Ruedipferd
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Peter Lassen sieht auf die Uhr. Gleich Sieben, die Flut kommt. Hier an der Küste leben die Menschen wie selbstverständlich mit den Gezeiten. Er schließt die Tür zu und geht nachdenklich zur Garage. Marcus‘ Bewährung wurde widerrufen! Warum wusste er auch nicht so genau. Anscheinend konnte er wieder einmal die Bewährungsauflage nicht einhalten. Peter hat sein Fahrrad aus der Garage geholt. Sein Sohn macht ihm Kummer. Marcus ist bereits dreißig Jahre alt und hat weder eine Berufsausbildung noch einen Arbeitsplatz. Er reagiert oft sehr aggressiv. Das brachte ihm auch schon einige Strafen ein.
Peters Ziel ist nach wenigen Minuten erreicht. Sein Weg führte ihn wie immer an den saftigen Kuhweiden entlang. Hier im Koog wachsen keine Bäume mehr. Das Land ist flach und nur wenige an das raue Klima angepasste Pflanzen können hier gedeihen. Er stellt sein Fahrrad an den Zaun und öffnet die kleine Eisentür, die sich sofort wieder selbsttätig schließt, damit die Schafe nicht entweichen können. Dann steigt er die Treppe zum Deich hinauf. Die von einem ortsansässigen Ehepaar gestiftete Bank auf der Deichkrone ist frei und der Blick über die Bucht nach Süderhafen entschädigt ihn kurzzeitig für alle Sorgen. Ein dickes Schaf mit einem grünen Fleck auf dem Hinterteil weidet genüsslich neben ihm. Das Grün stammt von einem Farbbeutel, den der Schafbock unter dem Bauch trägt. Auf dem Hintern eines Schafes zeigt der Fleck an, dass dieses vom Bock bestiegen und besamt worden ist.
Peter schmunzelt über den Trick, wie die Schafbauern ihre Tiere markieren. Möwengeschrei vermischt sich mit dem Blöken der Schafe und den Geräuschen der Kühe, die hinter dem Deich auf den Weiden stehen. Vor ihm naht langsam die Flut und verschlingt das offene Vorland mit den Lahnungen. Links hinter ihm erhellen die Lichter der viel beschriebenen grauen Stadt am Meer den Himmel. Windräder wirbeln durch die Luft. Ihre roten Lichter blinken im Gleichtakt. Peter schaut wieder auf das wellenschlagende blaue Meer vor ihm. Die Hafeneinfahrt der Stadt wird durch ein rotes Leitfeuer angekündigt. Sein Blick wandert langsam über die kleine Bucht. In Schobüll, ein paar hundert Meter weiter endet der Deich, auf dem er gerade sitzt. Ein kleines Stück der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste bleibt ungeschützt. Hier ragt der Geestrücken bis ans Meer, um dann in die Salzwiesen überzugehen. Peter sieht die Scheinwerfer vieler Autos, die über den Damm nach Nordstrand fahren. ‚Ich wohne an einem Ort, an dem andere Leute Urlaub machen! ‘ Er lächelt über seinen Einfall, doch dann muss er wieder an seinen Sohn denken.
Marcus wollte sich stellen und die vier Monate absitzen. Aber daraus wurde nichts. Der junge Mann hat anscheinend Angst, dass seine Freundin Andrea ihn verlässt, wenn er im Gefängnis bleiben muss. Und eine Therapie will er nicht machen. Da ist er genauso stur wie sein Vater Thorsten.
Peter und Thorsten heirateten 1980. Damals war Peter biologisch noch eine Frau. Er wurde als Mädchen geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre auf der Nordseeinsel Sylt. Bereits im zarten Alter von drei Jahren bat er die Mutter, ihn doch in Zukunft „Peter “ zu nennen. Er wäre eigentlich ein kleiner Junge. Die Mutter lachte und spielte das „Spiel“ mit. Peters Puppen führten ein einsames Leben in der Ecke. Sie wurden so gut wie nie bespielt. Sein ganzer Stolz war der Fuhrpark, welcher aus unzähligen Plastikautos und Schiffen bestand. Im Laufe der Zeit konnte er auch noch eine kleine Eisenbahn, die es damals in den sechziger Jahren noch zum Aufziehen gab, sein eigen nennen. Der ältere Bruder fuhr bereits zur See, als Peter zusammen mit seiner Mutter um die Südspitze in Hörnum wanderte, um dem Vater, einem Zollbeamten, Kaffee und Brote zu bringen. Vom Bruder hatte der kleine „Junge“ ein Spielzeuggewehr und ein wunderschönes selbstgebasteltes Segelflugzeug „geerbt“. Er baute sich unzählige Schiffe in den Sand und saß als stolzer Kapitän dar innen. Anfangs war er trotzdem noch sehr unglücklich, denn seine Mutter hatte ihm die Haare wachsen lassen und Peter musste lange Zöpfe tragen. Eine Tante strickte ihm Kleidchen und da half kein Bitten und Flehen. Wie gern hätte er doch wie die anderen Jungen im Dorf Hosen besessen! In der Schule kam er sehr gut mit und im Sportunterricht konnte er stets schneller laufen als die Mädchen. Die Jungen in der Klasse hatten ihn als einen der ihren akzeptiert. Peter tobte wild mit ihnen umher und manch einer seiner Schulkameraden konnte ein „Lied“ von Peters Rauflust singen. Seine „Kopfnoten“ im Zeugnis waren dementsprechend schlecht. Gleich zu Beginn des zweiten Schuljahres wurde er krank. Seine Beine schmerzten und die Ärzte schickten ihn weit weg von zuhause nach Hamburg ins Krankenhaus. Nachdem er dort zweimal an den Beinen operiert werden musste, durfte er im Sommer wieder heim. Die Mutter hatte ihm die Erfüllung eines Wunsches versprochen und Peter konnte sein Glück kaum fassen. Natürlich wünschte er sich einen Besuch bei „Tante Margit“. Sie war Mutters beste Freundin und die Dorf Friseuse. Peter lief nach dem Friseurbesuch stolz mit seinem Bubikopf auf die Straße. Er war nun endlich ein richtiger Junge geworden. Seine Mama hielt schluchzend die langen abgeschnittenen Zöpfe in der Hand. Und der kleine „Junge“ konnte dann sogar Hosen durchsetzen. Die Mutter hatte nämlich festgestellt, dass diese wesentlich praktischer für ihn waren als Kleider und Strumpfhosen. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag zog die Familie nach Flensburg. Der Vater wurde beruflich versetzt und auch Peter sollte die Schulart wechseln.
