Zwei Cousinen, Millionäre

Languedoc

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Paris, in einem kleinen Couture-Salon unweit der Avenue Montaigne, an einem späten Freitagabend: Der letzte Mitarbeiter hat das Atelier verlassen und sich ins Wochenende verabschiedet; die Inhaberin und Direktrice des Unternehmens, Madame Anna Krumberger, eine gebürtige Österreicherin, ist allein in ihrem Reich und blickt zurück auf eine strenge Arbeitswoche. Um abzuschalten, wie es so schön heißt, räumt sie Dies und Das im Studio, stellt die Schneiderpuppen um, zupft Stofffalten in Form und verliert sich in jenen ritualisierten Handgriffen des Ordnens, die die Überspannung aus Geist und Körper abzuleiten vermögen und der vielbeschäftigten Unternehmenschefin das gute Gefühl verschaffen, bis Sonntag Abend eine gemächlichere Gangart genießen zu dürfen.
Bevor Madame Krumberger ihren Computer herunterfährt, prüft sie aus einem Impuls heraus den Posteingang jenes E-Mail-Kontos, das sie eigens für ihre österreichischen Familienmitglieder eingerichtet hat, auf dem aber nur zu den Heiligen Zeiten ein Briefwechsel stattfindet – zu beschäftigt ist jeder mit seinen Angelegenheiten: Anna in Paris, wohin sie in jungen Jahren emigriert ist; und ihre Eltern und Geschwister in und im größeren Umkreis von Kolchendorf, einer bäuerlich strukturierten Gemeinde im Tiroler Unterland.
Heute jedoch, tatsächlich, un nouveau message!
Barbara, die sich gerne Poppsi nennt und die flotteste ist von Annas Schwestern, hat geschrieben und das im selben saloppen Ton, den sie sich in der weit zurückliegenden pubertären Phase angeeignet hatte und der seither keine wesentliche Fortentwicklung erfuhr: „Schär Sör, wie geht’s wie steht’s in good old France?“ Poppsi arbeitet in einer Werbeagentur und ist bemüht, pausenlos kreativ zu sein bezüglich all der Finten und Finessen, die der Vermarktung von hippen Milchshakeprodukten durch einen internationalen Konzern dienlich sind.
Heute kommt sie ungewöhnlich rasch und nüchtern auf den Punkt: „Unsere Cousine Marianne hat mir eine Mail geschickt. Sie organisiert ein CousInen-Treffen und hat mich gebeten, die Einladung an dich weiterzuleiten, weil sie deine E-Mail-Adresse nicht hat. Siehe Datei anbei. Kommst du zu dieser Genpool-Party? Ich hab noch keinen blassen Schimmer, ob ich mir das depperte Dorfgegacker antu’“, beendet Poppsi unbestimmt und flapsig ihren kurzen Brief, und grüßt „mit vielen Druxern, Poppsi your sisterherz“.
Die Datei im Anhang enthält eine DIN-A4 Seite mit der fetten Überschrift: „Wir sind 44 Cousins und Cousinen!“, und darunter steht ein quälend langer Satz, der grafisch unbeholfen übers weiße Blatt mäandert: „Wir haben viele gemeinsame Kindheitserinnerungen, wir haben uns teilweise aus den Augen verloren, einige von uns kennen sich gar nicht wirklich, und weil es uns in den Genen liegt, dass wir gerne feiern, haben wir beschlossen, dass es an der Zeit ist, uns wieder einmal zu treffen.“
Wieder einmal zu treffen? Hat es denn schon mal eine solche Cousinen-Zusammenkunft gegeben? Wie dem auch sei, Madame Krumberger hat hinsichtlich dieser Sache nie etwas erfahren. Die nun geplante Begegnung jedenfalls soll bereits bald über die Bühne gehen, und zwar, wie in einer Fußnote auf dem Einladungsschreiben vermerkt ist, im Vier-Sterne Hotel „Zur Goldenen Krone“ in Kolchendorf, dem Herkunftsort von Anna Krumberger, ihrer Eltern und eben jener Großmutter mütterlicherseits, die als Ahnfrau die Linie der vierundvierzig Cousins und Cousinen begründet hat.
„Beeindruckend, diese Riesenverwandtschaft“, murmelt Madame und rückt ihren Schreibtischstuhl zurecht. „Aber wen davon kenne ich eigentlich? Von den meisten weiß ich nicht mal die Namen. Eine Schande ist das. Wenigstens kenne ich Marianne aus der Volksschulzeit. Wie es ihr wohl ergangen ist seit diesen längst verflossenen Tagen? Was ist aus ihr geworden? Dann will ich gleich nachschauen, ob ich etwas finde über unsere schneidige Party-Initiatorin.“
