte. Es war ein schwerer Dünndruckwälzer von viertausend Seiten mit schwerem, muffigem Ledereinband.
Das war ...
Moment mal ...
Myrus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Es waren die psycho-magischen Schriften und Zauberformeln über Gedanken- und Gefühlskontrolle von dem Magier und Wissenschaftler Adalbertius Incognitio. Myrus erinnerte sich dieses Buch gelesen zu haben, zumindest in Auszügen. Er erinnerte sich an eher esoterischen als empirischen oder magischen Lesestoff und, der zu gut zwei Dritteln wertlos war, doch es gab einige Zaubersprüche und Rituale, die tatsächlich neu waren mit dem Potenzial revolutionär zu werden. Besonders in Erinnerung war Myrus das Ritual über die Konservierung von Emotionen geblieben. Von Liebe, Hass, Neid und Scham. Wieso sollte es eigentlich nicht auch mit Trotz gehen? Was war denn der Wille zu Leben anderes als der Größte Trotz den ein Lebewesen aufbringen konnte? Wie unter Strom stand Myrus auf und in seinem Hirn arbeitete es. Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan. Ein Plan der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun, doch das was sich da in seinem Kopf formte war ein Lebenswerk. Ein Monument. Ein epochales Meisterwerk.

Am liebsten hätte er Adalbertius Incognitio umarmt, nur hatte der vor mittlerweile vierzig Jahren gelebt und war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Schmachtens zu der Erkenntnis gekommen, dass er ein Weibchen der, in den Bergen hinter der namenlosen Stadt lebenden, Riesenskorpione zu heiraten hatte woraufhin ihn die Braut erst vergiftete, dann mit ihren Scheren sauber in zwei Teile schnitt und anschließend fraß (die Geschichte schweigt sich übrigens darüber aus WER Adalbertius und den Skorpion getraut hatte). Myrus war wie im Rausch für fast zwei Jahre verließ er seinen Turm nicht. Er musste erst Dinge herstellen. Er brauchte einen Impuls, einen Impuls der stark genug war, um eine Emotion zu stimulieren, sollte sie einmal durch das Ritual des Adalbertius Incognitio verkörpert worden sein. Er brauche eine Flüssigkeit, einen Stoff, in dem er diese Emotion und die Impulse konservieren konnte, er brauchte ein Gefäß, das diese Substanz halten und sich an den Körper eines Probanden anpassen lassen konnte und dafür brauchte er einen geeigneten Probanden. Myrus löste alle seine Konten bei der Bank der namenlosen Stadt auf und verschleuderte das Bargeld an seine Spitzel, die ihm geeignete Probanden aussuchen sollten. Myrus wollte einen Menschen, bei welchem der Trotz dem Tod etwas entgegenzusetzen, beispiellos mächtig war.

So kam Immolius Gladortalis in den Turm des Alchimisten.
Immolius war einhundertsechs Jahre alt, was in der Unterschicht der Namenlosen Stadt für zwei gute Durchschnittsleben gereicht hätte. Er hatte ein erfülltes Leben geführt als er eines Tages um die Mittagszeit herum an Altersschwäche starb. Immolius´ Trotz war stark, doch der Tod war stärker. Er war ein altgedienter General der Armee gewesen, ein kluger Taktiker und ein großer Freund des Kampfes. Sein Rapier hatte mehr Leben genommen als die Waffen mancher Kompanie zusammen. Er wurde in allen Ehren beigesetzt und die Trauerfeier war glorreich und die Menge der Trauergäste groß. Doch die Nacht war dunkel. Zwei leprakranke Schergen von einem von Myrus´ Bediensteten hatte von der Beerdigung Wind bekommen und beichtete dem Spitzel davon, welcher es wiederrum Myrus zutrug. Man sah dann in der darauffolgenden Nacht zwei dubiose Gestalten an der Gruft des Immolius Gladortalis. Am Tag darauf war Myrus in seinem Labor und hantierte freudig an seinen Geräten herum. Der Proband lag auf seinem Tisch und das Experiment konnte beginnen. Er war etwas übernächtigt, doch die Wissenschaft schlief nicht. Er holte die Schriften des Adalbertius Incognitio aus ihrem Regal und er öffnete sie andächtig. Das Ritual konnte beginnen. Myrus zeichnete mit fahrigen Fingern die Beschwörungszeichen auf den Boden rund um den Körper und in dem Moment, in dem sich das letzte in die Reihe fügte, leuchteten sie strahlend auf.
Nun kam der anstrengende Teil des Rituals. Myrus kniete sich auf den kalten Boden und betete die Formeln zur Beschwörung herunter. Alle vierhundertsechzehn. Auswendig.
Und wenn er fertig war, fing er wieder von neuem an. Emotionen und Gedanken, die noch in dem Toten steckten, waren wie glitschige Aale und Myrus musste sie in seine Netze treiben. Geduldig und ohne müde zu werden wiederholte er die vierhundertsechzehn Formeln kniend vor dem erkaltenden und langsam faulenden Körper. Er zählte nicht mit, weil auch er selbst sich in einer Art Trance befand, doch rückblickend glaubte er etwa zwei Tage so auf Knien vor der Leiche von Immolius Gladortalis gekniet und die Formeln vor sich her gemurmelt zu haben. Er sprach sie mit sturer Beharrlichkeit so lange, die auch die letzte Emotion und der letzte Gedanke aus dem Körper, der mal Immolius Gladortalis gewesen war, herausgepresst sein würde.

Nach zwei Tagen des ununterbrochenen hin- und her Schaukelns und Murmelns, zeigte das Ritual plötzlich Wirkung. Es tat dies so überraschend und abrupt, dass Myrus zuerst glaubte jemand hätte ihn mit einem Knüppel zu Boden geprügelt. Ein stechender Schmerz schoss ihm in die Augäpfel und Ohrmuscheln und seine Nebenhöhlen schienen so groß wie Wassermelonen zu werden. Ein krümmte sich unter schweren Magenkrämpfen und seine Kiefer stießen in spastischen Zuckungen immer wieder aufeinander, sodass er sich um ein Haar einen Gutteil seiner Zunge abgebissen hätte. Er schwitzte und weinte Blut und trotz seiner jungen Jahre wurden seine Haare in Sekunden schneeweiß. Die Runen auf dem Boden schienen nun zu pulsieren und gleichzeitig in einer unbekannten Sprache zu flüstern, zu schreien und zu singen. Myrus lag dort auf dem Boden und konnte nur einen klaren Gedanken fassen: etwas muss schiefgelaufen sein, etwas muss schiefgelaufen sein, etwas mu... Und dann genauso plötzlich wie die Wirkung des Rituals eingesetzt hatte, war sie vorbei. Was übrig blieb war ein keuchender Alchimist in einer Lache seines ausgeschwitzten Blutes umgeben von irgendwelchen wilden Zeichen. Myrus hob den Kopf und war augenblicklich der Überzeugung, dass rein gar nichts bei dem Ritual "schiefgelaufen" war. Im Gegenteil. Das Ritual hatte planmäßig funktioniert, Adalbertius Incognitio hatte nur über seine Nebenwirkungen geschwiegen, da es sonst wohl nie jemand versucht hätte. Myrus konnte das sehr gut verstehen. Über dem Körper von Immolius schwebte nun eine Kugel, die aussah wie aus Wasser gemacht. In ihr schienen Gesichter zu schweben. Wenn man genau darüber nachdachte war "Gesichter" wohl etwas zu schmeichelhaft "Fratzen" träfe wohl eher. Sie zogen sich zusammen und dehnten sich aus, stülpten sich von innen nach außen und schienen aber alle Myrus anzuschauen. Die Emotionen waren verkörpert worden. Das Ritual hatte Erfolg gehabt.

Myrus musste nun den nächsten Schritt einleiten. Er brauchte jene halb magische, halb chemische Kraft, die sich wie ein Parasit an Materie klebt: Die eine Materie, die in der Lage ist Kraft zu besitzen und zu bündeln, wo es eigentlich keine geben sollte. Er verbrachte nun die nächsten Monate damit diese alchimistische Essenz aufzukochen. Das war keine leichte Angelegenheit, war doch jene Essenz doch nichts anderes als die konzentrierte Mischung jedes Elementes, das in der alchimistischen Welt existierte. Myrus mischte flüssiges Eisen mit flüssigem Arsen und fügte dem Ganzen noch eine gute Schippe Quecksilber hinzu und dann fehlte Gold als Neutralisator und Chlor als Katalysator. Die Möglichkeiten waren zwar nicht endlos doch vielfältig und es musste mancher Kopf rollen, manches Versprechen getan werden und mancher Geldbeutel den Besitzer wechseln, um die Elemente zu beschaffen, die Myrus benötigte.
Er sättigte die Essenz zusätzlich mit Pflanzen und Kräutern ebenso wie mit Tieren und Nährstoffen und vor allem das Quieken und Fiepsen der Tiere, erfüllte die Umgebung mit Geräuschen, bei denen jedem geistig gesunden Menschen nicht ganz wohl sein sollte. Die Essenz blubberte und kochte und an dem Schwappen, dass sie ohne jedes Zutun von außen, zeigte, erkannte Myrus, dass die Essenz reif war. Noch nie hatte jemand es gewagt, die verkörperten Emotionen eines Toten mit jener kraftverleihenden und unberechenbaren Essenz zu vermischen, die sich wie ein Bandwurm an Dinge klammerte und nicht mehr losließ. Er hatte nur eins vergessen. Es fehlte noch etwas: wirkliche, menschliche Intelligenz.

Auch über dieser Aufgabe zerbrach sich Myrus mehrere Jahre den Kopf, während der Körper von Immolius immer weiter zerfiel und von Tag zu Tag nicht mehr als das Skelett auf dem Tisch lag, welches die Decke von Myrus Labor angrinste. Myrus verlagerte seine Studien nun darauf zu erforschen wie Denken funktioniert und abläuft. Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen nun all seine Experimente und Erkenntnisse darzulegen und die Schlüsse die er aus denselben zog näher zu erläutern (es wäre ein eigenes Buch für sich) daher hierzu nur so viel: nach drei Jahren des Studiums kam Myrus zu dem Schluss, dass jeder Gedanke ein Impuls im Hirn war und das Hirn war nichts anderes als ein Übersetzer, der diese Impulse auffängt und seine Schlüsse aus ihnen zieht. Myrus machte sich nun daran selbst so einen Übersetzer zu bauen und ihn in den Kopf des Skelettes einzusetzen.
Er verband dann schließlich auch die Extremitäten des Skelettes mit seinem eigens gebauten Gehirn aus Kupferdraht. Geduldig wickelte er Knochen zusammen und stabilisierte das Gerippe, dem nun mehr und mehr organisches Material fehlte, um es auf natürliche Weise zusammenzuhalten. Jetzt fehlte nur noch der anfängliche Impuls mit dem Myrus dem Organismus seine Intelligenz, sein kontrollierendes Element in Schwung bringen wollte.

Myrus hatte alle Komponenten beisammen, um nun sein Lebenswerk einzuleiten. Zuerst bedurfte es einer Paarung der Essenz mit den konservierten Emotionen. Die Essenz war erstaunlich offen für die Materie der Emotionen und mit einem glücklichen Schmatzen nahm sie die Materie in sich auf. Nach ein paar Sekunden färbte sich die Essenz anders ein. War sie vorher noch eine milchige grünlich- weiße Masse gewesen, klarte sie sich jetzt auf und wurde erst smaragdgrün, dann knallgelb, für einen kurzen Moment tiefschwarz und dann verblieb sie in einem satten, klaren blau, dass aus sich selbst zu leuchten schien. Er ließ diese emotionsgeschwängerte Essenz kontrolliert auf den Körper los und die Essenz klebte sich wie eine halb flüssige- halb gasförmige Nacktschnecke an die Gerippe. Sie schien neugierig und kroch in jeden Winkel und jeden Hohlraum, den das Skelett ihr bot, um sich dann im Rippenkorb einzunisten und zu ruhen schien. Jetzt kam der gefährliche Teil der Verschmelzung: Myrus musste in das Labor, nahe an die Essenz heran und das Kupferkabel, welches er schon Tage zuvor an der obersten Spitze seines Turmes angebracht hatte, mit jenem kupfernem Gehirn verbinden, dass er selbst in mühevoller Kleinarbeit entworfen, gefertigt und in den Schädel anstelle des längst verwesten Gehirns eingesetzt hatte.

Er näherte sich vorsichtig dem Gerippe des Probanden und hantierte am Schädel herum. Er bohrte ein kleines Loch mit einem Handbohrer in die Schädeldecke und versuchte den Draht durch dasselbe zu schieben. Kaum war der Bohrer durch die Schädeldecke gebrochen, da gab die Essenz schon ein Geräusch von sich, das an Wind erinnerte, der um ein kleines Hexenhäuschen in sturmgepeitschter Nacht herumweht und sie schloss das Loch im Schädel einem blauen Lichtschein innerhalb von Sekunden. Myrus war arg erschrocken als er diesen laut hörte und gut eine Körperlänge zurückgesprungen. Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn und trat mit weichen Knien wieder an den Körper heran. Ihm fiel jetzt in diesem Moment ein, dass er die Essenz zwar erschaffen hatte, doch kontrollieren konnte er sie nicht. Genaugenommen hatte er keine Ahnung ob sie gefährlich war oder nicht. Überhaupt wusste er nicht wie man die Essenz zerstören konnte, außer sie mit der Zeit veralten zu lassen. Er schob diese Gedanken beiseite. Er war jetzt zu weit gegangen um umzukehren und hatte zu hart gearbeitet um jetzt abzubrechen!

Ja das sind die Gedanken die Wissenschaftler sich selbst einreden, wenn sie ihren inneren Kompass zu beruhigen versuchen.

Schweren Herzens fing Myrus also wieder zu bohren. Als er spürte, dass die Decke des Schädels allmählich nachgab hielt er das Ende des Drahtes schon parat um ihn mit dem "Hirn" in Kontakt zu bringen bevor die Essenz die Verwundung des Wirtskörpers heilen konnte. Das Loch klaffte auf -wieder dieses windige Geräusch von der Essenz- und so schnell er konnte schob Myrus den Draht in das Loch und spürte wie er das "Hirn" im Inneren traf. Dann war das Loch auch schon zugewachsen und Myrus hätte den Draht selbst nicht besser im Schädel fixieren können. Jetzt wartete Myrus auf den Impulsgeber, in seinem Fall auf einen Blitz, der, so die Theorie, in die Turmspitze einschlagen und am Kupferdraht entlang in den Schädel fahren und in ihm die Impulse auslösen würde, die die Essenz kontrollieren und die in ihr gelösten Emotionen verstehen und hervorrufen könnten. Die Essenz würde mit dem Hirn in einer seltsamen Mischung aus Symbiose und technischer Abhängigkeit miteinander leben müssen, wie in einem echten, vollständig biologischen Körper, der ja auch nur funktioniert, wenn alle seine Bestandteile miteiander in Symbiose und Abhängigkeit funktionieren. Was war in einem solchen ein Hirn ohne das Herz? was das Herz ohne das Hirn? Myrus musste jetzt nur noch auf einen Blitz warten und da dieser von Myrus so ersehnte Gast immer in einer Reisegruppe zusammen mit Donner und Regen zu erscheinen pflegt, hoffte Myrus sehnsüchtig auf ein Gewitter. Er musste sich drei ganze Wochen gedulden bis er mit einem freudigen Lächeln fernen Donner vernahm.

Um Myrus´ Turm stürmte und tobte es. Regen klatschte immer in regelrechten Wellen gegen die Fenster und der Donner war gerade im Labor ohrenbetäubend. Myrus sah gerade mit einer seltsamen Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung in seinem Labor und starrte aus dem Fenster nach draußen. Gerade wollte er das Barometer zum x-ten Mal überprüfen, als es laut knallte und das Kupferkabel auf einmal glühte. Es knisterte und knackte und das Glühen fuhr unaufhaltsam auf den Schädel zu. Es war getan. Als das Glühen nun auch den Schädel erreichte wehte die Essenz nicht nur, sie schrie regelrecht auf. Es war ein Geräusch, dass aus den untersten Kreisen der Hölle kommen musste und Myrus versteckte sich völlig verstört hinter einem Stuhl. Funken stoben aus dem Brustkorb des Gerippes und die Essenz erinnerte zeitgleich an einen Tornado und an ein Meer im Sturm. Sie wallte auf und schien zu fauchen und das Kupfer um die Knochen herum glühte und wurde so weich bis es untrennbar mit den Knochen des Skelettes verschmolzen war. Dann war es wie bei dem Ritual des Adalbertius Incognitio auf einmal ganz still. Myrus lugte etwas hinter dem Stuhl hervor nur um dann sofort vor Schreck wieder rückwärts umzufallen. Wie ein Mensch, der aus einem Albtraum erwachte, schoss das Skelett in die Höhe und riss dabei de Kupferdraht ab, der an das Dach gebunden war. Es rutschte zurück und strampelte mit den Füßen und fiel dann klappernd von eben dem Tisch, auf dem es fast zehn Jahre lang gelegen hatte. Blaue Nebel der Essenz stiegen aus seinen Augenhöhlen und seinem Schlund und die Essenz in seinem Rippenkorb schien zu pulsieren und ihn verlassen zu wollen. Die Essenz konnte aber nicht mehr weg. Sie würde nie wieder wegkönnen.