Er ging nun aufs Gymnasium, trug weiterhin nur kurze Haare und Hosen und fühlte sich in der reinen Mädchenklasse alles andere als wohl. In den folgenden Jahren träumte er ständig einen Tagtraum. Nach einem Busunfall hätten die Ärzte männliche Organe in seinem Bauch gefunden und müssten ihn nun zu einem Jungen „um operieren“. Die Pubertät wurde für den transsexuellen Jungen eine einzige Katastrophe. Sein Körper wehrte sich mit furchtbaren monatlichen Schmerzen gegen die biologische Rolle als Frau. Dazu kamen psychische Probleme, denn Peter hasste seinen weiblichen Körper und bemühte sich verzweifelt, mithilfe der Antibabypille, seine Blutungen zu unterdrücken. Auch die Brust hatte sich geringfügig entwickelt und er konnte im Sommer nicht mehr mit freiem Oberkörper ins Schwimmbad gehen. Er versuchte, trotz der inneren Konflikte, seine Schulaufgaben ordentlich zu bewältigen, doch irgendwie wirkte sich das Chaos in seiner Seele auch auf seine Schulleistungen aus. Die Banknachbarin wurde ihm die beste Freundin. Aber mit ihr reden konnte er nicht. Er hatte ja inzwischen die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau realisiert und traurig verstanden, dass an seiner Körperlichkeit nun einmal nichts zu ändern war. Seine Träume konzentrierten sich nur noch auf unerreichbare Wünsche. Er lebte damit in der ständigen Angst, etwas Verbotenes zu tun. Sein schlechtes Gewissen verhinderte auch, dass er sich als Jugendlicher einem Arzt anvertrauen konnte. Er bewahrte „sein Geheimnis“ tief in sich, weil er fürchtete möglicherweise bis an sein Lebensende in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Diese Vorstellung ängstigte ihn noch mehr, als die Aussicht von anderen Menschen wegen seiner obskuren Wünsche abgelehnt und verurteilt zu werden. So vergingen die Jahre. Er „verliebte“ sich pro forma in einen nicht erreichbaren Jungen aus der Schule und versuchte, ihn in seinen Träumen zu kopieren. Beziehungen zu Jungen brachten ihm nichts und natürlich konnte er auch keine Zärtlichkeiten mit der Freundin austauschen. Er erlebte sich ja nicht als lesbische Frau. Das junge Mädchen wollte natürlich auch nur Beziehungen zu Jungen und hätte das sicher gar nicht zugelassen. Niemand erfuhr etwas von Peters wahren Gefühlen. Die inneren Spannungen verhinderten dann auch den eigentlich angestrebten Schulabschluss. Peter wollte das Abitur machen und Lehrer werden. Aber der Adoleszenskonflikt war so übermächtig geworden, dass er bald ständig unter panikartigen Ängsten litt. Die anstehenden Abiturprüfungen wurden so zum Albtraum für ihn. Von Versagens Ängsten gepeinigt, verließ er das Gymnasium mit der Versetzung in die Oberprima. In den folgenden Jahren bemühte er sich um seine Berufsausbildung, wurde Beamter und lebte sehr zurückgezogen. Nur mit der Mutter sprach er einmal als zwanzigjähriger über seine Wünsche. Sie gab ihm dann den Rat, ans Heiraten zu denken und Kinder zu bekommen. Wenn er sein erstes Baby im Arm hielte, würden seine dummen Gedanken ganz von selbst verschwinden.
Peter lernte Thorsten kennen. Bei dem zwölf Jahre älteren Handwerksmeister fühlte er sich geborgen und ihre Liebe zu Pferden verband die beiden. Peter zog zu Thorsten aufs Land. Sie heirateten inmitten einer großen Familie und auch Peter genoss das Leben in der dörflichen Gemeinschaft. Er versuchte, sich jungenhaft zu kleiden und zu geben, aber andererseits auch wieder sein biologisches Geschlecht zu leben. Es war ein Spagat, der ihm viel Kraft abforderte. Nach zwei Ehejahren wollte das junge Paar Eltern werden. Peter wünschte sich sehnsüchtig ein Kind, allerdings raubte ihm die Angst vor dem Geburtsschmerz gleichzeitig den Verstand. Trotzdem bemühten sich die beiden um Nachwuchs. Als dieser auf sich warten ließ, leiteten sie ärztliche Untersuchungen ein und fanden bald heraus, dass es sowohl bei Thorsten als auch bei Peter Probleme mit der Realisation ihres Kinderwunsches geben würde. Peter wollte Thorsten keine Operation zumuten, die möglicherweise nicht einmal erfolgversprechend sein könnte. Auch alle anderen Versuche, mithilfe eines Arztes schwanger zu werden, scheiterten. So beschloss das junge Ehepaar, ein Kind zu adoptieren.
Nachdem sie die notwendigen Anträge gestellt hatten, hieß es abwarten. Sie gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und versorgten am Abend ihr gemeinsames großes Haus. Auch ein eigenes Pferd hatten sie sich angeschafft. Wirtschaftlich ging es ihnen gut und Peter wurde durch das abwechslungsreiche Leben von seinen Problemen abgelenkt.
Im Sommer 1983 war es dann endlich soweit. Thorsten und Peter hatten an einem Seminar für angehende Adoptiveltern teilgenommen und eines Tages erreichte Peter am Arbeitsplatz der langersehnte Anruf von der Adoptionsvermittlungsstelle. Ein kleiner vier jähriger Junge suchte ein Zuhause. Peter war überglücklich. Gemeinsam fuhren sie ins Kinderkurheim an die Nordsee und trafen dort zum ersten Mal ihren kleinen Sohn Marcus. Schnell wurden die erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Das Kinder Kinderzimmer musste hergerichtet werden und Peter ließ sich von seinem Arbeitgeber beurlauben. Ein paar Tage später kamen sie noch einmal in das Kurheim.
