Karl Feldkamp
Mitglied
Roland Lewald sitzt im seinem alten Sessel, dessen Federn die Sitzfläche längst in eine buckelige Hügellandschaft verwandelt haben. Geerbt hat er das goldbraun bezognene breite Sitzmöbel von seinem Großvater, dessen großformatiges goldgerahmtes Ganz-Körper-Porträt an der Wand daneben hängt und einen stolz aufgerichteten Grenadier der kaiserlichen Garde von Wilhelm Zwo zeigt.
Roland kennt seinen Großvater allerdings eher als zusammengesunkenen alten Mann, der in seinem Sessel saß, den Spazierstock mit dem Silberknauff mit beiden Händen umklammerte und sich erinnerte – das Gesicht versteinert, die Augen zumeist geschlossen hinter seiner ungeputzten Brille. Er erinnerte sich an Zeiten, bevor sein Sohn, der 19-jährige Panzer-Grenadier, als einer der ersten 1939 beim Überfall Hitlers auf Polen fiel. Das kleine graue Foto mit einem Kreuz aus Birkenstämmen und dem Schild mit dem Namen und Todesdatum seines Sohnes daran hing im großelterlichen Wohnzimmer neben dem Ölgemälde des aufrechten kaiserlichen Gardisten.
Wenige Tage bevor der Großvater in seinem Sessel an Herzversagen starb, wünschte er sich, das Foto vom Grab seines Sohnes in seinem Sarg mitzunehmen. Zwar wüsste er nicht, wohin die Reise im Sarg gehe, aber das Foto wolle er dabei haben. Er war linker Gewerkschaftler und aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil die sich zu Beginn der Naziherrschaft nicht eindeutig gegen Hitlers Machenschaften gestellt hatte.
Als Roland gut vierzehn Jahre alt war, stand er neben seiner Großmutter am Grab seines Opas. Der Pfarrer, den die Großmutter überredet hatte, die kirchliche Bestattung vorzunehmen, obwohl ihr Mann kein Kirchenmitglied mehr war, behauptete am offenen Grab, alles, und vor allem der Tod habe einen tieferen Sinn. Doch den kenne nur Gott allein.
Die Balkontür steht offen. Warmer Frühlingswind weht herein. Mühsam richtet Roland sich im Sessel auf, um sofort wieder in die weichen Polster zurück zu fallen.
Irgendwann als kleiner Junge stand er vor diesem Sessel. Sein Opa war darin eingenickt, wurde plötzlich wach und sah ihn erstaunt an. „Du bist mein Sohn. Nein, du bist der Sohn deines Vaters. Mein Junge liegt in Polen.“ Er zeigt mit dem Daumen über die Schulter auf das graue Foto.
Während Rolands Abschiedsfeier vor fast drei Jahren in seinem städtischen Büro glaubte er noch, der ersehnte, unmittelbar nachfolgende Feierabend werde ein lebenslanger sein. Ab sofort, dachte er damals, würden sich weder Konkurrenzkämpfe und Intrigen noch sonstige krampfhafte Anstrengungen lohnen. Zu Genüge hatte er die in den städtischen Bürogebäuden aushalten müssen. Locker wollte er die Pensionzeit beginnen und vor allem fortsetzen. Sterben und das letzte Wegstück dorthin könnten ohnehin noch anstrengend genug werden, obwohl er von einem unerwarteten Herztod ausging. Jedoch fehlten ihm dazu die notwendigen Herzbeschwerden. Seit einigen Wochen schläft er jedoch unruhig und meint gelegentlich, sein Herz würde rasen.
Mit Angst hatte er bisher nicht gerechnet. Und schon gar nicht mit der Angst, an Bedeutung zu verlieren. Hatte er in gut 68 Jahren doch genügend erlebt. Gutes. Weniger Gutes. Aber vieles stellte sich nach einer gewissen Zeit auch als Glück heraus.
Wenn er an Luise und die Scheidung dachte. Luise folgte Vera und der Helene. Mit ihr lebte er über zwanzig Jahre vorwiegend glücklich zusammen, bis sie von einer Straßenbahn erfasst wurde. Sie war sofort tot.
Jetzt - gut zwei Jahre nach Helenes Tod - sieht er wieder wohlgeformten jüngeren Frauen hinterher. Doch an allem, was über heimliche Blicke hinausgeht, scheitert er inzwischen körperlich. Allein reine Fantasie gewährt ihm noch ein wenig Lust.