Der Tote rappelte sich auf und schien das erste Mal einen Blick auf seine knöchernen Finger zu werfen. Er drehte sie vor seinen Augen nur eine kurze Zeit lang, dann schüttelte er sie als hätte er eine Spinne darauf entdeckt. Er blickte an sich herab und umfasste ungläubig seine Rippen und sein Brustbein. Er schreckte vor der Essenz in seinem Brustkorb zurück und sah sich um. Hätte es Gesichtszüge gehabt, so wären sie in diesem Augenblick panisch gewesen. Scheinbar verwirrt sah der Tote sich um und blickte auf das Fenster. Myrus verstand was er tun wollte und er spurtete hinter seinem Stuhl hervor, schnitt dem Untoten den Weg ab und warf ihn nieder. Der Untote war erstaunlich flink auf den Beinen, doch Myrus konnte ihn noch rechtzeitig einholen. Es gab nichts was der Untote gegen Myrus Attacke tun konnte, denn Essenz hin, Essenz her, das Skelett eines Menschen wog nur etwa 20kg und es war Myrus ein leichtes eben diese 20kg umzuwerfen. Der Untote wehrte sich gegen ihn und Myrus hörte wie seine Rippen knackten und einsackten, nur um von der Essenz wieder nach außen gedrückt und geheilt zu werden. Myrus nahm den Totenschädel in beide Hände und blickte ihm in die Toten Augenhöhlen "Sie mich an!" rief er laut "Sieh mich an! beruhige dich" Langsam hörte das Gerippe auf unter ihm herumzuzappeln. Er spürte das es ihn ansah. Die blauen Nebelschwaden, die in seinen Augenhöhlen eben noch so präsent gewesen waren, schienen sich etwas weiter in den Schädel zurückzuziehen. Myrus sah dies als verhältnismäßig gutes Zeichen und stieg von dem Gerippe herunter und es richtete sich auf und sah sich jetzt bewusst im Raum um. Dann sah es Myrus an und klapperte mit den Zähnen.

Myrus brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass das Skelett mit ihm reden wollte. Er unterbrach es "ich verstehe dich nicht!" sagte er "du hast keine Stimmbänder mehr, du kannst nicht reden" Das Skelett griff sich hastig an die Kehle und Myrus Empathie sagte ihm, dass die gerade erst niedergekämpfte Panik es wieder zu übermannen drohte. Und so ging er vorsichtshalber einen Schritt auf den Untoten zu und umklammerte seine Schultern "Ich weiß das du Angst hast" der Untote sah sich hektisch nach links und rechts um und versuchte Myrus´ Hände von seinen Schultern zu wischen, doch der Alchimist hielt ihm stand "Ich weiß das du verwirrt bist" sagte er. Wieder machte das Skelett Anstalten sich aus Myrus´ Griff zu winden und der blaue Nebel tauchte wieder in seinen Augen auf. Fieberhaft überlegte Myrus wie er zu dem Untoten durchdringen konnte. Wie nannte er ihn in seinen Gedanken überhaupt? Er hieß doch ...

"Immolius!" rief er laut und der Angesprochene hielt kurz inne. Er hatte ihn. "Immolius" rief Myrus noch einmal "Du bist Immolius Gladortalis, der größte Held und Kämpfer unserer Zeit! Erinnerst du dich?!". Selbstverständlich war dies nur ein Schuss ins Blaue, Myrus hatte keine Ahnung ob oder woran sich jemand (war das da überhaupt ein Jemand?) nach dieser Erweckung erinnern konnte. Myrus Magnificens, der klügste Mensch der Welt, hatte keine Ahnung was er tat. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er raten und eben diesen Schuss ins Blinde wagen. Das Skelett nickte. Langsam. Bedächtig. Der Nebel zog sich wieder zurück. Myrus sah Immolius weiter an und war nun sicher ihn loslassen zu können. Immolius stand einfach nur da und schien zu einer Salzsäule erstarrt. Dann marschierte er links an Myrus vorbei zu einem der vier Schreibtische, die in seinem Labor standen. Myrus beobachtete die Bewegungen von Immolius. Er ging unnatürlich schnell und seine Arme schwangen etwas zu stark an seinen Seiten hin und her, so stark sogar, dass es fast lächerlich aussah. Sein Gang wirkte sehr federnd und im Schein der Kerzen leuchtete das halb geschmolzene Kupfer auf seinen Knochen leicht orange, was im extremen Gegensatze zum kalten, bläulichen Schein der Essenz in seinem Brustkorb und in seinen Augenhöhlen stand. Immolius griff sich wahllos ein Papier und einen Bleistift und schien etwas darauf zu kritzeln. Dann stakste er wieder federnd zu Myrus und gab ihm den Zettel. Myrus las: Was hast du mit mir gemacht?

Myrus schluckte. Auf die naheliegendste Frage hatte er sich nicht vorbereitet. Aus einem Instinkt und einem Schuldgefühl heraus entschied Myrus, dass dieser arme, tote Mann wenigstens die Wahrheit verdiente "Mein Name ist Myrus Magnificens. Ich bin Alchimist und... nunja ich habe dich von den Toten zurückgeholt" Immolius rührte sich nicht. Nur der blaue Nebel trat wieder in seine Augenhöhlen. Er schien Myrus zu fixieren. "Ich ähm... also... Ich habe ein Experiment gemacht und d-..." Immolius griff Myrus an die Kehle und drückte zu. Ihm blieb augenblicklich die Luft weg. Immolius mochte zwar nicht so stabil auf den Beinen stehen, doch Kraft hatte er wie ein normaler Mensch. Myrus Augen fingen an aus den Höhlen zu treten, während ihn Immolius wohl anschrie. Es war der Tatsache geschuldet das Immolius nicht sprechen konnte, dass dies nur als heiseres Fauchen bei Myrus ankam "N... Nich..." röchelte er. Fauchen.

Myrus hätte schwören können, dass Immolius etwas wie "Warum sollte ich das tun?" gebrüllt hatte. Myrus japste nur noch "F... Frag... bean…wor" dann ging ihm endgültig die Puste aus. Sein Blickfeld engte sich ein, aber es reichte noch soweit, dass er sehen konnte wie Immolius den Totenschädel schieflegte. Er schien nachzudenken. Keine Sekunde zu früh ließ er Myrus Hals los und dieser trank gierig die Luft. Immolius stand einfach da und sah ihn aus nebligen Augen an. Dann suchte er wieder einen Papierfetzen. Er fand einen, Kritzelte und warf ihn Myrus vor die Füße. Er las Wieso ich? Was hast du getan? Was bin ich?
Myrus richtete sich auf "Du bist du" sagte er, immer noch leicht röchelnd, "Immolius Gladortalis der Große. Ich habe dich von den Toten zurückgeholt, weil du der größte Krieger unserer Zeit bist. Der größte Krieger der jemals gelebt hat, furchtlos und aufrecht bis ins Alter von einhundertsechs Jahren. Wenn jemand den Tod verkraften und ihm trotzen würde dann du" Wieder legte Immolius den Totenschädel schief. Das Leuchten in seinen Augen intensivierte sich. Er kritzelte hektisch und warf Myrus einen neuen Schnipsel vor die Füße Warum? Myrus war verwirrt "habe ich doch gesagt, weil du der tap..." Er kritzelte. Myrus las Ich meine nicht, warum du mich von den Toten zurückgeholt hast, sondern warum du mich von den Toten zurückgeholt hast!

Myrus überlegte. Warum eigentlich? Er war in den letzten Jahren so damit beschäftigt gewesen es einfach zu tun, dass er sich nie wirklich reflektiert gefragt hatte, weshalb er es tat. War es nicht seine Bestimmung die Natur in all ihren Aspekten zu erforschen und all ihre Gesetze umzugestalten? Er musste lachen. Schallend und anhaltend. Immolius legte den Kopf schief und sah ihn mit seinen nebligen Augen an, als sei Myrus hier das anormale hier im Raum. "Ich weiß es nicht" lachte Myrus schallend "ich weiß es nicht". Immolius wollte ihn schon wieder am Hals packen, da hörte Myrus auf zu lachen und sah ihn von einer Sekunde auf die andere todernst an.

Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. Der emotionale Stress dieses Tages, die vielen Nächte ohne Schlaf die giftigen Dämpfe in diesem Labor all das kam auf einmal mit der Macht einer Schlammlawine auf ihn nieder. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Einen anderen Menschen als sich selbst gesehen? Wann hatte er sich zuletzt gewaschen? Alle diese Fragen waren nur Dominosteine in seinem Kopf, die von einem einzigen fallenden Dominostein in Bewegung versetzt wurden. Dieser Gedanke lautete: Ich hab´s geschafft! Es war so unglaublich, dass er an diesen Gedanken noch keine Zeit verschwendet hatte.
Er hatte es geschafft!
Er hatte den Tod besiegt!
Es war alles nicht umsonst gewesen!
Er war der größte Alchimist dieser Zeit! Der größte Alchimist aller Zeiten!
Er hatte es geschafft. Er sprang wie ein Wahnsinniger in seinem Labor herum, vollführte Luftsprünge und sang Lieder die er gar nicht kannte, die ihm aber plötzlich einfielen und auf seinen Kopf rieselten wie Schneeflocken. Immolius sah sich dieses Affentheater an. Er wurde wütend. Er war verwirrt. Er war traurig. Er hatte Angst. Doch zuallererst war er wütend. Er wusste nur eins: an alldem hier war dieser kreischende Affe dort drüben schuld. Jener kreischende Affe, der ganz offensichtlich gerade, vor seinen Augen, den Verstand verloren hatte. Jener kreischende Affe, der dort gerade auf dem Fenstersims tanzte und irre vor sich hin meckerte. Sein Entschluss war eher eine Emotion als eine von der Ratio diktierte Handlung. Immolius sprang auf den Tisch und er war selbst überrascht, dass ihm das gelang. Der Tisch war gut und gerne vier Meter von ihm entfernt gewesen. Egal. Kaum war er klappernd auf dem Tisch gelandet, stieß er sich schon wieder ab und umklammerte den Alchimisten im Sprung. Dieser stand gerade besonders instabil auf einem Bein und das schiere Momentum riss ihn von diesem. Beide brachen sie durch die Fensterscheibe und stürzten gute vierzig Meter hinab.

Immolius klapperte und knackte beim Aufprall und er spürte wie fast jeder Knochen in seinem Leib brach als er aufschlug. Doch die Essenz tat das, wozu sie bestimmt war. Unter blauem Leuchten richteten sich seine Knochen wieder von selbst in die ursprüngliche Stellung und das mit ihnen verschmolzene Kupfer diktierte die Richtung. Das war der Moment in dem Immolius feststellen musste, dass er sich auf diese Weise nicht von seinem Leiden würde erlösen können. Er war unsterblich. Myrus nicht. Der Bezwinger des Todes schlug auf dem Pflaster vor seinem Turm auf und brach sich Schädel, Genick und Rippen und er hatte keine Essenz, die ihm das schnell würde richten können. Myrus starb mit einem irren Grinsen auf den Lippen, schneeweißem Haar und abgemagert bis auf die Knochen. Er würde nie wieder aufstehen. Anders verhielt es sich mit Immolius. Dieser blieb nur etwa zehn Minuten liegen und wartete auf den Tod. Als er sich eingestand, dass dies sinnlos war, stieß er einen verzweifelten Schrei aus, den jeder andere nur als gespenstisches Fauchen wahrnahm und selbst das wurde bald von Wind verschluckt.

Immolius richtete sich auf und hörte den Regen auf seinen Schädel prasseln. Er ging zurück in den Turm des Alchimisten und musste dafür ein Fenster einschlagen, durch das er im Stande war zu schlüpfen. Drinnen angekommen suchte er Kleidung. Er hatte einen Entschluss gefasst, aber um diesen zu verwirklichen musste er sich verkleiden. Im Schlafzimmer des Alchimisten fand er einen alten Kleiderschrank und als er ihn aufriss nahm er sich eine okkulte Kutte mit schwarzer Kapuze und weiten Ärmeln heraus und dazu schwarze Lederstiefel. Alles saß irgendwie falsch. Er klemmte sich zwei Kissen des Alchimisten in den Hohlraum um seine Beckenknochen und zurrte sie mit einem Gürtel darum fest. Er stapfte hoch und fand nach einigem Suchen die Vorratskammer. Dort stand ein Fass mit Löschsand, den der Alchimist wohl für alle Fälle hier lagerte oder besser gelagert hatte. Es konnte durchaus passieren, dass die ein oder andere Chemikalie Feuer fing. Immolius kippte zwei mittelgroße Apfelsäcke mit Sand voll und zwei kleine Lederbündel mit Trockenfleisch ebenfalls.

Wieder im Schlafzimmer des Alchimisten angekommen band er sich die beiden kleinen Sandbeutel an die Waden, die mittleren legte er in die Hohlräume zu den Kissen. Nun war sein Gang nicht mehr so federnd. Ein Schwergewicht würde er in diesem Leben - war das ein Leben? - wohl nicht mehr werden, doch jetzt würde es etwas mehr als das Fliegengewicht eines ausgemergelten Alchimisten brauchen, um ihn von seinen Füßen zu fegen. Er klappte den Schrank zu und sah sich zu seinem Entsetzen selbst im Spiegel, der an der Außenseite der Tür befestigt war. Er sah ein Gerippe, in dessen Brustkorb ein halb flüssiges und halb gasförmiges, blaues Licht leicht pulsierte. Langsam trat auch blauer Nebel aus seinen schwarzen Augenhöhlen und er ekelte sich vor seinem eigenen Totenlächeln. Adern gleich zogen sich die Kupferdrähte um seine Knochen. Es war abstoßend.
Wieder stieß er ein wütendes Fauchen aus und drosch mit der Faust auf den Spiegel ein, der ihn so beleidigt hatte mit dem was er ihm zeigte. Zwei seiner Mittelhandknochen brachen als er wieder und wieder auf den Spiegel einschlug, doch die Essenz - die gottverdammte Essenz - löste dieses Problem vorbildlich. Als der Spiegel zerstört war fasste Immolius einen Entschluss, der eigentlich von vornerein schon klargewesen war. Nur jetzt hatte er den Grund für seine Entscheidung gesehen. Er würde nicht zu seiner Familie gehen, er würde niemanden aufsuchen den er kannte. Er würde diesem, seinem stärksten Bedürfnis nicht nachgeben. Sämtliche Leute, die ihn so sahen, würden wahrscheinlich ihren Verstand verlieren. Er würde weggehen. Weit weg. Vorher brauchte er nur noch eine Sache.

Seine Gruft war ein Prachtbau aus weißem Marmor, vor welchem zwei martialisch aussehende Krieger, mit auf dem Boden ruhenden Großschwertern, Wache hielten. Er stand in der Kutte des Alchimisten vor seiner offiziell letzten Ruhestätte und versuchte den Mut aufzubringen hineinzugehen. Der Anblick des so gnädig anmutenden Schicksals, aus welchem er gerissen worden war, war nur sehr schwer für ihn zu ertragen. Niemand hatte ihn auf seinem Weg hierher gesehen und trotzdem fühlte er sich beobachtet. Als er wie ein Dieb durch die Straßen der namenlosen Stadt geschlichen war, war ihm zum ersten Mal bewusst aufgefallen wie leise er sich bewegte. Myrus musste seine Knochen mit irgendetwas eingefettet haben um jedes Geräusch zu unterdrücken.