Marcus war sehr traurig. Es handelte sich ja um ein Heim, in das Kinder aller Altersgruppen aus ganz Deutschland für eine begrenzte Zeit aufgenommen wurden. Wenn die anderen Kinder wieder ihre Koffer packten und nach Hause fahren durften, musste Marcus dort bleiben. Seine Augen strahlten vor Freude, als Peter und Thorsten auch ihn endlich abholten. Schnell waren seine wenigen Habseligkeiten in den mitgebrachten Koffer gesteckt und auch sein Teddy und das schöne Fährschiff, welches er von Peter als Willkommensgeschenk erhalten hatte, waren rasch in einer Plastiktüte verstaut worden. Am Strand legte die Erzieherin Marcus’ kleine Hand in die Peters. Von einem Gefühl tiefster Liebe überwältigt, liefen Peter Tränen übers Gesicht und er wusste, er würde diese kleine Hand nie wieder los lassen, was immer auch das Leben noch mit ihnen vor hätte. Marcus fasste schnell Vertrauen zu Peter, der ihn liebevoll umsorgte. Als erstes wurde er dem Hausarzt vorgestellt. Eine richtige ärztliche Versorgung fehlte dem kleinen Jungen ebenso wie Liebe und Geborgenheit. Seine sprachlichen Fähigkeiten waren nicht ausreichend entwickelt. Er erhielt deshalb sofort logopädischen Unterricht und wurde dann auch gegen die wichtigsten Kinder Krankheiten geimpft. Der kleine Bursche war ein lebhaftes Kind, das neugierig mit großen Augen seine Umgebung erkundete, aber er hatte sich natürlich nicht altersgemäß entwickelt. Seine Feinmotorik war ebenfalls schlecht ausgeprägt, was dazu führte, dass er nicht nur sehr leicht hinfiel und dabei buchstäblich über die eigenen kleinen Beine stolperte, sondern auch mit den Händen sehr hart zupackte, dann aber die Gegenstände plötzlich und unvermittelt wieder losließ. Sehr deutlich wurde das Dilemma, wenn er im Hühnerstall beim Eiersammeln helfen durfte. Peter musste ihm dann sanft die Eier aus der Hand nehmen, wollte er sie für die Küche retten. Es gab für den vierjährigen so viel Neues und Unbekanntes zu entdecken. Zu Weihnachten wünschte er sich einen Bauernhof und als er den Weihnachtsmann auf dem Parkplatz des Kaufhauses traf, in dem Thorsten arbeitete, da zupfte er dem Mann im roten Mantel und weißem Rauschebart am Ärmel, sah ihn bittend und flehend an und fragte immer wieder, ob er ihm auch den erhofften Bauernhof bringen würde. Natürlich konnte er am Heiligen Abend einen großen Hof mit Kühen, Schweinen und Pferden sein eigen nennen. Der Weihnachtsmann hatte noch eins draufgelegt und einen schönen Trecker mitgeliefert. Marcus fühlte sich nun als stolzer Landwirt und spielte stundenlang mit seinem Hof. In der Familie hatten ihn alle auf Anhieb sehr lieb gewonnen. Da zwei Brüder Thorstens ebenfalls „richtige“ Landwirte waren, kam Marcus dort regelmäßig gerne zu Besuch. Er durfte Trecker fahren und beim Füttern helfen. Als Peter und Thorsten dann ihm zu Ehren die ganze Familie zum „Kindskiek“ einluden, war die Freude groß. Ein grüner Traktor zum „selber treten“ stand fortan vor dem Haus. Marcus ging natürlich keinen Meter mehr zu Fuß, sondern begleitete die Mutter beim einkaufen auf dem eigenen Trecker.
Mit den Erwachsenen, die auf seine Bedürfnisse eingingen, kam er gut zurecht. Die gleichaltrigen Nachbarskinder begrüßten den Neuankömmling zwar sofort vorbehaltlos, doch das gemeinsame Spiel endete dann allerdings nicht selten in Streit und Rauferei. Marcus hatte Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Kindern. Im Kurheim war er stets der Kleinste gewesen. Durch die kurze Verweilzeit der Kinder dort, konnte er keine festen Beziehungen aufbauen. In der leiblichen Familie war er der Gewalt des Großvaters ausgesetzt und das Jugendamt sah es als notwendig an, ihn aus dieser Familie herauszunehmen. So hatte er das normale Spielen mit Gleichaltrigen nie gelernt.
Auf Anraten des Hausarztes sollte er dann schon im kommenden Frühjahr den Kindergarten besuchen und erst zwei Jahre später als siebenjähriger eingeschult werden. Nun konnte er sich noch einige Monate an sein neues zuhause gewöhnen, bevor er im Kindergarten erneut unbekanntes Terrain kennen lernen würde. Peter hatte vor einiger Zeit auf dem Jahrmarkt einen großen Teddybären gewonnen. Das Kuscheltier war fast so groß wie Marcus selbst und wurde sein ständiger Begleiter. Eines Morgens kamen die beiden ins elterliche Schlafzimmer. Marcus erklärte, der Teddy wolle mal zu den Eltern und im nächsten Moment tobte die ganze Familie im Ehebett. Der Bann war gebrochen. Sie waren nun wirklich eine kleine Familie geworden. Marcus entwickelte sich langsam zu einem fröhlichen kleinen Lausejungen. Nachts schlief er noch sehr unruhig und schrie oft auf. Er erwachte nie in der Lage, in die er abends ins Bett gelegt wurde. Für das Zubettgehen hatte sich Peter ein Ritual ausgedacht. Nachdem die Zähne geputzt waren, kuschelte sich Marcus mit seinem Teddy unter die Decke und Peter erzählte oder las Gute Nacht Geschichten vor. Ein Buch hatte es ihm besonders angetan. Es handelte von einer Szene aus dem Dschungel. Marcus gab der Hauptfigur kurzerhand seinen eigenen Namen und erlebte fortan selbst die Abenteuer mit Bär, Panther und Tiger. Häufig folgte die Familie den Einladungen des Jugendamtes zu Veranstaltungen für Adoptiveltern.
Auch die Dame von der Adoptionsvermittlungsstelle kam regelmäßig zu Besuch, um sich ein Bild von der Entwicklung ihres Schützlings zu machen.
Durch seinen ungestümen Bewegungsdrang erlitt Marcus beim Spielen einen Unfall und brach sich den Arm. Das Krankenhaus, in dem er behandelt werden musste, war nicht auf Kinder eingerichtet gewesen. Trotzdem durfte Peter nicht die Nacht bei seinem kleinen Sohn verbringen. Am nächsten Morgen war der inzwischen fünfjährige Junge völlig verängstigt weggelaufen und Peter konnte ihn noch in letzter Sekunde kurz vor dem Betreten der Hauptstraße abfangen. Peter und Thorsten waren außer sich, dass die Schwestern im Krankenhaus nicht besser auf ihren Sohn aufgepasst hatten und nahmen ihn sofort mit nach Hause. Für Marcus war dies der endgültige Beweis, dass er nun auch wirklich ‚richtige‘ Eltern hatte. Dann wurde es Frühjahr. Er kam in den Kindergarten und musste dort sehr mühsam lernen, sich in die Kindergruppen einzufügen. Er suchte ständig die Nähe der Betreuerinnen. Bei ihnen fühlte er sich sicher und verstanden. An den Elternabenden saß Peter oft etwas zerknirscht in der Runde, wenn die anderen Mütter von Marcus‘ Missetaten erzählten.
Als Marcus sechs Jahre alt geworden war, tat Thorsten das in seinen Augen einzig Vernünftige. Er meldete seinen lebhaften Sohn im örtlichen Fußballverein an. Der kleine Junge wurde Torwart aus Leidenschaft und spielte dort bis zur A-Jugend. Als C-Jugendspieler durfte er sogar einmal für die Auswahlmannschaft das Tor hüten. Die Schule bereitete ihm nach anfänglicher Begeisterung ziemliche Kopfschmerzen und Peter, welcher zeitweilig mehr Schularbeiten machte als sein Sohn, schlaflose Nächte. Marcus litt unter Konzentrationsschwierigkeiten und dachte mit Grausen an jede Mathematikarbeit. Das Lesen und Schreiben hatte er ansonsten sehr gut gelernt und seine Aufsätze im Deutschunterricht konnten sich sehen lassen. Auch die Beziehung zu den Nachbarskindern besserte sich mit zunehmendem Alter. Aber er blieb ein sehr quirliger Junge, der kaum eine Sekunde richtig still sitzen konnte.