Frauenheld war Roland nie. Er liebte seine jeweilige Frau, mochte Kolleginnen, Chefinnen, manche Frauen, die einst zu ihm ins Sozialamtsbüro kamen und gelegentlich auch solche, denen er zufällig begegnete. Männer gehörten kaum zu seinen engeren Freunden.
Roland Lewald dachte sich vieles zurecht. Seine Gedanken änderten sein Denken. Die Angst, vor allem die, bedeutungslos zu werden, blieb. Selbstbehauptung ist für ihn nur noch die Behauptung, ein eigenes Selbst zu besitzen.
Dennoch saß er in seinen nächtlichen Träumen häufig als Philosoph auf einem Podest in einem großen Saal voll andächtiger Zuhörer und gab Weisheiten von sich. Dabei war er fest davon überzeugt, eigentlich nichts zu wissen. Gut, er hatte im Leben ein paar Erfahrungen gesammelt, konnte aber nicht einmal behaupten, aus seinen Erfahrungen wirklich Sinnvolles gelernt zu haben.
Jetzt sitzt er einmal mehr ohne Publikum im weichen Wohnzimmersessel, wartete auf Eingebungen und kommt sich lächerlich und müde vor .
„Glaube einfach daran, dass alles einen Sinn hat, selbst wenn du ihn nicht verstehst.“
Diesen Satz hatte er zuletzt von einem Straßenmusiker gehört, den er wenige Wochen nach Helenes Tod in der Fußgängerzone antraf. Dort irrte Roland zu der Zeit häufig suchend umher, ohne zu wissen, was er finden wollte. Der Straßengeiger spielte Vivaldi, ein bisschen Mozart und viel Johann Strauss.
Roland blieb stehen und wartete. Als der Musiker das Geld zählte, das ihm Passanten in den mit rotem Samt gefütterten Geigenkasten warfen, fragte er, ob er denn von der Straßenmusik leben könne. Nein, nein, er gebe auch ein wenig Geigenunterricht. Brauche allerdings Publikum. Nicht diese biederen Grauköpfe, die mit gespielter Andacht in Konzertsälen herumsäßen. In der Fußgängerzone mitten im Leben, da reagieren sie wenigstens echt und spontan, selbst wenn ein Ladenbesitzer ihn verscheuche, weil der glaube, das Gefiedel störe Kunden und Geschäfte. Ofz genüge es ihm schon, Augenblicke einzufangen und sie wieder los zu lassen.
Übrigens Manuel heiße er. Roland nannte seinen Namen nicht und gab zu bedenken, die meisten Passanten würden doch einfach nur, so gut er auch spielte, an ihm vorbeigehen.
Manuel nickte lächelnd. „Ja,ja, Selbsterkenntnis ist unser zumeist vergeblicher Versuch, zu Lebzeiten zu erfahren, wer wir sind, aber je näher du deinem Sinn kommst, desto zufriedener wirst du!“
Er sah dem Geiger in dessen ungewöhnlich große braune Augen. „Und wenn ich dir jeden Tag einen Zehn-Euro-Schein in den Geigenkasten werfe, gibst du mir dann was von deiner Zuversicht?“
Manuel nickte, als hätte er auf die Frage gewartet.
Roland zückte die Geldbörse und warf gleich zwanzig Euro in den rotgefütterten Geigenkasten.
Der Geiger gab ihm zehn Euro in kleinen Münzen zurück. Roland wollte die Münzen nicht. Manuel lachte und ließ sie klimpernd in Rolands Jacketttasche gleiten. „Zuversicht kannst du nicht kaufen, schon gar nicht, wenn du immer mehr dafür zahlst. Ihren Preis hat sie natürlich dennoch.“
In den folgenden Herbstwochen ging Roland Lewald täglich in die Fußgängerzone, warf seinen Zehn-Euro-Schein in Manuels Geigenkasten, redete mit dem jungen Musiker über das fast täglich kühler werdende Wetter und über den Sinn des Lebens. Anstelle mancher belanglosen Antwort spielte Manuel Mozart.
An einem Freitag-Nachmittag konnte er den Geiger nirgendwo in der Fußgängerzone entdecken. Schließlich blieb er neben dem Kaufhaus stehen, an dem Manuel häufig spielte, lehnte sich dort an die Wand, starrte vor sich hin, meinte plötzlich eine Geige zu hören, schloss die Augen, rutsche mit dem Rücken an der Wand hinunter und blieb auf dem Pflaster hocken.