Über was man so alles nachdachte, wenn man sich vor etwas drückte! Erstaunlich! Immolius nahm all seinen Mut zusammen und schritt auf seine Gruft zu. Das Portal war über fünf Stufen zu erreichen die etwas in die Erde führten und Immolius kam jede Einzelne vor wie ein Berg von welchem er heruntersprang. Unten war es dunkel und Immolius entzündete eine der Kerzen, die er noch vorsichtshalber in die Kutte gesteckt hatte. Er war unten in der Gruft angekommen. Graue Granitfliesen kleideten den Fußboden aus und die Absätze von Immolius ´ Stiefeln hallten lange durch die Gruft. Er öffnete ein eisernes Tor und stand vor seinem leeren Sarg. Der Anblick war furchteinflößend und peinigend, aber Immolius war nicht deswegen gekommen. Er war wegen dem gekommen, was dort ganz schwach im Schein seiner Kerze reflektierte.
Seine Rüstung stand auf einem Ständer genauso wie er sie zu Lebzeiten getragen hatten und am Gürtel hing immer noch sein Rapier, mit dem er schon zu Lebzeiten so manches Leben beendet und manche Gefahr überstanden hatte. Sie waren die einzigen Freunde, die ihm bei seiner größten Aufgabe zur Seite stehen würden. Sie waren etwas rostig und das Rapier nicht mehr scharf, doch damit hatte Immolius gerechnet. Er holte Fett, Öl, Lappen und Wetzstein aus seiner Tasche und pflegte die Plattenteile der Rüstung sorgfältig.
Er schrubbte so lange bis er sich in den Beinschienen spiegeln konnte und er klopfte den wollenden Gambeson darunter gut aus und fettete das Leder der Handschuhe wieder ein, bis es so geschmeidig wie zu seinen Lebzeiten war. Dann pflegte und schärfte er das Rapier und mit jedem Schliff mit dem diese Waffe wieder so tödlich wie einst wurde, stieg auch sein Selbstbewusstsein und seine Zuversicht die Aufgabe, die vor ihm lag zu meistern.

Dann legte er die Rüstung an. Stück für Stück und zurrte sich ganz allein fest, den einen Knappen würde er jetzt nicht bekommen. Nach einigen Stunden stand er in voller, polierter Rüstung in seiner Gruft vor seinem Sarg, den Rapier an der Seite, den Helm unter dem Arm. Die Kutte des Alchimisten hatte er als Mantel über die Rüstung gezogen und ihre Weite lies dies zu. Mit ihrer schwarzen Farbe und den königsblauen Runen auf ihr verlieh sie seiner Erscheinung etwas Imponierendes. Er setzte seinen Helm auf und war sich nun gewiss, dass niemand seinen Totenschädel sehen könnte, wenn er es nicht wollte. Er zog die Kapuze über den Helm und trat hinaus in die Dämmerung. Ein neuer Tag begann in der namenlosen Stadt, aber Immolius würde ihn nicht hier erleben. Er würde hinaus in die Welt ziehen. Er würde nie anhalten und nie müde werden bis er jemanden fand der ihn wieder von dieser Welt in die Jenseitige bringen konnte. Immolius war um seinen langen Schlaf betrogen worden und er würde ihn sich wiederholen.



Ende
 

jon

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Teammitglied
Es geht weiter mit den Details. Ich nehme mal die zweite Fassung:

Myrus verzweifelte über diesen Gedanken und war eines Abends kurz davorKOMMA aus dem obersten Fenster seines schwarzen Turms zu springen, doch gerade als er auf den Sims steigen wollte, glitt er aus und konnte sich gerade noch an einem Bücherregal festhalten. Dies war aber dazu gedacht, Bücher und nicht Alchimisten in der Lebenskrise zu tragenKOMMA und brach aus der Wand. Ein Regen aus Büchern ging auf ihn nieder und eins traf Myrus so hart an der Schläfe, dass er Sternchen sah. Er rappelte sich auf und sah auf das Buch, dassdas ihn fast besinnungslos geprügelt hätte. Es war ein schwerer Dünndruckwälzer von viertausend Seiten mit schwerem, muffigem Ledereinband.
Das alles ist zwar locker geschrieben, aber das mit den Sternchen empfinde ich doch als zu lax.
Prügel bestehen aus vielen Schlägen, das hier war nur einer. Und: "fast geschlagen hatte" - bei "geschlagen hätte" fragt man sofort: "… hätte, wenn was?"

Es waren die psycho-magischen Schriften und Zauberformeln über Gedanken- und Gefühlskontrolle von dem Magier und Wissenschaftler Adalbertius Incognitio.
"Schriften über" ist okay, aber "Zauberformeln über" nicht.

Er erinnerte sich an eher esoterischen als empirischen oder magischen Lesestoff und, der zu gut zwei Dritteln wertlos war, doch es gab einige Zaubersprüche und Rituale, die tatsächlich neu warenKOMMA mit dem PotenzialKOMMA revolutionär zu werden.
Weniger magisch, obwohl explizit Zauberformeln drin waren?
Der Satz ist zu unübersichtlich. Ich würde ihn trennen: … wertlos war. Es gab jedoch darin auch einige …

Besonders in Erinnerung war Myrus das Ritual über die Konservierung von Emotionen geblieben.
Das ist zwar korrekt, aber griffiger ist die (ebenfalls erlaubte) "kurze Klammer": … in Erinnerung gebliebben war Myrus …

Was war denn der Wille zu Leben anderes als der Größte Trotz den ein Lebewesen aufbringen konnte?
Gefällt mir. Aber:
Was war denn der Wille zu leben anderes als der größte Trotz, den ein Lebewesen aufbringen konnte?

Wie unter Strom stand Myrus auf und in seinem Hirn arbeitete es. Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan.
Dieses "und" ist doppelt unschön - erstens nimmt es beiden Teilsätzen Kraft, zweitens doppelt es sich mit dem folgenden Satzanfang. Ich würde einen Punkt setzen, fände aber auch das Komma okay.
Wie unter Strom stand Myrus auf. In seinem Hirn arbeitete es.
Wie unter Strom stand Myrus auf, in seinem Hirn arbeitete es.


Ein PlanKOMMA der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun, doch das was sich da in seinem Kopf formteKOMMA war ein Lebenswerk. Ein Monument. Ein epochales Meisterwerk.
Schönes Satzlängenspiel!
Aber: Das Unterstrichene passt inhaltlich nicht in dieser Form. Es ist ein neuer Gedanke. Und ich würde ihn nicht negativ (mit "doch") besetzten.
Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan. Ein Plan, der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun. Was sich da in seinem Kopf formte, war ein Lebenswerk. Ein Monument. Ein epochales Meisterwerk.

Am liebsten hätte er Adalbertius Incognitio umarmt, nur hatte der vor mittlerweile vierzig Jahren gelebt und war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Schmachtens zu der Erkenntnis gekommen, dass er ein Weibchen der,KEIN KOMMA in den Bergen hinter der namenlosen Stadt lebenden,KEIN KOMMA Riesenskorpione zu heiraten hatteKOMMA woraufhin ihn die Braut erst vergiftete, dann mit ihren Scheren sauber in zwei Teile schnitt und anschließend fraß (die Geschichte schweigt sich übrigens darüber ausKOMMA WER Adalbertius und den Skorpion getraut hatte).
:cool:
Die Anbindung der Geschichte von A. an die Info seines Todes ist nicht wirklich geschmeidig. Man merkt nicht, dass da ein Rückblick kommt.
Schmachten wonach?
Das "woraufhin" stimmt nicht - sie tat es nicht, nachdem er die Idee hatte, sondern nachdem er sie geheiratet hatte.
Keine Klammern in erzählenden Texten! Keine Versalien - es sei denn, jemand brüllt wie am Spieß.
Idee:
… war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Und das auf höchste bizarre Weise: Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Schmachtens zu der Erkenntnis gekommen, dass er ein Weibchen der in den Bergen hinter der namenlosen Stadt lebenden Riesenskorpione zu heiraten hatte. Es kam, was kommen musste: Die Braut vergiftete ihn nach dem Liebesspiel, schnitt ihn dann mit ihren Scheren sauber in zwei Teile und fraß anschließend auf. Die Geschichte schweigt sich übrigens darüber aus, wer Adalbertius und den Skorpion getraut hatte.


Myrus war wie im RauschKOMMA oder PUNKT für fast zwei Jahre verließ er seinen Turm nicht. Er musste erst Dinge herstellen. Er brauchte einen Impuls, einen Impuls der stark genug war, um eine Emotion zu stimulieren, sollte sie einmal durch das Ritual des Adalbertius Incognitio verkörpert worden sein.
Alles ab "Er musste" verstehe ich nicht. Was für Dinge? Warum? Und: Sollte er nicht ERST die Emotion stimulieren (erzeugen), und diese DANN mittels des Rituals konservieren? Und: Das Ritual soll die Emotion konservieren - von Verkörpern war keine Rede gewesen.

Er brauche eine Flüssigkeit, einen Stoff, in dem er diese Emotion und die Impulse konservieren konnte, er brauchte ein Gefäß, das diese Substanz halten und sich an den Körper eines Probanden anpassen lassen konnteKOMMA und dafür brauchte er einen geeigneten Probanden.
Das verstehe ich auch nicht wirklich, aber immerhin ist wieder von Konservieren die Rede. Das mit den Gefäß - ist das Teil des Rituals oder hat sich Myrus das ausgedacht?

Myrus wollte einen Menschen, bei welchem der TrotzKOMMA dem Tod etwas entgegenzusetzen, beispiellos mächtig war.
Durch das weitere Komma wird die Verschachtelung auch optisch sehr deutlich. Kannst du das "entschachteln"?

Immolius war einhundertsechs Jahre alt, was in der Unterschicht der Namenlosen Stadt für zwei gute Durchschnittsleben gereicht hätte. Er hatte ein erfülltes Leben geführtKOMMA als er eines Tages um die Mittagszeit herum an Altersschwäche starb.
Zwei leprakranke Schergen von einem von Myrus´ Bediensteten hatte von der Beerdigung Wind bekommen und beichtete dem Spitzel davon, welcher es wiederrum Myrus zutrug.
Da holpert einiges.
A: Warum leprakranke?
B: Myrus hatte Bedienstete?
C: Warum berichten die Schergen nicht ihrem Herrn (Myrus' Diener), sondern dem (welchem?) Spitzel?

Man sah dann in der darauffolgenden Nacht zwei dubiose Gestalten an der Gruft des Immolius Gladortalis. Am Tag darauf war Myrus in seinem Labor und hantierte freudig an seinen Geräten herum.
Der Proband lag auf seinem Tisch und das Experiment konnte beginnen. Er war etwas übernächtigt, doch die Wissenschaft schlief nicht.
Der Proband war übernächtigt?

Er holte die Schriften des Adalbertius Incognitio aus ihrem Regal und er öffnete sie andächtig.
Myrus zeichnete mit fahrigen Fingern die Beschwörungszeichen auf den Boden rund um den Körper und in dem Moment, in dem sich das letzte in die Reihe fügte, leuchteten sie strahlend auf.
Moment bitte, ich muss mal sortieren: Welcher Körper? Der auf dem Tisch oder gibt es einen anderen auf dem Boden? Womit zeichnet er? Ohne "Malmittel", also so, dass die Zeichen erst nicht sichtbar sind und erst beim Aufleuchten erkennbar werden?

Nun kam der anstrengende Teil des Rituals. Myrus kniete sich auf den kalten Boden und betete die Formeln zur Beschwörung herunter. Alle vierhundertsechzehn. Auswendig.
Wieder sehr schöner Rhythmus.
Frage: Kniete er sich in den Zeichen-Kreis oder außerhalb?


(Pause - später mehr)
 

WinterAgain

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Ort: die Namenlose Stadt; der Turm des Alchimisten

Zeit: irgendwann




Myrus Magnificens war der klügste Mensch der Welt. Das war weder Lobhudelei kriecherischer Ratten oder hochtrabende Selbsteinschätzung, es war ein Fakt. Er reihte sich in einen ebenso weitverzweigten wie hochdekorierten Stammbaum von Alchimisten, eben jener Berufsgruppe, die die Namenlose Stadt zu dem gemacht hatte, was sie heute war: das Zentrum der zivilisierten - und auch der unzivilisierten - Welt und der Mittelpunkt allen Strebens, ein. Alchimisten waren Koryphäen verschiedenster Wissenschaften. Sie waren Mathematiker, Biologen, Astronomen und Astrologen, Wahrsager, Magier, Bibliothekare, Dichter, Physiker, Ärzte, Scharlatane, Intellektuelle und vor allem niemals zufrieden. Myrus war eine Bildung und Erziehung vergönnt gewesen, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Er hatte Bücher nicht nur gelesen, sondern sie auswendig gelernt, hatte Tiere nicht nur beobachtet und ihr Verhalten studiert, sondern sie seziert, in ihre Einzelteile zerlegt, vermessen und sich jedes Detail so akribisch und sorgfältig eingeprägt, dass er sie vor seinem geistigen Auge erschaffen und wieder zerfallen lassen konnte, wann immer ihm danach war. Myrus war ein wandelndes Nachschlagewerk und Erfinder in einem, immer darum bemüht, seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern. Ja Myrus war der klügste Mann der Welt und er hatte fest vor, auch der bedeutendste zu werden. Er wollte es mit dem Feind allen Lebens aufnehmen und seiner Bestimmung folgen. Diesen Feind hatte noch nie jemand besiegt, weder sein Vater noch dessen Vater noch alle Väter, die ihm vorangegangen waren: den Tod.

Myrus nahm in jungen Jahren den Kampf auf und lernte und forschte ohne Unterlass. Die ersten zehn Jahre seiner Forschung verbrachte er mit Beobachten, Skizzieren, Lesen und Notieren. Wie lange lebten welche Lebewesen unter welchen Bedingungen, was war lebensverkürzend oder -verlängernd, was war alt und was war jung und in welcher Relation zu welchem "jung" gibt es eigentlich ein "alt"? Ein Frosch mochte im Vergleich zu einer Schildkröte ein sehr kurzes Leben haben, doch im Vergleich zu einer Kirschblüte war dieses Leben fast unfassbar lang. Allerdings konnte eben jene Kirschblüte an einem Baum wachsen, dessen Lebenszeit das Alter der Schildkröte um ein Vielfaches überstieg. Wie brachte dieser Baum es fertig so alt zu werden? Wer oder was ließ dies zu? Es waren schier endlose Fragen und auch eine schier endlose Arbeit und Myrus verzweifelte ein ums andere Mal an ihr. Man sah ihn nicht selten neben einer der Alleen der namenlosen Stadt stehen, die Hände in die Borke einer alten Eiche gekrallt, sie mit aller Kraft schüttelnd und aus vollem Hals brüllen: "Verrate mir dein Geheimnis! Los! Ich befehle es dir! WAS - IST - DEIN - GEHEIMNIS?!" Die übrigen Städter waren bestenfalls befremdet und schlimmstenfalls belustigt über das Verhalten dieses Menschen, der eigentlich die geistige Elite der Namenlosen Stadt darstellen sollte. Trotz seiner etwas unorthodoxen Methoden und teils heftigen Gefühlsausbrüche, begriff Myrus etwas. Langsam zwar, doch er begriff: Leben, oder besser, ein langes Leben war eine gute Mischung aus Pflege, Willen und Glück. So glücklich er war als er diese Erkenntnis hatte, so deprimiert war er als er genauer über sie nachdachte. Was sollte er mit seiner Erkenntnis anfangen, wo er doch nur Einfluss auf die Pflege hatte? Und er konnte eine Pflanze, ein Tier oder gar einen Menschen so lange hätscheln und pflegen, wie er wollte, irgendwann würde sie, es oder er mit absoluter Gewissheit doch sterben. Jeder Bauer, der sein Zugpferd schlachtet, da es nicht mehr kräftig genug ist, um seinen Pflug zu ziehen, wusste das. Man musste kein Alchimist sein, um das zu verstehen, man musste aber einer sein, um ein so großes Ego aufzubauen, dass man dachte dies mit ein paar Tinkturen, Salben, Beschwörungen und Inhalationen ändern zu können. Myrus hatte versucht ein Pferd zu reiten aber einen Esel gesattelt, kurz: er war die Sache von Grund auf falsch angegangen. Zu seinem großen Leidwesen war selbst für einen Alchimisten das Glück ungreifbar. Vielleicht gelang es in ferner Zukunft irgendjemandem diese Variable in eine Konstante zu verwandeln und dahingehend zu zähmen, doch Myrus konnte nicht dieser Jemand sein. Er hatte andere Aufgaben.