Zusammen mit den Eltern unternahm er viele schöne Urlaubsreisen. Meist zog es die drei in die Berge. Im Harz und in Österreich sausten Thorsten, Marcus und Peter die Sommerrodelbahnen hinunter und krönten ihre „Bergsteiger Karriere“ dann mit dem Besuch der Zugspitze. In Bayern erhielt er ein besonderes Gastgeschenk der Vermieterin. Es war eine als kuscheliger Teddybär hergestellte Handpuppe, welche auf den Namen ‚Mecki‘ hörte und nun ebenfalls einen festen Platz in Marcus‘ Bett bekam. Natürlich nahm er zuhause auch am Kinderfasching des Sportvereins teil. Hinsichtlich der Kostümierung gab es keinerlei Probleme. Er verkleidete sich jedes Jahr erneut als Cowboy. Mehrmals wurde er an den Schulkinderfesten König in seiner Jahrgangsklasse und bescherte Peter damit regelmäßig die Aufgabe, im nächsten Jahr im Vorstand mit zu helfen. Zu seinem elften Geburtstag wuchs die kleine Familie dann um ein weiteres Mitglied an. Marcus wurde, nachdem Peter in Gedanken einen Putz Plan für die Wohnung entwickelt hatte, endlich stolzer Hundebesitzer.
Ein kleiner Dackelwelpe zog nun auch noch in das Zweifamilienhaus ein, in dessen Dachgeschosswohnung einige Jahre zuvor schon Peters Eltern eine neue Heimat gefunden hatten. ‚Purzel‘ stellte das Leben der Familie erst einmal gründlich auf den Kopf. Marcus und sein Hündchen wurden die besten Freunde und Peter musste ständig kopfschüttelnd darauf achten, dass der Hund nicht zusammen mit seinem jungen Herrchen die Nacht in dessen Bett verbrachte. Der kleine Kerl machte ansonsten nichts als Unfug. Er nahm die Blumenbank auf dem Flur auseinander und kaum eine Toilettenpapierrolle überlebte die Neugier und Abenteuerlust des putzigen Welpen.
Marcus hatte im Laufe der Jahre drei Operationen überstehen müssen. Im Alter von fünf Jahren wurden ihm Nasenpolypen entfernt und gleich darauf folgten die Mandeln.
Während des Eingriffs wurde ein Gehörschaden am rechten Ohr festgestellt, so dass sich eine sehr schwere Ohroperation anschloss. Zeitgleich wurde auch Thorsten krank. Ein Bandscheibenvorfall musste ebenfalls operativ behandelt werden. Peter hatte wieder angefangen halbtags zu arbeiten und war mit Haushalt, Beruf und der Sorge um Marcus und Thorsten in den nächsten Jahren sehr gefordert. So stellten sich auch bei ihm rasch Erschöpfungszustände ein. Als seine Mutter kurz vor Weihnachten zu allem Überfluss auch noch an Krebs erkrankte, fühlte sich Peter geschwächt und nieder geschlagen. Er litt unter starken Rückenschmerzen und bekam schwere Depressionen.
Sein Hausarzt wies ihn zur Diagnostizierung ins Krankenhaus ein. Peter dachte wieder an seine ‚komischen‘ Gefühle. In der Ostsee Klinik konnte er sich endlich einer Oberärztin anvertrauen. Es war das erste Mal, dass er mit einem Arzt über sein Problem gesprochen hatte. Die Ärztin gab ihm die Telefonnummer einer Psychotherapeutin, die sich mit dem Thema Transsexualität auskannte. Sie wünschte ihm viel Kraft, sollte sich die Diagnose bestätigen. Im November 1992 begann Peter eine psychotherapeutische Behandlung. Er war überglücklich endlich ernst genommen zu werden, hatte er doch all die Jahre befürchtet, mit seiner bizarren Geschichte irgendwann einmal in der Psychiatrie zu landen. Die Therapeutin hörte ihm aufmerksam zu und gab seiner Störung einen Namen.
Peter war Frau zu Mann Transsexuell. Es handelt sich dabei um eine besondere Art von Geschlechtsidentitätsstörung. Peters Gefühl, er hätte eigentlich als Junge zur Welt kommen müssen, erwies sich als zutreffend. Sein Körper war zwar weiblich, doch Körper und Seele stimmten nicht überein. Wie die Störung tatsächlich entsteht, ist bis heute ungeklärt. Eventuell sind hormonelle Störungen der Mutter während der Schwangerschaft dafür mitverantwortlich, aber auch psychosoziale Konflikte und das soziale Umfeld sowie das frühkindliche Selbsterleben spielen eine Rolle. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen, fuhr Peter nach Hause. Für ihn stellte sich erst einmal die Frage, wie er Thorsten die Problematik erklären sollte. Der Partner ist natürlich die wichtigste Person, wenn es darum geht, einen Weg zu finden, um mit der Störung zu leben. Peter wollte keine Veränderungen herbei führen und sein Lebensumfeld behalten. Alles sollte möglichst so bleiben, wie es war. An eine mögliche Trennung von Thorsten zu denken, kam ihm deshalb gar nicht in den Sinn. Was würde dann auch aus Marcus? Sie waren Eltern und würden das auch für den Rest ihres Lebens bleiben, egal was passierte. Peter dachte daher an Cross Dressing, was er ohnehin schon tat. Damit ist das bewusste Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts gemeint. Für eine biologische Frau stellt das heute gesellschaftlich natürlich kein Problem mehr dar und Peter bevorzugte ohnehin schon Hosen, weil er sich in Hemd und Hose einfach wohler fühlte. Vielleicht würden sie zusammen einen jungenhaft klingenden Spitznamen für ihn erfinden, damit er sich etwas männlicher fühlen könnte.
Eine gering dosierte Hormonbehandlung mit Testosteron Präparaten und ein Mittel, welches die Regel ausbleiben ließ, kämen medizinisch ebenfalls in Frage.
Peter litt jeden Monat unter furchtbaren Schmerzen, denen mit normalen Schmerzmitteln nicht bei zu kommen war. Er hätte sich auch gerne die weiblichen inneren Organe entfernen lassen. Sie bekamen keine eigenen Kinder und Marcus hatten sie inzwischen rechtmäßig adoptieren können. Peter suchte selbst nach Lösungen für sein Problem und war guter Dinge, zusammen mit Thorsten einen unkomplizierten Weg zu finden, um mit der Störung umgehen zu können. Trotzdem machte er sich Gedanken darüber, wie Thorsten wohl reagieren würde. Er konnte ihm die Therapieinhalte ja nicht ewig vorenthalten. So sprach er mit seiner Ärztin, die ihm riet, Thorsten in einem ruhigen Gespräch alles zu erzählen und ihm vor allem auch seine eigenen verschiedenen Lösungswege zu unterbreiten. Thorsten solle sich keine Sorgen machen.
