Zwei Bäume

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Zwei Bäume



Ich komme nach Hause, zurück von einer Kurzreise nach Weimar. Es ist Dienstagnachmittag. Ich hieve mich wie Münchhausen vom Beifahrersitz, stake nach drei Stunden im Auto steif mit dem grässlichen ungeliebten Stock über das Feldsteinpflaster des Hofs, bleibe verzückt unterm Ginkgo stehen. Jetzt wird er mit jedem Tag gelber, leuchtender. Beim ersten starken Frost werden sämtliche Blätter fallen, so dass es am Morgen wirkt, als läge ein Goldhaufen unter dem lichten Geäst. Ich halte ein paar Momente inne, genieße „meinen“ Baum. Hinter den kurz geschlossenen Augen erscheint das Bild eines anderen Baumes. Den ich 1984 kennenlernte. Die Robinie vor meiner ersten eigenen Wohnung. Schwer zu schätzen, wie viele Kilo grober grauer Fabrikstaub vom Betrieb gegenüber im Laufe der Zeit auf ihm gelandet waren. Auf seinen Zweigen, auf seinen Ästen, in den Falten seiner Rinde. Dass die Bäume in der Straße diesem Dreck ein Leben lang widerstehen konnten, habe ich nicht verstanden. Dieser Staub war derart lebensfeindlich, dass er mir Angst machte. Dazu die Geschichte der Fabrik, in deren Nachmittagsschatten ich ein paar Jahre wohnte. Die Gegründet 1871 als Zuckerraffinerie, wurde dann zunehmend zum Hersteller chemischer Grundstoffe, die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. („Degesch“), ein Zweigbetrieb, belieferte ab 1942 neben vielen zivilen Abnehmern und die Wehrmacht auch die SS mit Zyklon B. Angeblich zur Schädlingsvernichtung. Nur, dass die SS viele Millionen Menschen damit wie „Schädlinge“ ermordete. Manchmal dachte ich, besonders wenn es geregnet hatte und der grässliche Staub seinen furchtbaren Geruch entfaltete, dass in diesem Geruch noch die Erinnerung an die Verbrechen von damals schwebte.

Inzwischen habe ich den Hof verlassen und das Haus betreten. Doch die Gedanken an den grauen verstaubten Baum lassen mich nicht los. Ich krame nach guten Erinnerungen an den Baum. Er war oft eine Art Stimmungsaufheller für mich. Wenn im Frühjahr der letzte Schnee von seinen Ästen geschmolzen war und die Blätterknospen austrieben, nahm ich die geschundene Natur des Baums als Wunder wahr. Einmal kam ich nach Hause und hörte über mir in der Baumkrone ein jämmerliches Gemaunze. Ich glaube, das war die Aufnahme meiner ersten Katze, sie hieß dann Schnurri. Sie war sehr anhänglich und verschmust. An einem Sommernachmittag hatte ich beim Lesen oder Schreiben den Kopf müde auf meinen Schreibtisch vorm Fenster gelegt und schlief fest ein, bis ich von leisen Stimmen und freundlichem Kichern geweckt wurde. Eine Mama mit Kind auf dem Fahrrad war am Fenster stehen geblieben, und beide amüsierten sich köstlich über den Schlafenden mit der Katze im Nacken. Im Laufe meiner Jahre dort nahm ich insgesamt drei herrenlose Katzen von der Straße auf. In der Zeit waren Tiere in der finsteren und rohen Welt einer solchen Fabrik in ständiger Lebensgefahr. Säure- und Laugenbäder haben einige Katzen, Igel und Ratten verschlungen.

Nach meinem Auszug betrieb jemand in dem Haus zeitweilig eine Art Bordell. „Sozial-erotisches Zentrum“ (oder so ähnlich) stand auf dem Firmenschild.

Meine tapfere, meine heldenhafte Robinie wurde irgendwann in den letzten dreißig Jahren gefällt.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Clown,

eine schöne Geschichte mit viel Hintergrund.
Einzig im letzten Satz scheint mir das
irgendwann in den letzten dreißig Jahren
den Höhepunkt zu schmälern, so als könne sie so wichtig nicht gewesen sein, wenn Du nicht weißt, wann sie gefällt wurde innerhalb von dreißig Jahren ... ich würde nur schreiben, dass sie von irgendwem gefällt worden war - oder bin ich da zu empfindlich?

Liebe Grüße
Petra
 
Zitat "... ich würde nur schreiben, dass sie von irgendwem gefällt worden war - oder bin ich da zu empfindlich?"


Guten Morgen Petra.

Freut mich, dass du dich den Zwei Bäumen kurz gewidmet hast. Bäume werden mir mit zunehmendem Alter bedeutender - - - - - - wenn ich heute über persönliche Wünsche nachdenke, kommt mir schnell in den Sinn, dass ich mir mehr Bäume um mich herum wünsche. Am Rande des Gartens, in sichtbarer Nähe des bewohnten Grundstücks - es könnten wirklich mehr sein. Aber ich müsste zweihundert Jahre alt werden, um solch ein Ideal noch erleben zu können. Also pflege ich umso intensiver den Wald meiner Erinnerungen.

Dass ich den Text so spröde hab enden lassen, kam ganz automatisch. Ansonsten wäre ich wohl noch in die Episode gedriftet, wann, warum und wie ich von dem Haus neben der Fabrik wegzog. Eines Nachmittags kam ich von Arbeit nachhause und bekam fast eine Herzattacke. Da machte jemand mit einer großen, schweren Raupe den Hausgarten platt. Ohne jede Ankündigung. Er wollte mir auch nicht verraten, wer der Auftraggeber war. Deshalb radelte ich ganz schnell zum Wohnungsunternehmen, bei dem ich Mieter war, und wollte wissen, ob das Haus noch stünde, wenn ich das nächste mal von Arbeit käme ...
Man fand für mich eine nette kleine Wohnung am Randeeines Vorortes. Zu einer Seite ein großer Landschaftspark, zur anderen Seite ein alter, weitläufiger Truppenübungsplatz. So viele Bäume!

Da ich seit Langem fast nur noch aus realen Erlebnissen schreibend berichte, fiele es mir schwer, den Satz anders zu formulieren, als er nun dort steht. Obwohl ich in den besagten dreißig Jahren ungezählte Male an der Straße vorbeifuhr, habe ich nicht mitbekommen, wann die Robinien verschwanden. Das hat für mich eine ähnliche Bedeutung, wie das Sterben und Betrauern eines guten Bekannten "verpasst" zu haben. Irgendwann verschwand ein Baum, der in einer Phase meines Lebens für mich sehr wichtig war. Das ist der Gedanke, der hinaus wollte. Und im Nachganggeht es um die verpasste Trauerarbeit - ich hätte bestimmt aus einem Stammstück eine holzbildhauerische Arbeit gemacht, um dem Baum meine letzte Ehre zu erweisen.

So, Ich hoffe, ich langweile dich nicht
 

petrasmiles

Mitglied
Aber ganz und gar nicht!

Man spürt in der Geschichte die Ernsthaftigkeit und ich verstehe besser, warum es so kam. Ich will Dich jetzt nicht damit nerven, dass eine Geschichte 'besser' sein darf als die Realität, die ihr zugrunde liegt.
Allerdings könnte man auch den Schmerz noch ergänzen -
Meine tapfere, meine heldenhafte Robinie wurde irgendwann in den letzten dreißig Jahren gefällt. - 'von mir unbemerkt, ich hätte ihr gerne die letzte Ehre erwiesen', oder 'von mir unbemerkt, um so schwerer wiegt der Verlust'
Liebe Grüße
Petra
 



 
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