Das Einzige, was ihm blieb, war der Wille. Der Wille zu leben, weiter zu existieren, der jedem Lebewesen innewohnt, das war es, worauf er sich konzentrierte. Aber der Wille allein war wie ein Geist: ohne Körper und ungreifbar für ihn und bei jedem Lebewesen war er unterschiedlich stark ausgeprägt. Myrus verzweifelte über diesen Gedanken und war eines Abends kurz davor, aus dem obersten Fenster seines schwarzen Turms zu springen, doch gerade als er auf den Sims steigen wollte, glitt er aus und konnte sich gerade noch an einem Bücherregal festhalten. Dies war aber dazu gedacht, Bücher und nicht Alchimisten in der Lebenskrise zu tragen, und brach aus der Wand. Ein Regen aus Büchern ging auf ihn nieder und eins traf Myrus so hart an der Schläfe, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er klebriges Blut an seiner Schläfe fühlte. Er rappelte sich auf und sah auf das Buch, das ihn fast besinnungslos geschlagen hatte. Es war ein schwerer Dünndruckwälzer von viertausend Seiten mit schwerem, muffigem Ledereinband- Das war ... Moment mal ... Myrus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Es waren die psycho-magischen Schriften und Zauberformeln der Gedanken- und Gefühlskontrolle des Magiers und Wissenschaftlers Adalbertius Incognitio. Myrus erinnerte sich dieses Buch gelesen zu haben, zumindest in Auszügen. Er erinnerte sich an eher esoterischen als empirischen oder magischen Lesestoff, der zu gut zwei Dritteln wertlos war. Doch einige Zaubersprüche und Rituale waren zu finden, die tatsächlich neu waren, mit dem Potenzial, revolutionär zu werden. In Erinnerung war Myrus das Ritual über die Konservierung von Emotionen geblieben. Von Liebe, Hass, Neid und Scham. Wieso sollte es eigentlich nicht auch mit Trotz gehen? Was war denn der Wille zu leben anderes als der größte Trotz, den ein Lebewesen aufbringen konnte? Wie unter Strom stand Myrus auf, in seinem Hirn arbeitete es. Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan. Ein Plan, der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun. Das, was sich da in seinem Kopf formte, war ein Lebenswerk. Ein Monument. Ein epochales Meisterwerk.

Am liebsten hätte er Adalbertius Incognitio umarmt, nur hatte der vor mittlerweile vierzig Jahren gelebt und war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Hungerns zu der Erkenntnis gekommen, dass er ein Weibchen der in den Bergen hinter der Namenlosen Stadt lebenden Riesenskorpione zu heiraten hatte. Dies führte aber nicht zu einer glücklichen und erfüllten Ehe, sondern nur zu einem Giftstachel im Oberkörper von Adalbertius, bevor die Trauzeremonie vollständig beendet worden war. Er endete sauber in zwei Teile geschnitten und im Magen seiner Braut. Die Geschichte schweigt sich übrigens darüber aus, wer Adalbertius und den Skorpion getraut hatte. Myrus war wie im Rausch. Für fast zwei Jahre verließ er seinen Turm nicht. Er musste die Ärmel hochkrempeln. Sein Vorhaben verlangte noch nach einigem. Das Ritual von Adalbertius verlangte, soweit Myrus es verstand, ein, wie es in der Anleitung genannt wurde, „Gefäß“. Leicht kryptisch hieß es in der Anleitung: „benötigt werde ein kaum kaltes Gefäß von totem Bein und totem Geist. Dies bespreche der kühne Forscher mit folgenden Formeln. -Es folgten insgesamt vierhundertsechzehn Formeln- Sollten diese Formeln nach unbestimmbarer Zeit Wirkung zeigen, so gelte eine Emotion als gebunden. Jene Emotion wirke als Funke, der das Spektrum der Emotionen wieder entzündet. Jenes Spektrum ist in der Essenz unvergänglich“ Eigentlich konnte dieser Beschreibung nur eine Leiche gemeint sein. Des Weiteren wies das Ritual auf eine Materie, eine Essenz hin, in der alle Elemente gebunden sein sollten. Im Text hieß es „Man nehme zum Binden und Konservieren der Emotion eine Essenz, die alles enthalte und füge derselben die Emotionen durch Zwang bei.“ Adalbertius hatte es wohl nicht nötig gehalten sich wissenschaftlich fundierter und präziser auszudrücken, was wohl der Grund war, dass seine Schriften mehr als umstritten waren. Man war gezwungen ihn wörtlich zu nehmen. Wenn eine Essenz vorhanden sein sollte die „Alles“ verlangte, musste Myrus wohl alles herschaffen. Seine Sparbücher würden in nächster Zeit massiv gefordert werden. Zuletzt hieß es „Zum Lenken des Spektrums der Emotionen, stelle der Kluge ein Steuerrad her und verschmelze es unveränderlich mit dem Gefäß“. Ein Steuerrad? Wie sollte das denn aussehen? Im Buch stand nichts dazu. Myrus schätzte, dass hier seine Eigenleistung gefordert war. Die Arbeit musste aber erst beginnen. Zuerst löste alle seine Konten bei der Bank der Namenlosen Stadt auf und verschleuderte das Bargeld an seine Spitzel, die ihm geeignete Probanden aussuchen sollten. Myrus wollte einen Menschen, bei welchem der Trotz, dem Tod etwas entgegenzusetzen, beispiellos mächtig war. So kam Immolius Gladortalis in den Turm des Alchimisten.

Immolius war einhundertsechs Jahre alt, was in der Unterschicht der Namenlosen Stadt für zwei gute Durchschnittsleben gereicht hätte. Er hatte ein erfülltes Leben geführt, als er eines Tages um die Mittagszeit herum an Altersschwäche starb. Immolius´ Trotz war stark, doch der Tod war stärker. Er war ein altgedienter General der Armee gewesen, ein kluger Taktiker und ein großer Freund des Kampfes. Sein Rapier hatte mehr Leben genommen als die Waffen mancher Kompanie zusammen. Er wurde in allen Ehren beigesetzt und die Trauerfeier war glorreich und die Menge der Trauergäste groß. Doch die Nacht war dunkel. Zwei Leprakranke hatten in einer öffentlichen Suppenküche einem von Myrus´ bestochenen Spitzel hatten von der Beerdigung berichtet, welcher es wiederrum Myrus zutrug. Man sah dann in der darauffolgenden Nacht zwei dubiose Gestalten an der Gruft des Immolius Gladortalis. Am Tag darauf war Myrus in seinem Labor und hantierte freudig an seinen Geräten herum.

Der Proband lag auf seinem Tisch und das Experiment konnte beginnen. Der Alchimist war etwas übernächtigt, doch die Wissenschaft schlief nicht. Er holte die Schriften des Adalbertius Incognitio aus ihrem Regal und öffnete sie andächtig, obwohl er sie inzwischen auswendig kannte. Er wollte nichts dem Zufall überlassen oder irgendeine falsche Eingebung alles Verderben lassen. Das Ritual konnte beginnen. Myrus zeichnete mit fahrigen Fingern die Beschwörungszeichen mit etwas Holzkohle auf den Boden rund um den Körper auf dem Tisch und in dem Moment, in dem sich das letzte in die Reihe fügte, leuchteten sie strahlend auf. Nun kam der anstrengende Teil des Rituals. Myrus kniete sich auf den kalten Boden in den Formelkreis und betete die Formeln zur Beschwörung herunter.

Alle vierhundertsechzehn. Auswendig. Und wenn er fertig war, fing er wieder von neuem an. Emotionen und Gedanken, die noch in dem Toten steckten, waren wie glitschige Aale und Myrus musste sie in seine Netze treiben. Geduldig und ohne müde zu werden wiederholte er die vierhundertsechzehn Formeln kniend vor dem erkaltenden und langsam faulenden Körper. Er zählte nicht mit, weil auch er selbst sich in einer Art Trance befand, doch rückblickend glaubte er etwa zwei Tage so auf Knien vor der Leiche von Immolius Gladortalis gekniet und die Formeln vor sich her gemurmelt zu haben. Er sprach sie mit sturer Beharrlichkeit so lange, die auch die letzte Emotion und der letzte Gedanke aus dem Körper, der mal Immolius Gladortalis gewesen war, herausgepresst sein würde. Nach zwei Tagen des ununterbrochenen hin- und her Schaukelns und Murmelns, zeigte das Ritual plötzlich Wirkung. Es tat dies so überraschend und abrupt, dass Myrus zuerst glaubte jemand hätte ihn mit einem Knüppel zu Boden geprügelt. Ein stechender Schmerz schoss ihm in die Augäpfel und Ohrmuscheln und seine Nebenhöhlen schienen so groß wie Wassermelonen zu werden. Ein krümmte sich unter schweren Magenkrämpfen und seine Kiefer stießen in spastischen Zuckungen immer wieder aufeinander, sodass er sich um ein Haar einen Gutteil seiner Zunge abgebissen hätte. Er schwitzte und weinte Blut und trotz seiner jungen Jahre wurden seine Haare in Sekunden schneeweiß. Die Runen auf dem Boden schienen nun zu pulsieren und gleichzeitig in einer unbekannten Sprache zu flüstern, zu schreien und zu singen. Myrus lag dort auf dem Boden und konnte nur einen klaren Gedanken fassen: etwas muss schiefgelaufen sein, etwas muss schiefgelaufen sein, etwas mu... Und dann genauso plötzlich wie die Wirkung des Rituals eingesetzt hatte, war sie vorbei. Was übrig blieb war ein keuchender Alchimist in einer Lache seines ausgeschwitzten Blutes umgeben von irgendwelchen wilden Zeichen. Myrus hob den Kopf und war augenblicklich der Überzeugung, dass rein gar nichts bei dem Ritual "schiefgelaufen" war. Im Gegenteil. Das Ritual hatte planmäßig funktioniert, Adalbertius Incognitio hatte nur über seine Nebenwirkungen geschwiegen, da es sonst wohl nie jemand versucht hätte. Myrus konnte das sehr gut verstehen. Über dem Körper von Immolius schwebte nun eine Kugel, die aussah wie aus Wasser gemacht. In ihr schienen Gesichter zu schweben. Wenn man genau darüber nachdachte war "Gesichter" wohl etwas zu schmeichelhaft "Fratzen" träfe wohl eher. Sie zogen sich zusammen und dehnten sich aus, stülpten sich von innen nach außen und schienen aber alle Myrus anzuschauen. Die Emotionen waren verkörpert worden. Das Ritual hatte Erfolg gehabt.

Myrus musste nun den nächsten Schritt einleiten. Er brauchte jene halb magische, halb chemische Kraft, die sich wie ein Parasit an Materie klebt: Die eine Materie, die in der Lage ist Kraft zu besitzen und zu bündeln, wo es eigentlich keine geben sollte. Er verbrachte nun die nächsten Monate damit diese alchimistische Essenz aufzukochen. Das war keine leichte Angelegenheit, war doch jene Essenz doch nichts anderes als die konzentrierte Mischung jedes Elementes, das in der alchimistischen Welt existierte. Myrus mischte flüssiges Eisen mit flüssigem Arsen und fügte dem Ganzen noch eine gute Schippe Quecksilber hinzu und dann fehlte Gold als Neutralisator und Chlor als Katalysator. Die Möglichkeiten waren zwar nicht endlos doch vielfältig und es musste mancher Kopf rollen, manches Versprechen getan werden und mancher Geldbeutel den Besitzer wechseln, um die Elemente zu beschaffen, die Myrus benötigte. Er sättigte die Essenz zusätzlich mit Pflanzen und Kräutern ebenso wie mit Tieren und Nährstoffen und vor allem das Quieken und Fiepsen der Tiere, erfüllte die Umgebung mit Geräuschen, bei denen jedem geistig gesunden Menschen nicht ganz wohl sein sollte. Die Essenz blubberte und kochte und an dem Schwappen, dass sie ohne jedes Zutun von außen, zeigte, erkannte Myrus, dass die Essenz reif war. Noch nie hatte jemand es gewagt, die verkörperten Emotionen eines Toten mit jener kraftverleihenden und unberechenbaren Essenz zu vermischen, die sich wie ein Bandwurm an Dinge klammerte und nicht mehr losließ. Er hatte nur eins vergessen. Es fehlte noch etwas: wirkliche, menschliche Intelligenz. Auch über dieser Aufgabe zerbrach sich Myrus mehrere Jahre den Kopf, während der Körper von Immolius immer weiter zerfiel und von Tag zu Tag nicht mehr als das Skelett auf dem Tisch lag, welches die Decke von Myrus Labor angrinste. Myrus verlagerte seine Studien nun darauf zu erforschen wie Denken funktioniert und abläuft. Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen nun all seine Experimente und Erkenntnisse darzulegen und die Schlüsse die er aus denselben zog näher zu erläutern (es wäre ein eigenes Buch für sich) daher hierzu nur so viel: nach drei Wochen des Studiums kam Myrus zu dem Schluss, dass jeder Gedanke ein Impuls im Hirn war und das Hirn war nichts anderes als ein Übersetzer, der diese Impulse auffängt und seine Schlüsse aus ihnen zieht. Und anhand dieser Schlussfolgerung lenkte das Hirn den Körper. Als eine Art … Steuerrad! Myrus machte sich nun daran selbst so einen Übersetzer zu bauen und ihn in den Kopf des Skelettes einzusetzen. Er verband dann schließlich auch die Extremitäten des Skelettes mit seinem eigens gebauten Gehirn aus Kupferdraht. Geduldig wickelte er Knochen zusammen und stabilisierte das Gerippe, dem nun mehr und mehr organisches Material fehlte, um es auf natürliche Weise zusammenzuhalten. Jetzt fehlte nur noch der anfängliche Impuls mit dem Myrus dem Organismus seine Intelligenz, sein kontrollierendes Element in Schwung bringen wollte.

Myrus hatte alle Komponenten beisammen, um nun sein Lebenswerk einzuleiten. Zuerst bedurfte es einer Paarung der Essenz mit den konservierten Emotionen. Die Essenz war erstaunlich offen für die Materie der Emotionen und mit einem glücklichen Schmatzen nahm sie die Materie in sich auf. Nach ein paar Sekunden färbte sich die Essenz anders ein. War sie vorher noch eine milchige grünlich- weiße Masse gewesen, klarte sie sich jetzt auf und wurde erst smaragdgrün, dann knallgelb, für einen kurzen Moment tiefschwarz und dann verblieb sie in einem satten, klaren blau, dass aus sich selbst zu leuchten schien. Er ließ diese emotionsgeschwängerte Essenz kontrolliert auf den Körper los und die Essenz klebte sich wie eine halb flüssige- halb gasförmige Nacktschnecke an die Gerippe. Sie schien neugierig und kroch in jeden Winkel und jeden Hohlraum, den das Skelett ihr bot, um sich dann im Rippenkorb einzunisten und zu ruhen schien. Jetzt kam der gefährliche Teil der Verschmelzung: Myrus musste in das Labor, nahe an die Essenz heran und das Kupferkabel, welches er schon Tage zuvor an der obersten Spitze seines Turmes angebracht hatte, mit jenem kupfernem Gehirn verbinden, dass er selbst in mühevoller Kleinarbeit entworfen, gefertigt und in den Schädel anstelle des längst verwesten Gehirns eingesetzt hatte. Er näherte sich vorsichtig dem Gerippe des Probanden und hantierte am Schädel herum. Er bohrte ein kleines Loch mit einem Handbohrer in die Schädeldecke und versuchte den Draht durch dasselbe zu schieben. Kaum war der Bohrer durch die Schädeldecke gebrochen, da gab die Essenz schon ein Geräusch von sich, das an Wind erinnerte, der um ein kleines Hexenhäuschen in sturmgepeitschter Nacht herumweht und sie schloss das Loch im Schädel einem blauen Lichtschein innerhalb von Sekunden. Myrus war arg erschrocken als er diesen laut hörte und gut eine Körperlänge zurückgesprungen. Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn und trat mit weichen Knien wieder an den Körper heran. Ihm fiel jetzt in diesem Moment ein, dass er die Essenz zwar erschaffen hatte, doch kontrollieren konnte er sie nicht. Genaugenommen hatte er keine Ahnung ob sie gefährlich war oder nicht. Überhaupt wusste er nicht wie man die Essenz zerstören konnte, außer sie mit der Zeit veralten zu lassen. Er schob diese Gedanken beiseite. Er war jetzt zu weit gegangen um umzukehren und hatte zu hart gearbeitet um jetzt abzubrechen! Ja das sind die Gedanken die Wissenschaftler sich selbst einreden, wenn sie ihren inneren Kompass zu beruhigen versuchen. Schweren Herzens fing Myrus also wieder zu bohren. Als er spürte, dass die Decke des Schädels allmählich nachgab hielt er das Ende des Drahtes schon parat um ihn mit dem "Hirn" in Kontakt zu bringen bevor die Essenz die Verwundung des Wirtskörpers heilen konnte. Das Loch klaffte auf -wieder dieses windige Geräusch von der Essenz- und so schnell er konnte schob Myrus den Draht in das Loch und spürte wie er das "Hirn" im Inneren traf. Dann war das Loch auch schon zugewachsen und Myrus hätte den Draht selbst nicht besser im Schädel fixieren können. Jetzt wartete Myrus auf den Impulsgeber, in seinem Fall auf einen Blitz, der, so die Theorie, in die Turmspitze einschlagen und am Kupferdraht entlang in den Schädel fahren und in ihm die Impulse auslösen würde, die die Essenz kontrollieren und die in ihr gelösten Emotionen verstehen und hervorrufen könnten. Die Essenz würde mit dem Hirn in einer seltsamen Mischung aus Symbiose und technischer Abhängigkeit miteinander leben müssen, wie in einem echten, vollständig biologischen Körper. Was war in einem solchen ein Hirn ohne das Herz? was das Herz ohne das Hirn? Myrus musste jetzt nur noch auf einen Blitz warten und da dieser von Myrus so ersehnte Gast immer in einer Reisegruppe zusammen mit Donner und Regen zu erscheinen pflegt, hoffte Myrus sehnsüchtig auf ein Gewitter. Er musste sich drei ganze Wochen gedulden bis er mit einem freudigen Lächeln fernen Donner vernahm.