Auch wenn eine operative und hormonelle Geschlechtsangleichung immer noch die normale Behandlungspraxis bei zumindest genuiner, also echter Transsexualität wie bei Peter, darstellte, gäbe es unzählige andere Möglichkeiten den richtigen Weg für sich selbst zu finden. Peters Ideenreichtum kannte keine Grenzen und das Wesentliche hatte er ja schon für sich entdeckt.
Dann kam es zur Katastrophe. Ob Torsten Peters zum Teil holprige und unbeholfene Erläuterungen missverstanden hatte oder nur Angst vor einer Gleichgeschlechtlichen Beziehung bekam, die zu dem damaligen Zeitpunkt gar nicht zur Debatte stand, wurde auch später nie geklärt. Thorsten meinte lediglich, wenn Peter künftig als Mann leben wolle, müssen sie sich trennen und stand nach dem Gespräch wortlos vom Tisch auf.
Peter saß verzweifelt und völlig fassungslos daneben und starrte ins Leere. Von Trennung war nie die Rede gewesen. Er wollte doch Kompromisse suchen, Lösungen finden, die es ihm ermöglichen würden, ohne Operationen und geschlechtsspezifische Veränderungen in seinem Körper weiter zu leben. Er fühlte sich elend, allein gelassen und war nicht mehr fähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht hätte er Thorsten gar nichts sagen sollen. Er hätte sich ein anderes Outfit zugelegt, zusammen mit seiner Frauenärztin ein Medikament gefunden, welches die Regelblutung unterdrückt und zusätzlich schwach dosierte Testosteron Präparate eingenommen. Die Entfernung der Gebärmutter wäre mit seiner Endometriose begründet worden. Peter litt seit jeher unter dieser Erkrankung, die auch Unfruchtbarkeit zur Folge hat und sehr häufig bei Frauen auftritt.
Vom Tag seines häuslichen „Comingouts“ an, war nichts mehr so wie früher. Die Beziehung zu Thorsten wurde im Laufe der nächsten Wochen und Monate immer schlechter. Sie konnten nicht über die Problematik reden. Schwer depressiv erzählte Peter seiner Psychologin von der Absicht, aus dem Leben scheiden zu wollen. Die erfahrene Ärztin hatte die Veränderung ihres Patienten bereits bemerkt und reagierte entsprechend. Sie meinte ganz trocken, sie würde zu ihren Suizid gefährdeten Patienten immer sagen; „Lassen Sie uns doch erst einmal reden, umbringen können Sie sich dann ja immer noch!“ Die Worte kamen so flüssig, dass Peter unwillkürlich anfing, zu schmunzeln. Natürlich war eine solche Reaktion beabsichtigt gewesen und als er dann im nächsten Augenblick unter Tränen erklärte, dass er doch für seinen kleinen Sohn leben müsse, bestätigte sie ihn einfach. So wurden die Selbstmordpläne vorerst verschoben.
Peter erholte sich kurzzeitig, als ihm seine Frauenärztin die ersten gegengeschlechtlichen Hormone verabreichte. Er blühte plötzlich auf, war fröhlich und ausgeglichen und konnte vor allem auch seinem Beruf wieder nach gehen. Die schmerzhaften Blutungen blieben ebenfalls aus. Doch gleichzeitig senkte sich, als Nebenwirkung des Testosteron Präparats, auch seine Stimme um ein paar Nuancen. Für Thorsten war das Grund genug, Peter vor die Wahl zu stellen. Entweder er hört sofort mit der Hormoneinnahme auf oder es müsse unabänderlich zur Trennung kommen. Der Konflikt zwischen den Ehepartnern spitzte sich derartig zu, dass Peter von seinem Hausarzt in eine nahe gelegene psychosomatische Klinik ein gewiesen werden musste.
Die Hoffnung, von dort Hilfe zu erhalten, erfüllte sich jedoch nicht. Traurig musste er realisieren, das er sich nicht in die Gruppengespräche einbringen durfte. Der behandelnde Arzt meinte, die anderen Patienten würden seine bizarre Geschichte nicht verstehen und er hätte nur noch Einzelgespräche. Im Übrigen wären Transsexuelle, Menschen aus der Halbwelt und dazu wolle Peter als Beamtin doch sicher nicht gehören. Peter war verzweifelt. Er hämmerte in der Turnhalle stundenlang Bälle mit einem Tennisschläger an die Wand. Dann hielt er die Isolation nicht mehr aus. Am Abend erzählte er seinen Mitpatienten unter Tränen, was ihn bedrückte. Die Reaktion war überwältigend. Niemand reagierte schockiert. Die meisten hatten schon von Transsexualität gehört und fanden überhaupt nichts dabei. Er wurde erst einmal in die Arme genommen und konnte sich richtig ausheulen.
Während des Klinikaufenthaltes setzte er dann seinen ersten Besuch in einer Hamburger Selbsthilfegruppe durch. Auch hier fühlte er sich gut aufgehoben und verstanden. Er freundete sich mit einem jungen Mann an, der wie er selbst, Patient bei seiner Psychotherapeutin war. Die beiden wurden sehr enge Freunde und haben noch heute Kontakt. Auf der Heimfahrt beschloss Peter, den Klinikaufenthalt zu beenden. Er erzählte dem Arzt, was dieser hören wollte und wurde als geheilt entlassen. Peter und Thorsten wurde eine Familientherapie empfohlen. Doch auch diese Gespräche liefen ins Leere. Zusammen mit Thorsten fuhr er dann zu einem anderen Arzt, welcher an der Universitätsklink praktizierte.
Und wieder musste Peter enttäuscht feststellen, dass man ihm nicht zu hörte und vor allem auch nicht auf die familiären Probleme einging. Der Arzt, der für seine Fachkompetenz auf dem Gebiet der Transsexualität bekannt war, setzte noch eines drauf und wies ihn erneut in die Psychiatrie ein. Peter gehorchte traurig. In der Nervenklinik angekommen, erklärte man ihm allerdings, dass in der offenen Abteilung zurzeit kein Bett frei wäre und man ihn nur auf der geschlossenen Station aufnehmen könne. In diesem Moment meldete sich Peters Selbstachtung zurück. Damit wäre genau das passiert, wovor er sein ganzes Leben Angst gehabt hatte. Er lehnte ab, erhielt aber sehr starke Beruhigungstabletten. Von der Heimfahrt bekam er dann so gut wie nichts mehr mit. Thorsten war zufrieden, dachte er doch, so eine Tablette könnte Peter wieder vernünftig werden lassen. Thorsten gab der Therapeutin die Schuld an Peters Zustand. Eine Woche später begleitete er ihn zur Therapie. Mit dem einstündigen Gespräch dort, konnte er überhaupt nichts anfangen. Zu Hause kam es dann wieder Mal zum heftigen Streit. Peter wollte doch nur ernst genommen werden und mit Thorsten reden. Er war völlig verzweifelt. Es ging ihm gar nicht so sehr um Thorstens grundsätzliche ablehnende Meinung, sondern darum, dass sie kein einziges vernünftiges Wort mehr mit einander sprechen konnten. Zu allem Überfluss hatte auch Marcus gemerkt, dass irgendetwas in der Beziehung der Eltern nicht stimmte. Kinder reagieren sehr sensibel auf familiäre Stimmungen und spüren, wenn Unstimmigkeiten zwischen Vater und Mutter auftreten. Thorsten erlaubte nicht, dass Peter seinem inzwischen dreizehnjährigen Sohn von dem „Blödsinn“ erzählte. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten.