Nach einiger Zeit rüttelte ihn eine ältere Frau an der Schulter. „Ist Ihnen nicht gut?“
Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Psst, ich höre Musik. Geige. Mozart!“
Die Frau runzelte die Stirn. „Mein Mann ist schizophren. Der hört immer die Stimme seines verstorbenen Vaters.“
Roland stand auf, ließ die alte Frau stehen und ging nach Hause.
Am nächsten Tag spielte Manuel wieder vor dem Kaufhaus. Roland warf ihm zwei Zehn-Euro-Scheine in den Geigenkasten. „Für gestern mit. Da habe ich dich zwar nicht gesehen, aber gehört:“
Manuel lachte, spielte einen langsamen Strauß-Walzer, bewegte die Füße im Takt dazu und setzte schließlich die Geige ab. „In den nächsten Wochen habe ich ein paar Auftritte mit einem Orchester in einigen kleineren Städten!“ Er zählte sein Geld, legte die Geige in den Kasten und streckte Roland die Hand hin. „Danke für die Unterstützung.“
Roland griff nach der schmalen Hand und hielt sie lange fest.
Manuel sah er nicht wieder, stand aber oft an einer der Stellen, an denen er gespielt hatte. Anfangs hörte er noch die Geigenklänge. Von Tag zu Tag wurden sie leiser.
Als er gestern aus der Fußgängerzone zurückkehrte, hatte er sie nicht mehr gehört. Er hatte sich an die Wand des Kaufhauses gelehnt, war herunter gerutscht, hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gehockt und gelauscht. Vergeblich.
Zunächst murmelte er nur leise vor sich hin. Schließlich wurde er lauter, stand auf und wiederholte immer wieder: „Meine Damen und Herren, glauben Sie einfach daran, dass alles einen Sinn hat, selbst wenn Sie ihn nicht verstehen.“
Einige Leute blieben stehen. Sie grinsten. Die meisten gingen Kopf schüttelnd weiter.
Ein Grauhaariger – er ging am Stock – kam langsam auf ihn zu und tätschelte ihm die Schulter. „Sie haben vollkommen Recht. Aber warum müssen Sie das ausgerechnet hier ständig wiederholen, dass alles einen Sinn hat?“
„Weil es mir sonst sinnlos erscheinen könnte, dass ich den Geiger immer noch hören möchte?“
Der Alte zeigte mit seinem Stock in die Richtung, in die er zu gehen beabsichtigte und lächelte. „Nun ja, Zuversicht hat ihren Preis. Bis zum Schluss, wenn alles endgültig ist.“
Roland kennt seinen Großvater allerdings eher als zusammengesunkenen alten Mann, der in seinem Sessel saß, den Spazierstock mit dem Silberknauff mit beiden Händen umklammerte und sich erinnerte – das Gesicht versteinert, die Augen zumeist geschlossen hinter seiner ungeputzten Brille. Er erinnerte sich an Zeiten, bevor sein Sohn, der 19-jährige Panzer-Grenadier, als einer der ersten 1939 beim Überfall Hitlers auf Polen fiel. Das kleine graue Foto mit einem Kreuz aus Birkenstämmen und dem Schild mit dem Namen und Todesdatum seines Sohnes daran hing im großelterlichen Wohnzimmer neben dem Ölgemälde des aufrechten kaiserlichen Gardisten.
Wenige Tage bevor der Großvater in seinem Sessel an Herzversagen starb, wünschte er sich, das Foto vom Grab seines Sohnes in seinem Sarg mitzunehmen. Zwar wüsste er nicht, wohin die Reise im Sarg gehe, aber das Foto wolle er dabei haben. Er war linker Gewerkschaftler und aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil die sich zu Beginn der Naziherrschaft nicht eindeutig gegen Hitlers Machenschaften gestellt hatte.
Als Roland gut vierzehn Jahre alt war, stand er neben seiner Großmutter am Grab seines Opas. Der Pfarrer, den die Großmutter überredet hatte, die kirchliche Bestattung vorzunehmen, obwohl ihr Mann kein Kirchenmitglied mehr war, behauptete am offenen Grab, alles, und vor allem der Tod habe einen tieferen Sinn. Doch den kenne nur Gott allein.
Die Balkontür steht offen. Warmer Frühlingswind weht herein. Mühsam richtet Roland sich im Sessel auf, um sofort wieder in die weichen Polster zurück zu fallen.