Um Myrus´ Turm stürmte und tobte es. Regen klatschte immer in regelrechten Wellen gegen die Fenster und der Donner war gerade im Labor ohrenbetäubend. Myrus sah gerade mit einer seltsamen Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung in seinem Labor und starrte aus dem Fenster nach draußen. Gerade wollte er das Barometer zum x-ten Mal überprüfen, als es laut knallte und das Kupferkabel auf einmal glühte. Es knisterte und knackte und das Glühen fuhr unaufhaltsam auf den Schädel zu. Es war getan. Als das Glühen nun auch den Schädel erreichte wehte die Essenz nicht nur, sie schrie regelrecht auf. Es war ein Geräusch, dass aus den untersten Kreisen der Hölle kommen musste und Myrus versteckte sich völlig verstört hinter einem Stuhl. Funken stoben aus dem Brustkorb des Gerippes und die Essenz erinnerte zeitgleich an einen Tornado und an ein Meer im Sturm. Sie wallte auf und schien zu fauchen und das Kupfer um die Knochen herum glühte und wurde so weich bis es untrennbar mit den Knochen des Skelettes verschmolzen war. Dann war es wie bei dem Ritual des Adalbertius Incognitio auf einmal ganz still. Myrus lugte etwas hinter dem Stuhl hervor nur um dann sofort vor Schreck wieder rückwärts umzufallen. Wie ein Mensch, der aus einem Albtraum erwachte, schoss das Skelett in die Höhe und riss dabei de Kupferdraht ab, der an das Dach gebunden war. Es rutschte zurück und strampelte mit den Füßen und fiel dann klappernd von eben dem Tisch, auf dem es fast zehn Jahre lang gelegen hatte. Blaue Nebel der Essenz stiegen aus seinen Augenhöhlen und seinem Schlund und die Essenz in seinem Rippenkorb schien zu pulsieren und ihn verlassen zu wollen. Die Essenz konnte aber nicht mehr weg. Sie würde nie wieder wegkönnen.

Der Tote rappelte sich auf und schien das erste Mal einen Blick auf seine knöchernen Finger zu werfen. Er drehte sie vor seinen Augen nur eine kurze Zeit lang, dann schüttelte er sie als hätte er eine Spinne darauf entdeckt. Er blickte an sich herab und umfasste ungläubig seine Rippen und sein Brustbein. Er schreckte vor der Essenz in seinem Brustkorb zurück und sah sich um. Hätte es Gesichtszüge gehabt, so wären sie in diesem Augenblick panisch gewesen. Scheinbar verwirrt sah der Tote sich um und blickte auf das Fenster. Myrus verstand was er tun wollte und er spurtete hinter seinem Stuhl hervor, schnitt dem Untoten den Weg ab und warf ihn nieder. Der Untote war erstaunlich flink auf den Beinen, doch Myrus konnte ihn noch rechtzeitig einholen. Es gab nichts was der Untote gegen Myrus Attacke tun konnte, denn Essenz hin, Essenz her, das Skelett eines Menschen wog nur etwa 20kg und es war Myrus ein leichtes eben diese 20kg umzuwerfen. Der Untote wehrte sich gegen ihn und Myrus hörte wie seine Rippen knackten und einsackten, nur um von der Essenz wieder nach außen gedrückt und geheilt zu werden. Myrus nahm den Totenschädel in beide Hände und blickte ihm in die Toten Augenhöhlen "Sie mich an!" rief er laut "Sieh mich an! beruhige dich" Langsam hörte das Gerippe auf unter ihm herumzuzappeln. Er spürte das es ihn ansah. Die blauen Nebelschwaden, die in seinen Augenhöhlen eben noch so präsent gewesen waren, schienen sich etwas weiter in den Schädel zurückzuziehen. Myrus sah dies als verhältnismäßig gutes Zeichen und stieg von dem Gerippe herunter und es richtete sich auf und sah sich jetzt bewusst im Raum um. Dann sah es Myrus an und klapperte mit den Zähnen. Myrus brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass das Skelett mit ihm reden wollte. Er unterbrach es "ich verstehe dich nicht!" sagte er "du hast keine Stimmbänder mehr, du kannst nicht reden" Das Skelett griff sich hastig an die Kehle und Myrus Empathie sagte ihm, dass die gerade erst niedergekämpfte Panik es wieder zu übermannen drohte. Und so ging er vorsichtshalber einen Schritt auf den Untoten zu und umklammerte seine Schultern "Ich weiß das du Angst hast" der Untote sah sich hektisch nach links und rechts um und versuchte Myrus´ Hände von seinen Schultern zu wischen, doch der Alchimist hielt ihm stand "Ich weiß das du verwirrt bist" sagte er. Wieder machte das Skelett Anstalten sich aus Myrus´ Griff zu winden und der blaue Nebel tauchte wieder in seinen Augen auf. Fieberhaft überlegte Myrus wie er zu dem Untoten durchdringen konnte. Wie nannte er ihn in seinen Gedanken überhaupt? Er hieß doch ... "Immolius!" rief er laut und der Angesprochene hielt kurz inne. Er hatte ihn. "Immolius" rief Myrus noch einmal "Du bist Immolius Gladortalis, der größte Held und Kämpfer unserer Zeit! Erinnerst du dich?!". Selbstverständlich war dies nur ein Schuss ins Blaue, Myrus hatte keine Ahnung ob oder woran sich jemand (war das da überhaupt ein Jemand?) nach dieser Erweckung erinnern konnte. Myrus Magnificens, der klügste Mensch der Welt, hatte keine Ahnung was er tat. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er raten und eben diesen Schuss ins Blinde wagen. Das Skelett nickte. Langsam. Bedächtig. Der Nebel zog sich wieder zurück. Myrus sah Immolius weiter an und war nun sicher ihn loslassen zu können. Immolius stand einfach nur da und schien zu einer Salzsäule erstarrt. Dann marschierte er links an Myrus vorbei zu einem der vier Schreibtische, die in seinem Labor standen. Myrus beobachtete die Bewegungen von Immolius. Er ging unnatürlich schnell und seine Arme schwangen etwas zu stark an seinen Seiten hin und her, so stark sogar, dass es fast lächerlich aussah. Sein Gang wirkte sehr federnd und im Schein der Kerzen leuchtete das halb geschmolzene Kupfer auf seinen Knochen leicht orange, was im extremen Gegensatze zum kalten, bläulichen Schein der Essenz in seinem Brustkorb und in seinen Augenhöhlen stand. Immolius griff sich wahllos ein Papier und einen Bleistift und schien etwas darauf zu kritzeln. Dann stakste er wieder federnd zu Myrus und gab ihm den Zettel. Myrus las: Was hast du mit mir gemacht? Myrus schluckte. Auf die naheliegendste Frage hatte er sich nicht vorbereitet. Aus einem Instinkt und einem Schuldgefühl heraus entschied Myrus, dass dieser arme, tote Mann wenigstens die Wahrheit verdiente "Mein Name ist Myrus Magnificens. Ich bin Alchimist und... nunja ich habe dich von den Toten zurückgeholt" Immolius rührte sich nicht. Nur der blaue Nebel trat wieder in seine Augenhöhlen. Er schien Myrus zu fixieren. "Ich ähm... also... Ich habe ein Experiment gemacht und d-..." Immolius griff Myrus an die Kehle und drückte zu. Ihm blieb augenblicklich die Luft weg. Immolius mochte zwar nicht so stabil auf den Beinen stehen, doch Kraft hatte er wie ein normaler Mensch. Myrus Augen fingen an aus den Höhlen zu treten, während ihn Immolius wohl anschrie. Es war der Tatsache geschuldet das Immolius nicht sprechen konnte, dass dies nur als heiseres Fauchen bei Myrus ankam "N... Nich..." röchelte er. Fauchen. Myrus hätte schwören können, dass Immolius etwas wie "Warum sollte ich das tun?" gebrüllt hatte. Myrus japste nur noch "F... Frag... bean…wor" dann ging ihm endgültig die Puste aus. Sein Blickfeld engte sich ein, aber es reichte noch soweit, dass er sehen konnte wie Immolius den Totenschädel schieflegte. Er schien nachzudenken. Keine Sekunde zu früh ließ er Myrus Hals los und dieser trank gierig die Luft. Immolius stand einfach da und sah ihn aus nebligen Augen an. Dann suchte er wieder einen Papierfetzen. Er fand einen, Kritzelte und warf ihn Myrus vor die Füße. Er las Wieso ich? Was hast du getan? Was bin ich? Myrus richtete sich auf "Du bist du" sagte er, immer noch leicht röchelnd, "Immolius Gladortalis der Große. Ich habe dich von den Toten zurückgeholt, weil du der größte Krieger unserer Zeit bist. Der größte Krieger der jemals gelebt hat, furchtlos und aufrecht bis ins Alter von einhundertsechs Jahren. Wenn jemand den Tod verkraften und ihm trotzen würde dann du" Wieder legte Immolius den Totenschädel schief. Das Leuchten in seinen Augen intensivierte sich. Er kritzelte hektisch und warf Myrus einen neuen Schnipsel vor die Füße Warum? Myrus war verwirrt "habe ich doch gesagt, weil du der tap..." Er kritzelte. Myrus las Ich meine nicht, warum du mich von den Toten zurückgeholt hast, sondern warum du mich von den Toten zurückgeholt hast! Myrus überlegte. Warum eigentlich? Er war in den letzten Jahren so damit beschäftigt gewesen es einfach zu tun, dass er sich nie wirklich reflektiert gefragt hatte, weshalb er es tat. War es nicht seine Bestimmung die Natur in all ihren Aspekten zu erforschen und all ihre Gesetze umzugestalten? Er musste lachen. Schallend und anhaltend. Immolius legte den Kopf schief und sah ihn mit seinen nebligen Augen an, als sei Myrus hier das anormale hier im Raum. "Ich weiß es nicht" lachte Myrus schallend "ich weiß es nicht". Immolius wollte ihn schon wieder am Hals packen, da hörte Myrus auf zu lachen und sah ihn von einer Sekunde auf die andere todernst an. Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. Der emotionale Stress dieses Tages, die vielen Nächte ohne Schlaf die giftigen Dämpfe in diesem Labor all das kam auf einmal mit der Macht einer Schlammlawine auf ihn nieder. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Einen anderen Menschen als sich selbst gesehen? Wann hatte er sich zuletzt gewaschen? Alle diese Fragen waren nur Dominosteine in seinem Kopf, die von einem einzigen fallenden Dominostein in Bewegung versetzt wurden. Dieser Gedanke lautete: Ich hab´s geschafft! Es war so unglaublich, dass er an diesen Gedanken noch keine Zeit verschwendet hatte. Er hatte es geschafft! Er hatte den Tod besiegt! Es war alles nicht umsonst gewesen! Er war der größte Alchimist dieser Zeit! Der größte Alchimist aller Zeiten! Er hatte es geschafft. Er sprang wie ein Wahnsinniger in seinem Labor herum, vollführte Luftsprünge und sang Lieder die er gar nicht kannte, die ihm aber plötzlich einfielen und auf seinen Kopf rieselten wie Schneeflocken. Immolius sah sich dieses Affentheater an. Er wurde wütend. Er war verwirrt. Er war traurig. Er hatte Angst. Doch zuallererst war er wütend. Er wusste nur eins: an alldem hier war dieser kreischende Affe dort drüben schuld. Jener kreischende Affe, der ganz offensichtlich gerade, vor seinen Augen, den Verstand verloren hatte. Jener kreischende Affe, der dort gerade auf dem Fenstersims tanzte und irre vor sich hin meckerte. Sein Entschluss war eher eine Emotion als eine von der Ratio diktierte Handlung. Immolius sprang auf den Tisch und er war selbst überrascht, dass ihm das gelang. Der Tisch war gut und gerne vier Meter von ihm entfernt gewesen. Egal. Kaum war er klappernd auf dem Tisch gelandet, stieß er sich schon wieder ab und umklammerte den Alchimisten im Sprung. Dieser stand gerade besonders instabil auf einem Bein und das schiere Momentum riss ihn von diesem. Beide brachen sie durch die Fensterscheibe und stürzten gute vierzig Meter hinab. Immolius klapperte und knackte beim Aufprall und er spürte wie fast jeder Knochen in seinem Leib brach als er aufschlug. Doch die Essenz tat das, wozu sie bestimmt war. Unter blauem Leuchten richteten sich seine Knochen wieder von selbst in die ursprüngliche Stellung und das mit ihnen verschmolzene Kupfer diktierte die Richtung. Das war der Moment in dem Immolius feststellen musste, dass er sich auf diese Weise nicht von seinem Leiden würde erlösen können. Er war unsterblich. Myrus nicht. Der Bezwinger des Todes schlug auf dem Pflaster vor seinem Turm auf und brach sich Schädel, Genick und Rippen und er hatte keine Essenz, die ihm das schnell würde richten können. Myrus starb mit einem irren Grinsen auf den Lippen, schneeweißem Haar und abgemagert bis auf die Knochen. Er würde nie wieder aufstehen. Anders verhielt es sich mit Immolius. Dieser blieb nur etwa zehn Minuten liegen und wartete auf den Tod. Als er sich eingestand, dass dies sinnlos war, stieß er einen verzweifelten Schrei aus, den jeder andere nur als gespenstisches Fauchen wahrnahm und selbst das wurde bald von Wind verschluckt.

Immolius richtete sich auf und hörte den Regen auf seinen Schädel prasseln. Er ging zurück in den Turm des Alchimisten und musste dafür ein Fenster einschlagen, durch das er im Stande war zu schlüpfen. Drinnen angekommen suchte er Kleidung. Er hatte einen Entschluss gefasst, aber um diesen zu verwirklichen musste er sich verkleiden. Im Schlafzimmer des Alchimisten fand er einen alten Kleiderschrank und als er ihn aufriss nahm er sich eine okkulte Kutte mit schwarzer Kapuze und weiten Ärmeln heraus und dazu schwarze Lederstiefel. Alles saß irgendwie falsch. Er klemmte sich zwei Kissen des Alchimisten in den Hohlraum um seine Beckenknochen und zurrte sie mit einem Gürtel darum fest. Er stapfte hoch und fand nach einigem Suchen die Vorratskammer. Dort stand ein Fass mit Löschsand, den der Alchimist wohl für alle Fälle hier lagerte oder besser gelagert hatte. Es konnte durchaus passieren, dass die ein oder andere Chemikalie Feuer fing. Immolius kippte zwei mittelgroße Apfelsäcke mit Sand voll und zwei kleine Lederbündel mit Trockenfleisch ebenfalls. Wieder im Schlafzimmer des Alchimisten angekommen band er sich die beiden kleinen Sandbeutel an die Waden, die mittleren legte er in die Hohlräume zu den Kissen. Nun war sein Gang nicht mehr so federnd. Ein Schwergewicht würde er in diesem Leben - war das ein Leben? - wohl nicht mehr werden, doch jetzt würde es etwas mehr als das Fliegengewicht eines ausgemergelten Alchimisten brauchen, um ihn von seinen Füßen zu fegen. Er klappte den Schrank zu und sah sich zu seinem Entsetzen selbst im Spiegel, der an der Außenseite der Tür befestigt war. Er sah ein Gerippe, in dessen Brustkorb ein halb flüssiges und halb gasförmiges, blaues Licht leicht pulsierte. Langsam trat auch blauer Nebel aus seinen schwarzen Augenhöhlen und er ekelte sich vor seinem eigenen Totenlächeln. Adern gleich zogen sich die Kupferdrähte um seine Knochen. Es war abstoßend. Wieder stieß er ein wütendes Fauchen aus und drosch mit der Faust auf den Spiegel ein, der ihn so beleidigt hatte mit dem was er ihm zeigte. Zwei seiner Mittelhandknochen brachen als er wieder und wieder auf den Spiegel einschlug, doch die Essenz - die gottverdammte Essenz - löste dieses Problem vorbildlich. Als der Spiegel zerstört war fasste Immolius einen Entschluss, der eigentlich von vornerein schon klargewesen war. Nur jetzt hatte er den Grund für seine Entscheidung gesehen. Er würde nicht zu seiner Familie gehen, er würde niemanden aufsuchen den er kannte. Er würde diesem, seinem stärksten Bedürfnis nicht nachgeben. Sämtliche Leute, die ihn so sahen, würden wahrscheinlich ihren Verstand verlieren. Er würde weggehen. Weit weg. Vorher brauchte er nur noch eine Sache.