So blieb Marcus bei der Bewältigung der schwierigen Familiensituation außen vor und erhielt nur unzureichende Informationen. Peter wollte seinen Sohn in die Gespräche bei dem Familientherapeuten einbeziehen, so dass auch er Bescheid wissen sollte und fortan in alle Entscheidungen der Eltern involviert wäre. Aber Thorsten verweigerte die Zustimmung dazu. Peter erfuhr dann zusätzlich von seinen Eltern, dass er zur NS Zeit wahrscheinlich mit einer solchen Störung in einem KZ umgekommen wäre. Natürlich hatten sie Recht, auch wenn die Erkenntnis sehr weh tat. Aber er konnte seine Gefühle nicht ungeschehen machen. Sie waren nun einmal da und er musste einen Weg finden, um mit ihnen umzugehen. Er fühlte sich von den eigenen tiefen Wahrheiten und den Ansprüchen und Wünschen seiner Familie förmlich zerrissen. Eine Arbeitskollegin vermietete ihm für einen Monat ihre kleine Ferienwohnung. Peter versuchte nach dreizehn Jahren zum ersten mal, wieder alleine zu leben.
Doch es stellten sich erneut schwere Depressionen ein. Er hatte sich den Arbeitskollegen gegenüber geoutet. Sie reagierten auch nett und freundlich, meinten aber, mit einer derartigen Problematik müsse man in einer Großstadt leben, in deren Anonymität man nicht auffalle. Peter fühlte sich nur in den Therapiesitzungen wohl. Aber die Ärztin arbeitete in der Landeshauptstadt und er war nicht einmal in der Lage, in der etwas größeren Kreisstadt zu leben. Wie sollte er da ohne Hilfe und ohne Familie in einer Großstadt zurechtkommen? Er bekam plötzlich immer mehr das Gefühl, fremdgesteuert zu werden. Eine Stimme in seinem Kopf erzählte ihm die nächsten Schritte, die er tun müsse. Mit Thorsten konnte er überhaupt nicht mehr sprechen und auch seine Eltern zeigten sich sehr besorgt und traurig. Sie wohnten im Dachgeschoß ihres Hauses und überlegten bereits, auszuziehen.
Peter wäre an all dem schuld gewesen und das ließ man ihn auch spüren. Er fuhr allein in die große Stadt und fand dort eine kleine möblierte Wohnung. Sein Arbeitgeber gab grünes Licht und versetzte ihn. Natürlich wurden die neuen Kollegen eingeweiht.
Dann kam der furchtbare Moment, als er das Nötigste von seinen Sachen einpackte. Thorsten und Marcus saßen weinend im Schlafzimmer und Peter weinte mit ihnen. Am nächsten Morgen verließ er das kleine Dorf. Er hatte seinen Jahresurlaub für den Umzug genommen. In den folgenden Wochen begann er, sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Anfangs klappte es auch mit dem neuen Arbeitsplatz sehr gut. Peter absolvierte nun seinen Alltagstest. Er sollte ohne operiert zu sein, in männlicher Rolle leben, wurde mit „Herr“ angesprochen und lebte wie ein Mann. Es fiel ihm nicht schwer. Er meldete sich im Fitnessstudio an und zog sich im Männerumkleideraum um. Irgendwann duschte er auch dort. Stück für Stück wurde er in seiner neuen Rolle selbstsicher. Er freute sich, wenn er mit dem Fährschiff den Hafen überqueren konnte, bekam eine Eintrittskarte für die Handballmeisterschaft und nahm interessiert am öffentlichen Leben teil. In der Stadt gab es eine neu gegründete Selbsthilfegruppe für Transsexuelle, welche hauptsächlich aus Studenten bestand. Auch Peter und sein Freund trafen sich dort. Zusammen fuhren sie nach Frankfurt zur Transidentitas. Dabei handelt es sich um eine Fachtagung für transsexuell geprägte Menschen und ihre Angehörigen. Peter war von den vielen Eindrücken überwältigt und lernte dort auch seinen späteren Operateur kennen. Aber vorher musste er sich zuhause der Begutachtung zweier unabhängig voneinander untersuchender Ärzte stellen. Erst wenn die Diagnose in zwei Gutachten feststeht, ergeht der offizielle Beschluss des Amtsgerichts zur Vornamensänderung. Hat sich der oder die Betreffende dann auch einem operativen Eingriff unterzogen, kann danach der Personenstand geändert werden.
Einer der Gutachter war schon etwas älter und als Psychiater lange Zeit in der Nervenklinik beschäftigt gewesen. Er verfügte über eine weitreichende Berufserfahrung, besprach mit Peter dessen Lebenslauf und kam sehr schnell zur Diagnose. Als zweiten Gutachter musste sich Peter mit dem Arzt auseinander setzen, der ihn bei seinem Besuch mit Thorsten gleich in die Psychiatrie einweisen wollte. Obwohl dieser als Koryphäe auf dem Gebiet der Transsexualität galt, kamen die Gespräche nur sehr schleppend in Gang. Peter konnte zu dem Mann kein Vertrauen fassen. Später erfuhr er in seiner Selbsthilfegruppe, dass auch die anderen Freunde ähnliche Probleme hatten. Der Arzt merkte dann auch selbst, dass er und Peter nicht zusammenpassten und bat einen Kollegen um Unterstützung. Die von Peters Psychotherapeutin gestellte Diagnose wurde nach einem Jahr von beiden Gutachtern bestätigt.
Zwischenzeitlich erhielt Peter die Kündigung seiner privaten Krankenversicherung, die sich vor der Zahlungsverpflichtung für die geschlechtsangleichende Behandlung drücken wollte. Als Beamter wurde Peter in keine gesetzliche Krankenkasse aufgenommen und die Chance mit seiner Problematik eine neue private Versicherung zu finden, ging gegen Null.