Irgendwann als kleiner Junge stand er vor diesem Sessel. Sein Opa war darin eingenickt, wurde plötzlich wach und sah ihn erstaunt an. „Du bist mein Sohn. Nein, du bist der Sohn deines Vaters. Mein Junge liegt in Polen.“ Er zeigt mit dem Daumen über die Schulter auf das graue Foto.
Während Rolands Abschiedsfeier vor fast drei Jahren in seinem städtischen Büro glaubte er noch, der ersehnte, unmittelbar nachfolgende Feierabend werde ein lebenslanger sein. Ab sofort, dachte er damals, würden sich weder Konkurrenzkämpfe und Intrigen noch sonstige krampfhafte Anstrengungen lohnen. Zu Genüge hatte er die in den städtischen Bürogebäuden aushalten müssen. Locker wollte er die Pensionzeit beginnen und vor allem fortsetzen. Sterben und das letzte Wegstück dorthin könnten ohnehin noch anstrengend genug werden, obwohl er von einem unerwarteten Herztod ausging. Jedoch fehlten ihm dazu die notwendigen Herzbeschwerden. Seit einigen Wochen schläft er jedoch unruhig und meint gelegentlich, sein Herz würde rasen.
Mit Angst hatte er bisher nicht gerechnet. Und schon gar nicht mit der Angst, an Bedeutung zu verlieren. Hatte er in gut 68 Jahren doch genügend erlebt. Gutes. Weniger Gutes. Aber vieles stellte sich nach einer gewissen Zeit auch als Glück heraus.
Wenn er an Luise und die Scheidung dachte. Luise folgte Vera und der Helene. Mit ihr lebte er über zwanzig Jahre vorwiegend glücklich zusammen, bis sie von einer Straßenbahn erfasst wurde. Sie war sofort tot.
Jetzt - gut zwei Jahre nach Helenes Tod - sieht er wieder wohlgeformten jüngeren Frauen hinterher. Doch an allem, was über heimliche Blicke hinausgeht, scheitert er inzwischen körperlich. Allein reine Fantasie gewährt ihm noch ein wenig Lust.
Frauenheld war Roland nie. Er liebte seine jeweilige Frau, mochte Kolleginnen, Chefinnen, manche Frauen, die einst zu ihm ins Sozialamtsbüro kamen und gelegentlich auch solche, denen er zufällig begegnete. Männer gehörten kaum zu seinen engeren Freunden.
Roland Lewald dachte sich vieles zurecht. Seine Gedanken änderten sein Denken. Die Angst, vor allem die, bedeutungslos zu werden, blieb. Selbstbehauptung ist für ihn nur noch die Behauptung, ein eigenes Selbst zu besitzen.
Dennoch saß er in seinen nächtlichen Träumen häufig als Philosoph auf einem Podest in einem großen Saal voll andächtiger Zuhörer und gab Weisheiten von sich. Dabei war er fest davon überzeugt, eigentlich nichts zu wissen. Gut, er hatte im Leben ein paar Erfahrungen gesammelt, konnte aber nicht einmal behaupten, aus seinen Erfahrungen wirklich Sinnvolles gelernt zu haben.
Jetzt sitzt er einmal mehr ohne Publikum im weichen Wohnzimmersessel, wartete auf Eingebungen und kommt sich lächerlich und müde vor .
„Glaube einfach daran, dass alles einen Sinn hat, selbst wenn du ihn nicht verstehst.“
Diesen Satz hatte er zuletzt von einem Straßenmusiker gehört, den er wenige Wochen nach Helenes Tod in der Fußgängerzone antraf. Dort irrte Roland zu der Zeit häufig suchend umher, ohne zu wissen, was er finden wollte. Der Straßengeiger spielte Vivaldi, ein bisschen Mozart und viel Johann Strauss.
Roland blieb stehen und wartete. Als der Musiker das Geld zählte, das ihm Passanten in den mit rotem Samt gefütterten Geigenkasten warfen, fragte er, ob er denn von der Straßenmusik leben könne. Nein, nein, er gebe auch ein wenig Geigenunterricht. Brauche allerdings Publikum. Nicht diese biederen Grauköpfe, die mit gespielter Andacht in Konzertsälen herumsäßen. In der Fußgängerzone mitten im Leben, da reagieren sie wenigstens echt und spontan, selbst wenn ein Ladenbesitzer ihn verscheuche, weil der glaube, das Gefiedel störe Kunden und Geschäfte. Ofz genüge es ihm schon, Augenblicke einzufangen und sie wieder los zu lassen.