Seine Gruft war ein Prachtbau aus weißem Marmor, vor welchem zwei martialisch aussehende Krieger, mit auf dem Boden ruhenden Großschwertern, Wache hielten. Er stand in der Kutte des Alchimisten vor seiner offiziell letzten Ruhestätte und versuchte den Mut aufzubringen hineinzugehen. Der Anblick des so gnädig anmutenden Schicksals, aus welchem er gerissen worden war, war nur sehr schwer für ihn zu ertragen. Niemand hatte ihn auf seinem Weg hierher gesehen und trotzdem fühlte er sich beobachtet. Als er wie ein Dieb durch die Straßen der namenlosen Stadt geschlichen war, war ihm zum ersten Mal bewusst aufgefallen wie leise er sich bewegte. Myrus musste seine Knochen mit irgendetwas eingefettet haben um jedes Geräusch zu unterdrücken. Über was man so alles nachdachte, wenn man sich vor etwas drückte! Erstaunlich! Immolius nahm all seinen Mut zusammen und schritt auf seine Gruft zu. Das Portal war über fünf Stufen zu erreichen die etwas in die Erde führten und Immolius kam jede Einzelne vor wie ein Berg von welchem er heruntersprang. Unten war es dunkel und Immolius entzündete eine der Kerzen, die er noch vorsichtshalber in die Kutte gesteckt hatte. Er war unten in der Gruft angekommen. Graue Granitfliesen kleideten den Fußboden aus und die Absätze von Immolius ´ Stiefeln hallten lange durch die Gruft. Er öffnete ein eisernes Tor und stand vor seinem leeren Sarg. Der Anblick war furchteinflößend und peinigend, aber Immolius war nicht deswegen gekommen. Er war wegen dem gekommen, was dort ganz schwach im Schein seiner Kerze reflektierte. Seine Rüstung stand auf einem Ständer genauso wie er sie zu Lebzeiten getragen hatten und am Gürtel hing immer noch sein Rapier, mit dem er schon zu Lebzeiten so manches Leben beendet und manche Gefahr überstanden hatte. Sie waren die einzigen Freunde, die ihm bei seiner größten Aufgabe zur Seite stehen würden. Sie waren etwas rostig und das Rapier nicht mehr scharf, doch damit hatte Immolius gerechnet. Er holte Fett, Öl, Lappen und Wetzstein aus seiner Tasche und pflegte die Plattenteile der Rüstung sorgfältig. Er schrubbte so lange bis er sich in den Beinschienen spiegeln konnte und er klopfte den wollenden Gambeson darunter gut aus und fettete das Leder der Handschuhe wieder ein, bis es so geschmeidig wie zu seinen Lebzeiten war. Dann pflegte und schärfte er das Rapier und mit jedem Schliff mit dem diese Waffe wieder so tödlich wie einst wurde, stieg auch sein Selbstbewusstsein und seine Zuversicht die Aufgabe, die vor ihm lag zu meistern. Dann legte er die Rüstung an. Stück für Stück und zurrte sich ganz allein fest, den einen Knappen würde er jetzt nicht bekommen. Nach einigen Stunden stand er in voller, polierter Rüstung in seiner Gruft vor seinem Sarg, den Rapier an der Seite, den Helm unter dem Arm. Die Kutte des Alchimisten hatte er als Mantel über die Rüstung gezogen und ihre Weite lies dies zu. Mit ihrer schwarzen Farbe und den königsblauen Runen auf ihr verlieh sie seiner Erscheinung etwas Imponierendes. Er setzte seinen Helm auf und war sich nun gewiss, dass niemand seinen Totenschädel sehen könnte, wenn er es nicht wollte. Er zog die Kapuze über den Helm und trat hinaus in die Dämmerung. Ein neuer Tag begann in der namenlosen Stadt, aber Immolius würde ihn nicht hier erleben. Er würde hinaus in die Welt ziehen. Er würde nie anhalten und nie müde werden bis er jemanden fand der ihn wieder von dieser Welt in die Jenseitige bringen konnte. Immolius war um seinen langen Schlaf betrogen worden und er würde ihn sich wiederholen.



Ende
 

WinterAgain

Mitglied
Ort: die Namenlose Stadt; der Turm des Alchimisten

Zeit: irgendwann




Myrus Magnificens war der klügste Mensch der Welt. Das war weder Lobhudelei kriecherischer Ratten oder hochtrabende Selbsteinschätzung, es war ein Fakt. Er reihte sich in einen ebenso weitverzweigten wie hochdekorierten Stammbaum von Alchimisten, eben jener Berufsgruppe, die die Namenlose Stadt zu dem gemacht hatte, was sie heute war: das Zentrum der zivilisierten - und auch der unzivilisierten - Welt und der Mittelpunkt allen Strebens, ein. Alchimisten waren Koryphäen verschiedenster Wissenschaften. Sie waren Mathematiker, Biologen, Astronomen und Astrologen, Wahrsager, Magier, Bibliothekare, Dichter, Physiker, Ärzte, Scharlatane, Intellektuelle und vor allem niemals zufrieden. Myrus war eine Bildung und Erziehung vergönnt gewesen, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Er hatte Bücher nicht nur gelesen, sondern sie auswendig gelernt, hatte Tiere nicht nur beobachtet und ihr Verhalten studiert, sondern sie seziert, in ihre Einzelteile zerlegt, vermessen und sich jedes Detail so akribisch und sorgfältig eingeprägt, dass er sie vor seinem geistigen Auge erschaffen und wieder zerfallen lassen konnte, wann immer ihm danach war. Myrus war ein wandelndes Nachschlagewerk und Erfinder in einem, immer darum bemüht, seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern. Ja Myrus war der klügste Mann der Welt und er hatte fest vor, auch der bedeutendste zu werden. Er wollte es mit dem Feind allen Lebens aufnehmen und seiner Bestimmung folgen. Diesen Feind hatte noch nie jemand besiegt, weder sein Vater noch dessen Vater noch alle Väter, die ihm vorangegangen waren: den Tod.

Myrus nahm in jungen Jahren den Kampf auf und lernte und forschte ohne Unterlass. Die ersten zehn Jahre seiner Forschung verbrachte er mit Beobachten, Skizzieren, Lesen und Notieren. Wie lange lebten welche Lebewesen unter welchen Bedingungen, was war lebensverkürzend oder -verlängernd, was war alt und was war jung und in welcher Relation zu welchem "jung" gibt es eigentlich ein "alt"? Ein Frosch mochte im Vergleich zu einer Schildkröte ein sehr kurzes Leben haben, doch im Vergleich zu einer Kirschblüte war dieses Leben fast unfassbar lang. Allerdings konnte eben jene Kirschblüte an einem Baum wachsen, dessen Lebenszeit das Alter der Schildkröte um ein Vielfaches überstieg. Wie brachte dieser Baum es fertig so alt zu werden? Wer oder was ließ dies zu? Es waren schier endlose Fragen und auch eine schier endlose Arbeit und Myrus verzweifelte ein ums andere Mal an ihr. Man sah ihn nicht selten neben einer der Alleen der namenlosen Stadt stehen, die Hände in die Borke einer alten Eiche gekrallt, sie mit aller Kraft schüttelnd und aus vollem Hals brüllen: "Verrate mir dein Geheimnis! Los! Ich befehle es dir! WAS - IST - DEIN - GEHEIMNIS?!" Die übrigen Städter waren bestenfalls befremdet und schlimmstenfalls belustigt über das Verhalten dieses Menschen, der eigentlich die geistige Elite der Namenlosen Stadt darstellen sollte. Trotz seiner etwas unorthodoxen Methoden und teils heftigen Gefühlsausbrüche, begriff Myrus etwas. Langsam zwar, doch er begriff: Leben, oder besser, ein langes Leben war eine gute Mischung aus Pflege, Willen und Glück. So glücklich er war als er diese Erkenntnis hatte, so deprimiert war er als er genauer über sie nachdachte. Was sollte er mit seiner Erkenntnis anfangen, wo er doch nur Einfluss auf die Pflege hatte? Und er konnte eine Pflanze, ein Tier oder gar einen Menschen so lange hätscheln und pflegen, wie er wollte, irgendwann würde sie, es oder er mit absoluter Gewissheit doch sterben. Jeder Bauer, der sein Zugpferd schlachtet, da es nicht mehr kräftig genug ist, um seinen Pflug zu ziehen, wusste das. Man musste kein Alchimist sein, um das zu verstehen, man musste aber einer sein, um ein so großes Ego aufzubauen, dass man dachte dies mit ein paar Tinkturen, Salben, Beschwörungen und Inhalationen ändern zu können. Myrus hatte versucht ein Pferd zu reiten aber einen Esel gesattelt, kurz: er war die Sache von Grund auf falsch angegangen. Zu seinem großen Leidwesen war selbst für einen Alchimisten das Glück ungreifbar. Vielleicht gelang es in ferner Zukunft irgendjemandem diese Variable in eine Konstante zu verwandeln und dahingehend zu zähmen, doch Myrus konnte nicht dieser Jemand sein. Er hatte andere Aufgaben.

Das Einzige, was ihm blieb, war der Wille. Der Wille zu leben, weiter zu existieren, der jedem Lebewesen innewohnt, das war es, worauf er sich konzentrierte. Aber der Wille allein war wie ein Geist: ohne Körper und ungreifbar für ihn und bei jedem Lebewesen war er unterschiedlich stark ausgeprägt. Myrus verzweifelte über diesen Gedanken und war eines Abends kurz davor, aus dem obersten Fenster seines schwarzen Turms zu springen, doch gerade als er auf den Sims steigen wollte, glitt er aus und konnte sich gerade noch an einem Bücherregal festhalten. Dies war aber dazu gedacht, Bücher und nicht Alchimisten in der Lebenskrise zu tragen, und brach aus der Wand. Ein Regen aus Büchern ging auf ihn nieder und eins traf Myrus so hart an der Schläfe, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er klebriges Blut an seiner Schläfe fühlte. Er rappelte sich auf und sah auf das Buch, das ihn fast besinnungslos geschlagen hatte. Es war ein schwerer Dünndruckwälzer von viertausend Seiten mit schwerem, muffigem Ledereinband- Das war ... Moment mal ... Myrus legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Es waren die psycho-magischen Schriften und Zauberformeln der Gedanken- und Gefühlskontrolle des Magiers und Wissenschaftlers Adalbertius Incognitio. Myrus erinnerte sich dieses Buch gelesen zu haben, zumindest in Auszügen. Er erinnerte sich an eher esoterischen als empirischen oder magischen Lesestoff, der zu gut zwei Dritteln wertlos war. Doch einige Zaubersprüche und Rituale waren zu finden, die tatsächlich neu waren, mit dem Potenzial, revolutionär zu werden. In Erinnerung war Myrus das Ritual über die Konservierung von Emotionen geblieben. Von Liebe, Hass, Neid und Scham. Wieso sollte es eigentlich nicht auch mit Trotz gehen? Was war denn der Wille zu leben anderes als der größte Trotz, den ein Lebewesen aufbringen konnte? Wie unter Strom stand Myrus auf, in seinem Hirn arbeitete es. Und dann formte sich in seinem Kopf ein irrer Plan. Ein Plan, der genial war. Genial und undurchführbar. Aber weshalb eigentlich? Er müsste nur ein paar Rädchen in eine Maschine einsetzen und einige andere für diese Maschine erschaffen und noch das ein oder andere tun. Das, was sich da in seinem Kopf formte, war ein Lebenswerk. Ein Monument. Ein epochales Meisterwerk.

Am liebsten hätte er Adalbertius Incognitio umarmt, nur hatte der vor mittlerweile vierzig Jahren gelebt und war in seiner Hochzeitsnacht gestorben. Adalbertius war nach vierzehn Tagen ununterbrochenen Rechnens und Hungerns zu der Erkenntnis gekommen, dass er ein Weibchen der in den Bergen hinter der Namenlosen Stadt lebenden Riesenskorpione zu heiraten hatte. Dies führte aber nicht zu einer glücklichen und erfüllten Ehe, sondern nur zu einem Giftstachel im Oberkörper von Adalbertius, bevor die Trauzeremonie vollständig beendet worden war. Er endete sauber in zwei Teile geschnitten und im Magen seiner Braut. Die Geschichte schweigt sich übrigens darüber aus, wer Adalbertius und den Skorpion getraut hatte. Myrus war wie im Rausch. Für fast zwei Jahre verließ er seinen Turm nicht. Er musste die Ärmel hochkrempeln. Sein Vorhaben verlangte noch nach einigem. Das Ritual von Adalbertius verlangte, soweit Myrus es verstand, ein, wie es in der Anleitung genannt wurde, „Gefäß“. Leicht kryptisch hieß es in der Anleitung: „benötigt werde ein kaum kaltes Gefäß von totem Bein und totem Geist. Dies bespreche der kühne Forscher mit folgenden Formeln. -Es folgten insgesamt vierhundertsechzehn Formeln- Sollten diese Formeln nach unbestimmbarer Zeit Wirkung zeigen, so gelte eine Emotion als gebunden. Jene Emotion wirke als Funke, der das Spektrum der Emotionen wieder entzündet. Jenes Spektrum ist in der Essenz unvergänglich“ Eigentlich konnte dieser Beschreibung nur eine Leiche gemeint sein. Des Weiteren wies das Ritual auf eine Materie, eine Essenz hin, in der alle Elemente gebunden sein sollten. Im Text hieß es „Man nehme zum Binden und Konservieren der Emotion eine Essenz, die alles enthalte und füge derselben die Emotionen durch Zwang bei.“ Adalbertius hatte es wohl nicht nötig gehalten sich wissenschaftlich fundierter und präziser auszudrücken, was wohl der Grund war, dass seine Schriften mehr als umstritten waren. Man war gezwungen ihn wörtlich zu nehmen. Wenn eine Essenz vorhanden sein sollte die „Alles“ verlangte, musste Myrus wohl alles herschaffen. Seine Sparbücher würden in nächster Zeit massiv gefordert werden. Zuletzt hieß es „Zum Lenken des Spektrums der Emotionen, stelle der Kluge ein Steuerrad her und verschmelze es unveränderlich mit dem Gefäß“. Ein Steuerrad? Wie sollte das denn aussehen? Im Buch stand nichts dazu. Myrus schätzte, dass hier seine Eigenleistung gefordert war. Die Arbeit musste aber erst beginnen. Zuerst löste alle seine Konten bei der Bank der Namenlosen Stadt auf und verschleuderte das Bargeld an seine Spitzel, die ihm geeignete Probanden aussuchen sollten. Myrus wollte einen Menschen, bei welchem der Trotz, dem Tod etwas entgegenzusetzen, beispiellos mächtig war. So kam Immolius Gladortalis in den Turm des Alchimisten.

Immolius war einhundertsechs Jahre alt, was in der Unterschicht der Namenlosen Stadt für zwei gute Durchschnittsleben gereicht hätte. Er hatte ein erfülltes Leben geführt, als er eines Tages um die Mittagszeit herum an Altersschwäche starb. Immolius´ Trotz war stark, doch der Tod war stärker. Er war ein altgedienter General der Armee gewesen, ein kluger Taktiker und ein großer Freund des Kampfes. Sein Rapier hatte mehr Leben genommen als die Waffen mancher Kompanie zusammen. Er wurde in allen Ehren beigesetzt und die Trauerfeier war glorreich und die Menge der Trauergäste groß. Doch die Nacht war dunkel. Zwei Leprakranke hatten in einer öffentlichen Suppenküche einem von Myrus´ bestochenen Spitzel hatten von der Beerdigung berichtet, welcher es wiederrum Myrus zutrug. Man sah dann in der darauffolgenden Nacht zwei dubiose Gestalten an der Gruft des Immolius Gladortalis. Am Tag darauf war Myrus in seinem Labor und hantierte freudig an seinen Geräten herum.