Er musste ohne ausreichenden Versicherungsschutz auskommen. Nachdem er sich seinem Vorgesetzten anvertrauen konnte und ein Rechtsanwalt eingeschaltet wurde, gelang es mithilfe eines Kollegen, nach einigen zähen Verhandlungen, die Kündigung wieder rückgängig zu machen. Peters Einkommen im Mittleren Dienst hätte niemals ausgereicht, um seine gesamten Krankheitskosten abzudecken.
Thorsten rief ihn häufig an und Peter fühlte schmerzlich, wie sehr er ihn vermisste.
Er fuhr an den Wochenenden nachhause und versuchte, das Familienleben einigermaßen aufrechtzuerhalten. Aber er geriet immer wieder mit Thorsten in Streit. Anfangs schlief er noch im gemeinsamen Schlafzimmer. Thorsten war ins Nachbarzimmer gezogen. Nachdem er von Peters Problematik erfahren hatte, stellte er alle Zärtlichkeiten ein. Das geschah merkwürdiger weise bereits zu einem Zeitpunkt als bei Peter noch gar keine sichtbaren Veränderungen erkennbar waren. Wenn sie doch nur miteinander hätten reden können! Auch für Marcus wäre die wöchentliche Trennung von Peter aus beruflichen Gründen nachvollziehbar gewesen. Am Wochenende wären sie dann immer zusammen gekommen. Peter bedrängte Thorsten nicht zu einer Männerbeziehung. Natürlich fühlte sich Thorsten Heterosexuell und auch Peter entdeckte langsam seine eigenen Neigungen, die er sich ja Zeit Lebens selbst verboten hatte. Das schlimmste war der ständige Streit wegen Nichtigkeiten. Hätten sie einen Weg gefunden, freundlich und friedlich mit einander umzugehen, wäre es sicher auch für Marcus sehr viel leichter geworden. Die Landeshauptstadt bot genug Abwechslung und sie hätten dort während der Freizeit zusammen mit Marcus viel unternehmen können, ohne aufzufallen. Auch ein späterer Umzug in die Kreisstadt und somit in die Nähe zu Marcus und Thorsten wäre sicher möglich gewesen. Thorsten aber konnte sich mit der Situation nicht arrangieren. Er sagte, er würde Peter niemals als Mann anerkennen und sprach ihn auch nie mit dem neuen Vornamen an. So war es für Peter auch schwierig, eine Regelung mit Marcus zu finden. Solange der Junge noch bei Thorsten lebte, konnte er keine vernünftige, der Realität angepasste Beziehung zu Peter aufbauen. Eigentlich war es für Marcus sogar unmöglich, sich überhaupt mit der Realität auseinander zu setzen. Thorsten erklärte, die Nachbarn würden sie mobben und er könne nirgendwo mehr hingehen. Auch Marcus würde in der Schule gehänselt werden. Peters Eltern bestätigten einige Aussagen, obgleich Peter sich eine solche negative Reaktion in seinem Dorf gar nicht vorstellen konnte. Er selbst sprach mit den Nachbarn, so als wenn nichts geschehen wäre. Marcus war noch zu jung, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Peter hatte sich überlegt, ob es nicht besser wäre, seinen Sohn zu sich zu holen. Es gab auf dem Nachbargrundstück sogar eine Gesamtschule, so dass er schulisch auf jeden Fall besser gestellt gewesen wäre, als auf der Hauptschule zuhause. Doch Peter fühlte sich in seinem derzeitigen Zustand der Verantwortung für einen pubertierenden jungen Mann nicht gewachsen und wollte Marcus deshalb nicht aus dessen gewohntem Umfeld herausreißen. So bemühte er sich weiterhin um ein friedliches Miteinander mit Thorsten. Der „Spagat“ hatte seinen Preis und kostete ihn viel Kraft. Für den gemeinsamen Sohn wurde dadurch nichts besser.
Irgendwann zog Peter schweren Herzens an den Wochenenden zu seinen Eltern ins Dachgeschoß. Doch auch dort fand er nicht die rechte Ruhe. Starke Schuldgefühle quälten ihn. Seine Eltern wollten das Beste für alle Familienmitglieder, aber sie merkten, dass die Situation auch für sie nicht gut war. Peters Mutter erkrankte zudem an Krebs und so hatten die Eltern genug eigene Probleme zu bewältigen. Peters Schuldgefühle seinem Sohn gegenüber wuchsen ins Unermessliche. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten und entwickelte sich doch gleichzeitig selbst äußerlich zu einem jungen Mann. Thorsten schürte die Schuldgefühle, in dem er auch vor Marcus erklärte, dass sie nun keine Familie mehr wären.
Im Sommer durfte Marcus ihn in seiner kleinen Wohnung besuchen. Peter fühlte sich nicht viel älter als der fünfzehnjährige Sohn. Er erlebte im Zeitraffer erneut seine Pubertät. Die beiden unternahmen viel in diesen vier Tagen. Peter versuchte Marcus auch die Situation zu erklären und seine Psychologin half ihm dabei. Aber sie sah ebenfalls mit geübtem Blick die Probleme in Marcus‘ eigener psychischer Struktur. Peter hoffte, dass sich sein Sohn trotz aller Schwierigkeiten normal entwickeln würde und eines Tages einen Beruf ergreifen könnte. Marcus fuhr wieder nach Hause und beendete im Sommer seine Schule. Thorsten fand für ihn einen Ausbildungsplatz als Malerlehrling. Nach nur einem Jahr wollte Marcus nicht mehr. Seine Berufsschulnoten waren schlecht und er hatte keine Lust, seinen Beruf weiterhin auszuüben. Thorsten und Peter konnten ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Auch alle Gespräche mit dem Lehrherrn brachten keinen Erfolg. Als Marcus drohte straffällig zu werden, meldete sich Thorsten beim Jugendamt. Er bekam sofort Hilfe. Ein Betreuer nahm sich des Jungen an und versuchte, ihn für Lernprojekte zu begeistern. Der siebzehnjährige durfte bereits mit dem Führerschein beginnen. Peter sah dem Treiben etwas skeptisch zu. Marcus war in seiner Entwicklung noch nicht soweit, um die Verantwortung als Autofahrer tragen zu können. Aber seine Einwände wurden von Thorsten nicht ernst genommen. Es wäre Thorsten am liebsten gewesen, Peter wäre ganz aus ihrem Leben verschwunden und hätte seinen Sohn und seine Eltern nie wieder gesehen. So blieb Peter nichts anderes übrig als tatenlos zusehen zu müssen, wie Marcus immer mehr überfordert wurde und an jeder neuen Aufgabe scheiterte.