Sie ruft GOOGLE auf, gibt den Namen ein zusammen mit der Ortsangabe „Kolchendorf“, und siehe da, 7.360 Treffer. Ein rascher Klick auf die Bilderleiste: Ja, die Frau auf diesen Fotos ist zweifelsfrei Cousine Marianne. Rundes Gesicht, blondes Haar, enzianblaue Augen, und ein enorm fülliger Körper. Sie war schon als Mädchen unglaublich dick.
Gespannt blättert Anna Krumberger die GOOGLE-Ergebnisse durch und verschafft sich einen Überblick. Ihre Cousine wohnt direkt in Kolchendorf, ein pittoresker Ort, der sich von der ursprünglichen Bauerngemeinde in ein enorm prosperierendes Tourismuszentrum gewandelt hat. Sie ist Unternehmens- und Lebensberaterin, hält reihenweise Vorträge und Kurse und bietet aktuell ein Wochenendseminar an mit dem Titel: „Entdecken Sie Ihre ungelebten Fähigkeiten!“ – zum Preis von 450,00 Euro zuzüglich gesetzlicher Mehrwertsteuer, jedoch exklusive Kost und Logis.
Als Kursinhalt werden schwergewichtige Hauptwörter aufgefahren: Ressourcen- und Potentialorientierung, systemische Veränderungsprozesse, Work-Life-Balance und Burn-out Prophylaxe, Visionen, Ziele und Strategien zur Erreichung derselben – Anna Krumberger, die es in Paris mit soliden Kaufmannstugenden, mit Arbeitsfleiß und Geschick und einer guten Portion Glück zu einem respektablen Ansehen als Couturière gebracht hat und zu einigem finanziellen Erfolg, sie also, diese zähe und integre Frau, staunt nicht schlecht, was sich so tut bei den Kindheits-Kameraden in der alten Heimat.
Da bemerkt sie auf einen der Internetdokumente eine Notiz, wonach Marianne früher die Geschäftsführerin und Mitgesellschafterin einer Firma namens QRK Abfall und Recycling GmbH gewesen sei. Dazu liefert GOOGLE eine Menge an Zeitungsartikel, denn dieses Unternehmen war vor nicht allzu ferner Zeit in einen handfesten Skandal verwickelt, über den in den Medien ausgiebig berichtet wurde. Von international organisierter Müllmafia ist die Rede, von verschwundenen EU-Subventionen und angeblich illegalen Geschäften, gefolgt von einem überraschenden Konkursantrag der Firma QRK GmbH. Die Liquidierung sei trotz jahrelanger Finanzprüfungen und Gerichtsverfahren durch die Instanzen immer noch nicht vollständig abgeschlossen.
Donnerwetter, denkt Madame Krumberger, und mittendrin in der Affäre fuhrwerkt meine Cousine Marianne als Geschäftsführerin und Mitgesellschafterin? Diese Tochter einer kinderreichen, alteingesessenen Großbauernfamilie aus Kolchendorf spielt mit im spekulativen, globalisierten Geschäft mit dem Müll? Da hat sie sich wahrhaftig ein schlüpfriges Terrain ausgesucht. Und wie sie wohl diese langwierige Konkursabwicklung verkraftet bei diesen peniblen Gerichtsverhandlungen wegen mutmaßlicher Geschäftsunregelmäßigkeiten?
Zumindest scheint sie eine probate Möglichkeit der Ablenkung aus den beruflichen Turbulenzen gefunden zu haben, indem sie Regie führt bei den Theateraufführungen der Heimatbühne Kolchendorf, eine regionale Institution, die kürzlich ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert hat. Zu diesem Jubiläum gab man die Komödie Alois, wo warst du heute Nacht?, welche, so meldet das Bezirksblatt, begeisterten Publikumsanklang ausgelöst habe. GOOGLE sei Dank sind im Internet die Meldungen über das kulturelle Geschehen in der Provinz nachzulesen.
Anna Krumberger indessen hat genug gestöbert und lehnt sich zurück. Eine echte Hanna Dampf in allen Gassen, diese Marianne, eine Singlefrau von nunmehr etwa fünfundvierzig Jahren; und Anna fragt sich, ob die anderen Cousins und Cousinen auch so abenteuerliche Geschichten erzählen können? Was erzählt man sich überhaupt bei einer derartig breit angelegten Familienzusammenkunft? Was werde ich konkret über mich erzählen? Vielleicht bin ich die einzige unter den Verwandten, die die traditionsgetränkte väterliche Scholle hinter sich gelassen hat, und werde des Heimatverrates bezichtigt, weil ich abgesprungen bin ins ehemalige Feindesland Frankreich? Oder, im Gegenteil, bin ich als Exotin besonders herzlich willkommen? So grübelt Madame noch ein Weilchen und treibt ziellos in ihren gemischten Gefühlen, bis sie sich schließlich dahingehend entscheidet, die E-Mail später zu beantworten. Fürs Erste legt sie sich auf die Chaiselongue im Atelier, um ein bisschen auszurasten. Sie döst ein.
Und träumt:

Sie ist in der Gaststube vom Kirchenwirt in Kolchendorf. Eine stickige Luftglocke hängt im niedrigen Raum und ein dumpfer, schweißiger Geruch. An den Tischen sitzen alte Männer, trinken Bier und spielen Karten. Eine dralle Kellnerin wieselt hin und her und lacht immer wieder laut auf. Niemand von ihnen beachtet die zwei Frauen, die an der Bartheke lehnen. Die eine ist zwergenklein und dick wie ein Fass, die andere Frau ist riesengroß und überschlank. Es sind Marianne und Anna. Sie stehen sich gegenüber und lächeln einander zu. Marianne, die Kleine, trägt einen kaftanähnlichen, bodenlangen Umhang aus blutrotem Pannesamt; derselbe schwere Stoff hängt als raumhoher Vorhang sorgfältig gerafft an den beiden Enden der Bartheke. Anna kleidet ein cremefarbenes, tailliertes Bouclé-Kostüm mit knapp kniekurzem Rock. Sie hält ein hochstieliges Kristallglas mit Champagner in der Hand und eröffnet in leichtem Plauderton das Gespräch: „Ich bin Unternehmerin, und du?“
Marianne, die Zwergin, greift ohne Eile nach oben zu einem Teller auf der Theke, holt sich ein gebratenes Würstchen von dort, schiebt es in ihren schnuckeligen Mund, beißt ab und nuschelt, durchaus freundlich: „Ich auch.“ Gekonnt lächelt und kaut sie gleichzeitig.
Anna lächelt zu ihrer Cousine hinunter und sagt, ebenfalls sehr freundlich: „Ich bin Millionärin“, und trinkt manierlich einen Schluck.
„Ich auch“, antwortet Marianne und lächelt ganz reizend. Vergnügt nagt sie an ihrer fetttriefenden Wurst.
„Ich habe einen Mann“, fährt die eine fort.
Woraufhin die andere, ohne geringstes Zaudern und mit ihrer gefällig sanften Stimme erneut erwidert: „Ich auch.“
Da beginnen die Männer an den Wirtshaustischen rhythmisch auf ihre lederbehosten Schenkel zu klopfen und grölen im Chor:
„Marie-Ann,
hat kein’ Mann,
und Müll-Marie,
die ist hie“,
und hören nicht auf damit. Die so Besungene wendet sich unverändert lächelnd und mit der angebissenen Bratwurst in der Hand den Männern im Raum zu, breitet ihre üppig rot verhangenen Arme aus, verbeugt sich nach links, verbeugt sich nach rechts, immer wieder, genau im Takt zu den Reimen, die die Männer wiederholen und wiederholen:
„Marie-Ann,
hat kein’ Mann,
und Müll-Marie,
die ist hie“,
und sie, sie wirft zwischen ihren Verneigungen Kusshändchen in die schwüle Stube wie eine Operndiva auf der Bühne, die nach fulminanter Darbietung die Huldigungen eines hingerissenen Publikums entgegennimmt, und eine unbeschreibliche Verzückung leuchtet in ihrem runden Gesicht.
Anna steht steif und stumm daneben, und plötzlich überfällt sie eine unsägliche Wut. Sie schwingt ihren langen Riesenarm weiträumig aus und schmettert das Champagnerglas mit äußerster Wucht in die Spiegelwand hinter der Theke. Millionen Glassplitter stieben auseinander wie explodierende Feuerwerkskörper …

… da schreckt sie keuchend hoch. „Wo bin ich?“ Sie sitzt stockgerade in ihrem Bett, der Atem rasselt, die Kehle ist trocken und eng. Ein Alptraum. Langsam lässt sie sich zurück in das Kissen sinken. „Wir sind vierundvierzig Cousins und Cousinen!“
Richtig, diese Einladung. Genpool-Party in Kolchendorf, im Heiligen Land Tirol.
Und Madame Krumberger murmelt: „Mon Dieu, gehe ich hin – oder lieber nicht?“
 



 
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