Der Proband lag auf seinem Tisch und das Experiment konnte beginnen. Der Alchimist war etwas übernächtigt, doch die Wissenschaft schlief nicht. Er holte die Schriften des Adalbertius Incognitio aus ihrem Regal und öffnete sie andächtig, obwohl er sie inzwischen auswendig kannte. Er wollte nichts dem Zufall überlassen oder irgendeine falsche Eingebung alles Verderben lassen. Das Ritual konnte beginnen. Myrus zeichnete mit fahrigen Fingern die Beschwörungszeichen mit etwas Holzkohle auf den Boden rund um den Körper auf dem Tisch und in dem Moment, in dem sich das letzte in die Reihe fügte, leuchteten sie strahlend auf. Nun kam der anstrengende Teil des Rituals. Myrus kniete sich auf den kalten Boden in den Formelkreis und betete die Formeln zur Beschwörung herunter.

Alle vierhundertsechzehn. Auswendig. Und wenn er fertig war, fing er wieder von neuem an. Emotionen und Gedanken, die noch in dem Toten steckten, waren wie glitschige Aale und Myrus musste sie in seine Netze treiben. Geduldig und ohne müde zu werden wiederholte er die vierhundertsechzehn Formeln kniend vor dem erkaltenden und langsam faulenden Körper. Er zählte nicht mit, weil auch er selbst sich in einer Art Trance befand, doch rückblickend glaubte er etwa zwei Tage so auf Knien vor der Leiche von Immolius Gladortalis gekniet und die Formeln vor sich her gemurmelt zu haben. Er sprach sie mit sturer Beharrlichkeit so lange, die auch die letzte Emotion und der letzte Gedanke aus dem Körper, der mal Immolius Gladortalis gewesen war, herausgepresst sein würde. Nach zwei Tagen des ununterbrochenen hin- und her Schaukelns und Murmelns, zeigte das Ritual plötzlich Wirkung. Es tat dies so überraschend und abrupt, dass Myrus zuerst glaubte jemand hätte ihn mit einem Knüppel zu Boden geprügelt. Ein stechender Schmerz schoss ihm in die Augäpfel und Ohrmuscheln und seine Nebenhöhlen schienen so groß wie Wassermelonen zu werden. Ein krümmte sich unter schweren Magenkrämpfen und seine Kiefer stießen in spastischen Zuckungen immer wieder aufeinander, sodass er sich um ein Haar einen Gutteil seiner Zunge abgebissen hätte. Er schwitzte und weinte Blut und trotz seiner jungen Jahre wurden seine Haare in Sekunden schneeweiß. Die Runen auf dem Boden schienen nun zu pulsieren und gleichzeitig in einer unbekannten Sprache zu flüstern, zu schreien und zu singen. Myrus lag dort auf dem Boden und konnte nur einen klaren Gedanken fassen: etwas muss schiefgelaufen sein, etwas muss schiefgelaufen sein, etwas mu... Und dann genauso plötzlich wie die Wirkung des Rituals eingesetzt hatte, war sie vorbei. Was übrig blieb war ein keuchender Alchimist in einer Lache seines ausgeschwitzten Blutes umgeben von irgendwelchen wilden Zeichen. Myrus hob den Kopf und war augenblicklich der Überzeugung, dass rein gar nichts bei dem Ritual "schiefgelaufen" war. Im Gegenteil. Das Ritual hatte planmäßig funktioniert, Adalbertius Incognitio hatte nur über seine Nebenwirkungen geschwiegen, da es sonst wohl nie jemand versucht hätte. Myrus konnte das sehr gut verstehen. Über dem Körper von Immolius schwebte nun eine Kugel, die aussah wie aus Wasser gemacht. In ihr schienen Gesichter zu schweben. Wenn man genau darüber nachdachte war "Gesichter" wohl etwas zu schmeichelhaft "Fratzen" träfe wohl eher. Sie zogen sich zusammen und dehnten sich aus, stülpten sich von innen nach außen und schienen aber alle Myrus anzuschauen. Die Emotionen waren verkörpert worden. Das Ritual hatte Erfolg gehabt.

Myrus musste nun den nächsten Schritt einleiten. Er brauchte jene halb magische, halb chemische Kraft, die sich wie ein Parasit an Materie klebt: Die eine Materie, die in der Lage ist Kraft zu besitzen und zu bündeln, wo es eigentlich keine geben sollte. Er verbrachte nun die nächsten Monate damit diese alchimistische Essenz aufzukochen. Das war keine leichte Angelegenheit, war doch jene Essenz doch nichts anderes als die konzentrierte Mischung jedes Elementes, das in der alchimistischen Welt existierte. Myrus mischte flüssiges Eisen mit flüssigem Arsen und fügte dem Ganzen noch eine gute Schippe Quecksilber hinzu und dann fehlte Gold als Neutralisator und Chlor als Katalysator. Die Möglichkeiten waren zwar nicht endlos doch vielfältig und es musste mancher Kopf rollen, manches Versprechen getan werden und mancher Geldbeutel den Besitzer wechseln, um die Elemente zu beschaffen, die Myrus benötigte. Er sättigte die Essenz zusätzlich mit Pflanzen und Kräutern ebenso wie mit Tieren und Nährstoffen und vor allem das Quieken und Fiepsen der Tiere, erfüllte die Umgebung mit Geräuschen, bei denen jedem geistig gesunden Menschen nicht ganz wohl sein sollte.

Die Essenz blubberte und kochte und an dem Schwappen, dass sie ohne jedes Zutun von außen, zeigte, erkannte Myrus, dass die Essenz reif war. Noch nie hatte jemand es gewagt, die verkörperten Emotionen eines Toten mit jener kraftverleihenden und unberechenbaren Essenz zu vermischen, die sich wie ein Bandwurm an Dinge klammerte und nicht mehr losließ. Er hatte nur eins vergessen. Es fehlte noch etwas: wirkliche, menschliche Intelligenz. Auch über dieser Aufgabe zerbrach sich Myrus mehrere Jahre den Kopf, während der Körper von Immolius immer weiter zerfiel und von Tag zu Tag nicht mehr als das Skelett auf dem Tisch lag, welches die Decke von Myrus Labor angrinste. Myrus verlagerte seine Studien nun darauf zu erforschen wie Denken funktioniert und abläuft. Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen nun all seine Experimente und Erkenntnisse darzulegen und die Schlüsse die er aus denselben zog näher zu erläutern (es wäre ein eigenes Buch für sich) daher hierzu nur so viel: nach drei Wochen des Studiums kam Myrus zu dem Schluss, dass jeder Gedanke ein Impuls im Hirn war und das Hirn war nichts anderes als ein Übersetzer, der diese Impulse auffängt und seine Schlüsse aus ihnen zieht. Und anhand dieser Schlussfolgerung lenkte das Hirn den Körper. Als eine Art … Steuerrad! Myrus machte sich nun daran selbst so einen Übersetzer zu bauen und ihn in den Kopf des Skelettes einzusetzen. Er verband dann schließlich auch die Extremitäten des Skelettes mit seinem eigens gebauten Gehirn aus Kupferdraht. Geduldig wickelte er Knochen zusammen und stabilisierte das Gerippe, dem nun mehr und mehr organisches Material fehlte, um es auf natürliche Weise zusammenzuhalten. Jetzt fehlte nur noch der anfängliche Impuls mit dem Myrus dem Organismus seine Intelligenz, sein kontrollierendes Element in Schwung bringen wollte.

Myrus hatte alle Komponenten beisammen, um nun sein Lebenswerk einzuleiten. Zuerst bedurfte es einer Paarung der Essenz mit den konservierten Emotionen. Die Essenz war erstaunlich offen für die Materie der Emotionen und mit einem glücklichen Schmatzen nahm sie die Materie in sich auf. Nach ein paar Sekunden färbte sich die Essenz anders ein. War sie vorher noch eine milchige grünlich- weiße Masse gewesen, klarte sie sich jetzt auf und wurde erst smaragdgrün, dann knallgelb, für einen kurzen Moment tiefschwarz und dann verblieb sie in einem satten, klaren blau, dass aus sich selbst zu leuchten schien. Er ließ diese emotionsgeschwängerte Essenz kontrolliert auf den Körper los und die Essenz klebte sich wie eine halb flüssige- halb gasförmige Nacktschnecke an die Gerippe. Sie schien neugierig und kroch in jeden Winkel und jeden Hohlraum, den das Skelett ihr bot, um sich dann im Rippenkorb einzunisten und zu ruhen schien.

Jetzt kam der gefährliche Teil der Verschmelzung: Myrus musste in das Labor, nahe an die Essenz heran und das Kupferkabel, welches er schon Tage zuvor an der obersten Spitze seines Turmes angebracht hatte, mit jenem kupfernem Gehirn verbinden, dass er selbst in mühevoller Kleinarbeit entworfen, gefertigt und in den Schädel anstelle des längst verwesten Gehirns eingesetzt hatte. Er näherte sich vorsichtig dem Gerippe des Probanden und hantierte am Schädel herum. Er bohrte ein kleines Loch mit einem Handbohrer in die Schädeldecke und versuchte den Draht durch dasselbe zu schieben. Kaum war der Bohrer durch die Schädeldecke gebrochen, da gab die Essenz schon ein Geräusch von sich, das an Wind erinnerte, der um ein kleines Hexenhäuschen in sturmgepeitschter Nacht herumweht und sie schloss das Loch im Schädel einem blauen Lichtschein innerhalb von Sekunden.

Myrus war arg erschrocken als er diesen Laut hörte und gut eine Körperlänge zurückgesprungen. Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn und trat mit weichen Knien wieder an den Körper heran. Ihm fiel jetzt in diesem Moment ein, dass er die Essenz zwar erschaffen hatte, doch kontrollieren konnte er sie nicht. Genaugenommen hatte er keine Ahnung ob sie gefährlich war oder nicht. Überhaupt wusste er nicht wie man die Essenz zerstören konnte, außer sie mit der Zeit veralten zu lassen. Er schob diese Gedanken beiseite. Er war jetzt zu weit gegangen um umzukehren und hatte zu hart gearbeitet um jetzt abzubrechen! Ja das sind die Gedanken die Wissenschaftler sich selbst einreden, wenn sie ihren inneren Kompass zu beruhigen versuchen.

Schweren Herzens fing Myrus also wieder zu bohren. Als er spürte, dass die Decke des Schädels allmählich nachgab hielt er das Ende des Drahtes schon parat um ihn mit dem "Hirn" in Kontakt zu bringen bevor die Essenz die Verwundung des Wirtskörpers heilen konnte. Das Loch klaffte auf -wieder dieses windige Geräusch von der Essenz- und so schnell er konnte schob Myrus den Draht in das Loch und spürte wie er das "Hirn" im Inneren traf. Dann war das Loch auch schon zugewachsen und Myrus hätte den Draht selbst nicht besser im Schädel fixieren können. Jetzt wartete Myrus auf den Impulsgeber, in seinem Fall auf einen Blitz, der, so die Theorie, in die Turmspitze einschlagen und am Kupferdraht entlang in den Schädel fahren und in ihm die Impulse auslösen würde, die die Essenz kontrollieren und die in ihr gelösten Emotionen verstehen und hervorrufen könnten. Die Essenz würde mit dem Hirn in einer seltsamen Mischung aus Symbiose und technischer Abhängigkeit miteinander leben müssen, wie in einem echten, vollständig biologischen Körper. Was war in einem solchen ein Hirn ohne das Herz? was das Herz ohne das Hirn? Myrus musste jetzt nur noch auf einen Blitz warten und da dieser von Myrus so ersehnte Gast immer in einer Reisegruppe zusammen mit Donner und Regen zu erscheinen pflegt, hoffte Myrus sehnsüchtig auf ein Gewitter. Er musste sich drei ganze Wochen gedulden bis er mit einem freudigen Lächeln fernen Donner vernahm.

Um Myrus´ Turm stürmte und tobte es. Regen klatschte immer in regelrechten Wellen gegen die Fenster und der Donner war gerade im Labor ohrenbetäubend. Myrus sah gerade mit einer seltsamen Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung in seinem Labor und starrte aus dem Fenster nach draußen. Gerade wollte er das Barometer zum x-ten Mal überprüfen, als es laut knallte und das Kupferkabel auf einmal glühte. Es knisterte und knackte und das Glühen fuhr unaufhaltsam auf den Schädel zu. Es war getan. Als das Glühen nun auch den Schädel erreichte wehte die Essenz nicht nur, sie schrie regelrecht auf. Es war ein Geräusch, dass aus den untersten Kreisen der Hölle kommen musste und Myrus versteckte sich völlig verstört hinter einem Stuhl. Funken stoben aus dem Brustkorb des Gerippes und die Essenz erinnerte zeitgleich an einen Tornado und an ein Meer im Sturm. Sie wallte auf und schien zu fauchen und das Kupfer um die Knochen herum glühte und wurde so weich bis es untrennbar mit den Knochen des Skelettes verschmolzen war.

Dann war es wie bei dem Ritual des Adalbertius Incognitio auf einmal ganz still. Myrus lugte etwas hinter dem Stuhl hervor nur um dann sofort vor Schreck wieder rückwärts umzufallen. Wie ein Mensch, der aus einem Albtraum erwachte, schoss das Skelett in die Höhe und riss dabei de Kupferdraht ab, der an das Dach gebunden war. Es rutschte zurück und strampelte mit den Füßen und fiel dann klappernd von eben dem Tisch, auf dem es fast zehn Jahre lang gelegen hatte. Blaue Nebel der Essenz stiegen aus seinen Augenhöhlen und seinem Schlund und die Essenz in seinem Rippenkorb schien zu pulsieren und ihn verlassen zu wollen. Die Essenz konnte aber nicht mehr weg. Sie würde nie wieder wegkönnen.

Der Tote rappelte sich auf und schien das erste Mal einen Blick auf seine knöchernen Finger zu werfen. Er drehte sie vor seinen Augen nur eine kurze Zeit lang, dann schüttelte er sie als hätte er eine Spinne darauf entdeckt. Er blickte an sich herab und umfasste ungläubig seine Rippen und sein Brustbein. Er schreckte vor der Essenz in seinem Brustkorb zurück und sah sich um. Hätte es Gesichtszüge gehabt, so wären sie in diesem Augenblick panisch gewesen. Scheinbar verwirrt sah der Tote sich um und blickte auf das Fenster. Myrus verstand was er tun wollte und er spurtete hinter seinem Stuhl hervor, schnitt dem Untoten den Weg ab und warf ihn nieder. Der Untote war erstaunlich flink auf den Beinen, doch Myrus konnte ihn noch rechtzeitig einholen. Es gab nichts was der Untote gegen Myrus Attacke tun konnte, denn Essenz hin, Essenz her, das Skelett eines Menschen wog nur etwa 20kg und es war Myrus ein leichtes eben diese 20kg umzuwerfen.

Der Untote wehrte sich gegen ihn und Myrus hörte wie seine Rippen knackten und einsackten, nur um von der Essenz wieder nach außen gedrückt und geheilt zu werden. Myrus nahm den Totenschädel in beide Hände und blickte ihm in die Toten Augenhöhlen "Sie mich an!" rief er laut "Sieh mich an! beruhige dich" Langsam hörte das Gerippe auf unter ihm herumzuzappeln. Er spürte das es ihn ansah. Die blauen Nebelschwaden, die in seinen Augenhöhlen eben noch so präsent gewesen waren, schienen sich etwas weiter in den Schädel zurückzuziehen.

Myrus sah dies als verhältnismäßig gutes Zeichen und stieg von dem Gerippe herunter und es richtete sich auf und sah sich jetzt bewusst im Raum um. Dann sah es Myrus an und klapperte mit den Zähnen. Myrus brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass das Skelett mit ihm reden wollte. Er unterbrach es "ich verstehe dich nicht!" sagte er "du hast keine Stimmbänder mehr, du kannst nicht reden" Das Skelett griff sich hastig an die Kehle und Myrus Empathie sagte ihm, dass die gerade erst niedergekämpfte Panik es wieder zu übermannen drohte. Und so ging er vorsichtshalber einen Schritt auf den Untoten zu und umklammerte seine Schultern "Ich weiß das du Angst hast" der Untote sah sich hektisch nach links und rechts um und versuchte Myrus´ Hände von seinen Schultern zu wischen, doch der Alchimist hielt ihm stand "Ich weiß das du verwirrt bist" sagte er. Wieder machte das Skelett Anstalten sich aus Myrus´ Griff zu winden und der blaue Nebel tauchte wieder in seinen Augen auf. Fieberhaft überlegte Myrus wie er zu dem Untoten durchdringen konnte. Wie nannte er ihn in seinen Gedanken überhaupt? Er hieß doch ...