Übrigens Manuel heiße er. Roland nannte seinen Namen nicht und gab zu bedenken, die meisten Passanten würden doch einfach nur, so gut er auch spielte, an ihm vorbeigehen.
Manuel nickte lächelnd. „Ja,ja, Selbsterkenntnis ist unser zumeist vergeblicher Versuch, zu Lebzeiten zu erfahren, wer wir sind, aber je näher du deinem Sinn kommst, desto zufriedener wirst du!“
Er sah dem Geiger in dessen ungewöhnlich große braune Augen. „Und wenn ich dir jeden Tag einen Zehn-Euro-Schein in den Geigenkasten werfe, gibst du mir dann was von deiner Zuversicht?“
Manuel nickte, als hätte er auf die Frage gewartet.
Roland zückte die Geldbörse und warf gleich zwanzig Euro in den rotgefütterten Geigenkasten.
Der Geiger gab ihm zehn Euro in kleinen Münzen zurück. Roland wollte die Münzen nicht. Manuel lachte und ließ sie klimpernd in Rolands Jacketttasche gleiten. „Zuversicht kannst du nicht kaufen, schon gar nicht, wenn du immer mehr dafür zahlst. Ihren Preis hat sie natürlich dennoch.“
In den folgenden Herbstwochen ging Roland Lewald täglich in die Fußgängerzone, warf seinen Zehn-Euro-Schein in Manuels Geigenkasten, redete mit dem jungen Musiker über das fast täglich kühler werdende Wetter und über den Sinn des Lebens. Anstelle mancher belanglosen Antwort spielte Manuel Mozart.
An einem Freitag-Nachmittag konnte er den Geiger nirgendwo in der Fußgängerzone entdecken. Schließlich blieb er neben dem Kaufhaus stehen, an dem Manuel häufig spielte, lehnte sich dort an die Wand, starrte vor sich hin, meinte plötzlich eine Geige zu hören, schloss die Augen, rutsche mit dem Rücken an der Wand hinunter und blieb auf dem Pflaster hocken.
Nach einiger Zeit rüttelte ihn eine ältere Frau an der Schulter. „Ist Ihnen nicht gut?“
Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Psst, ich höre Musik. Geige. Mozart!“
Die Frau runzelte die Stirn. „Mein Mann ist schizophren. Der hört immer die Stimme seines verstorbenen Vaters.“
Roland stand auf, ließ die alte Frau stehen und ging nach Hause.
Am nächsten Tag spielte Manuel wieder vor dem Kaufhaus. Roland warf ihm zwei Zehn-Euro-Scheine in den Geigenkasten. „Für gestern mit. Da habe ich dich zwar nicht gesehen, aber gehört:“
Manuel lachte, spielte einen langsamen Strauß-Walzer, bewegte die Füße im Takt dazu und setzte schließlich die Geige ab. „In den nächsten Wochen habe ich ein paar Auftritte mit einem Orchester in einigen kleineren Städten!“ Er zählte sein Geld, legte die Geige in den Kasten und streckte Roland die Hand hin. „Danke für die Unterstützung.“
Roland griff nach der schmalen Hand und hielt sie lange fest.
Manuel sah er nicht wieder, stand aber oft an einer der Stellen, an denen er gespielt hatte. Anfangs hörte er noch die Geigenklänge. Von Tag zu Tag wurden sie leiser.
Als er gestern aus der Fußgängerzone zurückkehrte, hatte er sie nicht mehr gehört. Er hatte sich an die Wand des Kaufhauses gelehnt, war herunter gerutscht, hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gehockt und gelauscht. Vergeblich.
Zunächst murmelte er nur leise vor sich hin. Schließlich wurde er lauter, stand auf und wiederholte immer wieder: „Meine Damen und Herren, glauben Sie einfach daran, dass alles einen Sinn hat, selbst wenn Sie ihn nicht verstehen.“
Einige Leute blieben stehen. Sie grinsten. Die meisten gingen Kopf schüttelnd weiter.
Ein Grauhaariger – er ging am Stock – kam langsam auf ihn zu und tätschelte ihm die Schulter. „Sie haben vollkommen Recht. Aber warum müssen Sie das ausgerechnet hier ständig wiederholen, dass alles einen Sinn hat?“
„Weil es mir sonst sinnlos erscheinen könnte, dass ich den Geiger immer noch hören möchte?“
Der Alte zeigte mit seinem Stock in die Richtung, in die er zu gehen beabsichtigte und lächelte. „Nun ja, Zuversicht hat ihren Preis. Bis zum Schluss, wenn alles endgültig ist.“