"Immolius!" rief er laut und der Angesprochene hielt kurz inne. Er hatte ihn. "Immolius" rief Myrus noch einmal "Du bist Immolius Gladortalis, der größte Held und Kämpfer unserer Zeit! Erinnerst du dich?!". Selbstverständlich war dies nur ein Schuss ins Blaue, Myrus hatte keine Ahnung ob oder woran sich jemand (war das da überhaupt ein Jemand?) nach dieser Erweckung erinnern konnte. Myrus Magnificens, der klügste Mensch der Welt, hatte keine Ahnung was er tat. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er raten und eben diesen Schuss ins Blinde wagen. Das Skelett nickte. Langsam. Bedächtig. Der Nebel zog sich wieder zurück. Myrus sah Immolius weiter an und war nun sicher ihn loslassen zu können. Immolius stand einfach nur da und schien zu einer Salzsäule erstarrt. Dann marschierte er links an Myrus vorbei zu einem der vier Schreibtische, die in seinem Labor standen. Myrus beobachtete die Bewegungen von Immolius. Er ging unnatürlich schnell und seine Arme schwangen etwas zu stark an seinen Seiten hin und her, so stark sogar, dass es fast lächerlich aussah. Sein Gang wirkte sehr federnd und im Schein der Kerzen leuchtete das halb geschmolzene Kupfer auf seinen Knochen leicht orange, was im extremen Gegensatze zum kalten, bläulichen Schein der Essenz in seinem Brustkorb und in seinen Augenhöhlen stand.

Immolius griff sich wahllos ein Papier und einen Bleistift und schien etwas darauf zu kritzeln. Dann stakste er wieder federnd zu Myrus und gab ihm den Zettel. Myrus las: Was hast du mit mir gemacht? Myrus schluckte. Auf die naheliegendste Frage hatte er sich nicht vorbereitet. Aus einem Instinkt und einem Schuldgefühl heraus entschied Myrus, dass dieser arme, tote Mann wenigstens die Wahrheit verdiente "Mein Name ist Myrus Magnificens. Ich bin Alchimist und... nunja ich habe dich von den Toten zurückgeholt" Immolius rührte sich nicht. Nur der blaue Nebel trat wieder in seine Augenhöhlen. Er schien Myrus zu fixieren. "Ich ähm... also... Ich habe ein Experiment gemacht und d-..." Immolius griff Myrus an die Kehle und drückte zu. Ihm blieb augenblicklich die Luft weg. Immolius mochte zwar nicht so stabil auf den Beinen stehen, doch Kraft hatte er wie ein normaler Mensch. Myrus Augen fingen an aus den Höhlen zu treten, während ihn Immolius wohl anschrie. Es war der Tatsache geschuldet das Immolius nicht sprechen konnte, dass dies nur als heiseres Fauchen bei Myrus ankam "N... Nich..." röchelte er. Fauchen. Myrus hätte schwören können, dass Immolius etwas wie "Warum sollte ich das tun?" gebrüllt hatte. Myrus japste nur noch "F... Frag... bean…wor" dann ging ihm endgültig die Puste aus. Sein Blickfeld engte sich ein, aber es reichte noch soweit, dass er sehen konnte wie Immolius den Totenschädel schieflegte.

Er schien nachzudenken.

Keine Sekunde zu früh ließ er Myrus Hals los und dieser trank gierig die Luft. Immolius stand einfach da und sah ihn aus nebligen Augen an. Dann suchte er wieder einen Papierfetzen. Er fand einen, Kritzelte und warf ihn Myrus vor die Füße. Er las Wieso ich? Was hast du getan? Was bin ich? Myrus richtete sich auf "Du bist du" sagte er, immer noch leicht röchelnd, "Immolius Gladortalis der Große. Ich habe dich von den Toten zurückgeholt, weil du der größte Krieger unserer Zeit bist. Der größte Krieger der jemals gelebt hat, furchtlos und aufrecht bis ins Alter von einhundertsechs Jahren. Wenn jemand den Tod verkraften und ihm trotzen würde dann du" Wieder legte Immolius den Totenschädel schief. Das Leuchten in seinen Augen intensivierte sich. Er kritzelte hektisch und warf Myrus einen neuen Schnipsel vor die Füße Warum? Myrus war verwirrt "habe ich doch gesagt, weil du der tap..." Er kritzelte. Myrus las Ich meine nicht, warum du mich von den Toten zurückgeholt hast, sondern warum du mich von den Toten zurückgeholt hast! Myrus überlegte. Warum eigentlich? Er war in den letzten Jahren so damit beschäftigt gewesen es einfach zu tun, dass er sich nie wirklich reflektiert gefragt hatte, weshalb er es tat. War es nicht seine Bestimmung die Natur in all ihren Aspekten zu erforschen und all ihre Gesetze umzugestalten? Er musste lachen. Schallend und anhaltend. Immolius legte den Kopf schief und sah ihn mit seinen nebligen Augen an, als sei Myrus hier das anormale hier im Raum. "Ich weiß es nicht" lachte Myrus schallend "ich weiß es nicht". Immolius wollte ihn schon wieder am Hals packen, da hörte Myrus auf zu lachen und sah ihn von einer Sekunde auf die andere todernst an. Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. Der emotionale Stress dieses Tages, die vielen Nächte ohne Schlaf die giftigen Dämpfe in diesem Labor all das kam auf einmal mit der Macht einer Schlammlawine auf ihn nieder. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Einen anderen Menschen als sich selbst gesehen? Wann hatte er sich zuletzt gewaschen? Alle diese Fragen waren nur Dominosteine in seinem Kopf, die von einem einzigen fallenden Dominostein in Bewegung versetzt wurden.Dieser Gedanke lautete: Ich hab´s geschafft!

Es war so unglaublich, dass er an diesen Gedanken noch keine Zeit verschwendet hatte. Er hatte es geschafft! Er hatte den Tod besiegt! Es war alles nicht umsonst gewesen! Er war der größte Alchimist dieser Zeit! Der größte Alchimist aller Zeiten! Er hatte es geschafft. Er sprang wie ein Wahnsinniger in seinem Labor herum, vollführte Luftsprünge und sang Lieder die er gar nicht kannte, die ihm aber plötzlich einfielen und auf seinen Kopf rieselten wie Schneeflocken. Immolius sah sich dieses Affentheater an. Er wurde wütend. Er war verwirrt. Er war traurig. Er hatte Angst. Doch zuallererst war er wütend.

Er wusste nur eins: an alldem hier war dieser kreischende Affe dort drüben schuld. Jener kreischende Affe, der ganz offensichtlich gerade, vor seinen Augen, den Verstand verloren hatte. Jener kreischende Affe, der dort gerade auf dem Fenstersims tanzte und irre vor sich hin meckerte. Sein Entschluss war eher eine Emotion als eine von der Ratio diktierte Handlung. Immolius sprang auf den Tisch und er war selbst überrascht, dass ihm das gelang. Der Tisch war gut und gerne vier Meter von ihm entfernt gewesen. Egal. Kaum war er klappernd auf dem Tisch gelandet, stieß er sich schon wieder ab und umklammerte den Alchimisten im Sprung. Dieser stand gerade besonders instabil auf einem Bein und das schiere Momentum riss ihn von diesem. Beide brachen sie durch die Fensterscheibe und stürzten gute vierzig Meter hinab. Immolius klapperte und knackte beim Aufprall und er spürte wie fast jeder Knochen in seinem Leib brach als er aufschlug. Doch die Essenz tat das, wozu sie bestimmt war. Unter blauem Leuchten richteten sich seine Knochen wieder von selbst in die ursprüngliche Stellung und das mit ihnen verschmolzene Kupfer diktierte die Richtung. Das war der Moment in dem Immolius feststellen musste, dass er sich auf diese Weise nicht von seinem Leiden würde erlösen können. Er war unsterblich. Myrus nicht. Der Bezwinger des Todes schlug auf dem Pflaster vor seinem Turm auf und brach sich Schädel, Genick und Rippen und er hatte keine Essenz, die ihm das schnell würde richten können. Myrus starb mit einem irren Grinsen auf den Lippen, schneeweißem Haar und abgemagert bis auf die Knochen. Er würde nie wieder aufstehen. Anders verhielt es sich mit Immolius. Dieser blieb nur etwa zehn Minuten liegen und wartete auf den Tod. Als er sich eingestand, dass dies sinnlos war, stieß er einen verzweifelten Schrei aus, den jeder andere nur als gespenstisches Fauchen wahrnahm und selbst das wurde bald von Wind verschluckt.

Immolius richtete sich auf und hörte den Regen auf seinen Schädel prasseln. Er ging zurück in den Turm des Alchimisten und musste dafür ein Fenster einschlagen, durch das er im Stande war zu schlüpfen. Drinnen angekommen suchte er Kleidung. Er hatte einen Entschluss gefasst, aber um diesen zu verwirklichen musste er sich verkleiden. Im Schlafzimmer des Alchimisten fand er einen alten Kleiderschrank und als er ihn aufriss nahm er sich eine okkulte Kutte mit schwarzer Kapuze und weiten Ärmeln heraus und dazu schwarze Lederstiefel.

Alles saß irgendwie falsch.

Er klemmte sich zwei Kissen des Alchimisten in den Hohlraum um seine Beckenknochen und zurrte sie mit einem Gürtel darum fest. Er stapfte hoch und fand nach einigem Suchen die Vorratskammer. Dort stand ein Fass mit Löschsand, den der Alchimist wohl für alle Fälle hier lagerte oder besser gelagert hatte. Es konnte durchaus passieren, dass die ein oder andere Chemikalie Feuer fing. Immolius kippte zwei mittelgroße Apfelsäcke mit Sand voll und zwei kleine Lederbündel mit Trockenfleisch ebenfalls. Wieder im Schlafzimmer des Alchimisten angekommen band er sich die beiden kleinen Sandbeutel an die Waden, die mittleren legte er in die Hohlräume zu den Kissen. Nun war sein Gang nicht mehr so federnd. Ein Schwergewicht würde er in diesem Leben - war das überhaupt ein Leben? - wohl nicht mehr werden, doch jetzt würde es etwas mehr als das Fliegengewicht eines ausgemergelten Alchimisten brauchen, um ihn von seinen Füßen zu fegen.

Er klappte den Schrank zu und sah sich zu seinem Entsetzen selbst im Spiegel, der an der Außenseite der Tür befestigt war. Er sah ein Gerippe, in dessen Brustkorb ein halb flüssiges und halb gasförmiges, blaues Licht leicht pulsierte. Langsam trat auch blauer Nebel aus seinen schwarzen Augenhöhlen und er ekelte sich vor seinem eigenen Totenlächeln. Adern gleich zogen sich die Kupferdrähte um seine Knochen. Es war abstoßend. Wieder stieß er ein wütendes Fauchen aus und drosch mit der Faust auf den Spiegel ein, der ihn so beleidigt hatte mit dem was er ihm zeigte. Zwei seiner Mittelhandknochen brachen als er wieder und wieder auf den Spiegel einschlug, doch die Essenz - die gottverdammte Essenz - löste dieses Problem vorbildlich. Als der Spiegel zerstört war fasste Immolius einen Entschluss, der eigentlich von vornerein schon klargewesen war. Nur jetzt hatte er den Grund für seine Entscheidung gesehen. Er würde nicht zu seiner Familie gehen, er würde niemanden aufsuchen den er kannte. Er würde diesem, seinem stärksten Bedürfnis nicht nachgeben. Sämtliche Leute, die ihn so sahen, würden wahrscheinlich ihren Verstand verlieren. Er würde weggehen. Weit weg. Vorher brauchte er nur noch eine Sache.

Seine Gruft war ein Prachtbau aus weißem Marmor, vor welchem zwei martialisch aussehende Krieger, mit auf dem Boden ruhenden Großschwertern, Wache hielten. Er stand in der Kutte des Alchimisten vor seiner offiziell letzten Ruhestätte und versuchte den Mut aufzubringen hineinzugehen. Der Anblick des so gnädig anmutenden Schicksals, aus welchem er gerissen worden war, war nur sehr schwer für ihn zu ertragen. Niemand hatte ihn auf seinem Weg hierher gesehen und trotzdem fühlte er sich beobachtet. Als er wie ein Dieb durch die Straßen der namenlosen Stadt geschlichen war, war ihm zum ersten Mal bewusst aufgefallen wie leise er sich bewegte. Myrus musste seine Knochen mit irgendetwas eingefettet haben um jedes Geräusch zu unterdrücken. Über was man so alles nachdachte, wenn man sich vor etwas drückte! Erstaunlich! Immolius nahm all seinen Mut zusammen und schritt auf seine Gruft zu. Das Portal war über fünf Stufen zu erreichen die etwas in die Erde führten und Immolius kam jede Einzelne vor wie ein Berg von welchem er heruntersprang. Unten war es dunkel und Immolius entzündete eine der Kerzen, die er noch vorsichtshalber in die Kutte gesteckt hatte. Er war unten in der Gruft angekommen. Graue Granitfliesen kleideten den Fußboden aus und die Absätze von Immolius ´ Stiefeln hallten lange durch die Gruft. Er öffnete ein eisernes Tor und stand vor seinem leeren Sarg. Der Anblick war furchteinflößend und peinigend, aber Immolius war nicht deswegen gekommen. Er war wegen dem gekommen, was dort ganz schwach im Schein seiner Kerze reflektierte. Seine Rüstung stand auf einem Ständer genauso wie er sie zu Lebzeiten getragen hatten und am Gürtel hing immer noch sein Rapier, mit dem er schon zu Lebzeiten so manches Leben beendet und manche Gefahr überstanden hatte. Sie waren die einzigen Freunde, die ihm bei seiner größten Aufgabe zur Seite stehen würden. Sie waren etwas rostig und das Rapier nicht mehr scharf, doch damit hatte Immolius gerechnet. Er holte Fett, Öl, Lappen und Wetzstein aus seiner Tasche und pflegte die Plattenteile der Rüstung sorgfältig.

Er schrubbte so lange bis er sich in den Beinschienen spiegeln konnte und er klopfte den wollenden Gambeson darunter gut aus und fettete das Leder der Handschuhe wieder ein, bis es so geschmeidig wie zu seinen Lebzeiten war. Dann pflegte und schärfte er das Rapier und mit jedem Schliff mit dem diese Waffe wieder so tödlich wie einst wurde, stieg auch sein Selbstbewusstsein und seine Zuversicht die Aufgabe, die vor ihm lag zu meistern. Dann legte er die Rüstung an. Stück für Stück und zurrte sich ganz allein fest, den einen Knappen würde er jetzt nicht bekommen. Nach einigen Stunden stand er in voller, polierter Rüstung in seiner Gruft vor seinem Sarg, den Rapier an der Seite, den Helm unter dem Arm. Die Kutte des Alchimisten hatte er als Mantel über die Rüstung gezogen und ihre Weite lies dies zu. Mit ihrer schwarzen Farbe und den königsblauen Runen auf ihr verlieh sie seiner Erscheinung etwas Imponierendes. Er setzte seinen Helm auf und war sich nun gewiss, dass niemand seinen Totenschädel sehen könnte, wenn er es nicht wollte. Er zog die Kapuze über den Helm und trat hinaus in die Dämmerung. Ein neuer Tag begann in der namenlosen Stadt, aber Immolius würde ihn nicht hier erleben. Er würde hinaus in die Welt ziehen. Er würde nie anhalten und nie müde werden bis er jemanden fand der ihn wieder von dieser Welt in die Jenseitige bringen konnte. Immolius war um seinen langen Schlaf betrogen worden und er würde ihn sich wiederholen.



Ende
 

WinterAgain

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so...
bitte nicht wundern, dass ich die Geschichte zweimal wieder reingestellt habe, es war nur beim Ersten Mal wieder so eine "schwarze Wüste" im Mittelteil. :rolleyes:Das hat mir nicht gefallen, deshalb der Reupload
Ich möchte mich an dieser Stelle sehr für das Feedback bedanken. Ich hoffe ich habe es nicht NOCH komplexer gemacht, als es vorher war
 



 
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