Aber anstatt umzudenken und eine neue Strategie zu entwickeln, hackten sie immer weiter auf dem armen Jungen herum. Natürlich schaffte er auch die nächste Lehre nicht und selbst ein Jahr im Jugendaufbauwerk brachte keine Besserung. Die wichtigen therapeutischen Gespräche mit ihm und den Eltern wurden auch dort nicht geführt. Nach dem Aufenthalt begann Marcus seine dritte Lehre. Er wohnte wieder bei Thorsten und hatte sogar nach vielen vergeblichen Versuchen endlich seinen Führerschein bestanden. Während einer kurzen Wochenendfreizeit lernte er ein junges Mädchen aus Dänemark kennen. Die beiden wurden für drei Jahre ein Paar und verlobten sich sogar. Marcus blühte auf. Die Freundin gab ihm nicht nur ihre Liebe sondern trug auch zur Stärkung seines angeknacksten Selbstwertgefühles bei. Peter und Thorsten unterstützten die Beziehung genauso wie die Eltern des Mädchens in Dänemark. Auch die Elternpaare lernten sich kennen und Peter wurde von den toleranten und unkomplizierten Dänen vorbehaltlos akzeptiert. Aber auch in dieser Familie kam es zur Katastrophe. Marens Eltern ließen sich ebenfalls scheiden. Anfangs gaben sich die beiden jungen Menschen gegenseitig Halt, doch bald stellte sich heraus, dass sie beide den Veränderungen, die sich bei einer Trennung der Eltern zwangsläufig einstellen, nicht gewachsen waren. Auch ihre eigene Beziehung zerbrach schließlich.
Marcus hatte zwischenzeitlich Kontakt zu seiner leiblichen Familie aufgenommen. Er sah als achtzehnjähriger erstmalig im Leben seine Mutter. Und auch hier erlebte er nur Enttäuschungen. Peter wollte ihm so gerne helfen und musste selbst zeitgleich zu Weihnachten eine weitere schwere Krebserkrankung seiner Mutter hinnehmen. Das geschah zu Weihnachten 1997. Einige Monate später starb die Mutter.
Peter konnte sich im Mai 1995 operieren lassen. Eine befreundete Anwältin hatte entsprechende höchstrichterliche Urteile erwirkt Aber auch jetzt, versuchte sich die Versicherung, mit einem Trick vor der Zahlungsverpflichtung zu drücken. Durch die vielen Probleme zermürbt, konnte sich Peter über seine Operation nicht so freuen, wie die Freunde aus der Selbsthilfegruppe. Trotzdem erfasste ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als er nach dem mehrstündigen Eingriff aufwachte und an sich heruntersah. Wie bei der deutschen Wiedervereinigung hatten sich bei ihm Körper und Seele vereint. Wieder zuhause und noch sehr geschwächt, verweigerte die Krankenversicherung, trotz bereits vorher schriftlich erteilter Kostenzusage, die Begleichung ihres Anteils an der Operationsrechnung. Peter sollte erst unterschreiben, dass er in Zukunft keine weiteren Forderungen an die Versicherung mehr stellen würde, die in Zusammenhang mit der geschlechtsangleichenden Behandlung stünden. Das schließe alle eventuell in den Folge Jahren notwendigen Korrekturoperationen und die lebenslange Hormonbehandlung mit ein. Peter hielt die Operationsrechnung in den Händen und weinte. Wenn er das gewusst hätte, wäre er niemals zur OP gefahren. Die Kosten hätte er nie selbst tragen können. Zum Glück konnte seine Anwältin helfen.
Dann wurde der Dezember 1997 für ihn erneut zum Schicksalsjahr. Erst wurde er am Nikolaustag von Thorsten geschieden. Danach musste er selbst zu seinem Operateur fahren, um eine einzige kleine Nachbehandlung durchführen zu lassen. Doch nun wollte plötzlich sein Arbeitgeber die Kosten dafür nicht übernehmen. Peter führte verängstigt und vor Schmerzen gepeinigt mehrere Telefonate und Schriftverkehr. Zwei Wochen später konnte er dann endlich ins Krankenhaus fahren.
Als er nach dem Eingriff geschwächt wieder nach Hause kam, erzählte ihm sein Vater von der nunmehr tödlichen Krebserkrankung der Mutter. Sie brauchte ihn jetzt und auch Marcus brauchte ihn im Jugendaufbauwerk. Peters Vater konnte nicht verstehen, dass er nach vierzig Jahren Ehe seine Frau verlieren sollte und Peter musste auch den verzweifelten alten Mann stützen. Dabei stieß er dann selbst bald an seine physischen und psychischen Grenzen. Zudem gestaltete sich die Beziehung zu Thorsten weiterhin als sehr unstet und Peter nahm die Herabsetzungen und Diskriminierungen seiner Person klaglos hin, wollte er doch weder seinen Eltern noch Marcus zusätzlichen Kummer bereiten. Marcus verließ das Elternhaus und brach erneut seine Lehre ab. Er hatte nun weder eine Berufsausbildung noch einen Arbeitsplatz und schlug er sich mit Gelegenheitsjobs sowie Sozialhilfe durch. Im Laufe der Jahre wurde der Antrag beim Arbeitsamt zum Alltag. Durch seine Aggressivität musste er Verurteilungen wegen Körperverletzung hinnehmen und konnte nicht immer seine Geldstrafen bezahlen. Sowohl Thorsten als auch Peter halfen immer wieder aus und „retteten“ ihn vor dem Gefängnis. Als sich die Strafen mehrten und auch keine Geldstrafen mehr verhängt wurden, musste Marcus einige Monate hinter Gitter. Sein Leben verläuft chaotisch. Natürlich hat er ein gutes Herz und alles Kriminelle liegt ihm fern. Er wird nur sehr leicht wütend und kann dann seine Gefühle nicht kontrollieren. Darunter leiden auch seine eigenen Beziehungen.
Peter wurde im Juni 1997 auf Anraten seines Vorgesetzten vorzeitig pensioniert. In den folgenden Jahren schrumpfte sein Einkommen durch die vielen Gesetzesänderungen und Einschnitte, so dass ein Betrag in Höhe des Arbeitslosengeldes II zum Leben bleibt.
Im September 2005 starb plötzlichen auch der Vater an Krebs. Nach dem Tod der Mutter, hatten die beiden ein sehr inniges Verhältnis zu einander aufgebaut. Sie wanderten stundenlang mit ihrem kleinen Dackel durch die Feldmark. Das kleine treue Tier war bereits im Herbst 2001 eingegangen. Peter hatte sich gerade in der Kreisstadt ein neues Leben aufgebaut. In einem nahe gelegenen Reitstall fand er Freunde und Pflegepferde. Gesundheitlich ging es ihm nicht immer gut. Er merkte auch, dass er älter wurde und sich alle möglichen Gebrechen vor allem im Bereich der Gelenke und der Wirbelsäule einstellten. Er versorgte seinen Vater und besuchte Bildungsveranstaltungen an der Fachhochschule. Sein BWL Gasthörer Studium machte ihm viel Freude.
Die unerwartete Erkrankung seines Vaters und dessen plötzlicher Tod warfen ihn dann wieder weit zurück. Auch nach fünf Jahren sind die Wunden noch nicht verheilt und Peter steht oft fassungslos am Elterngrab.
Er fühlt sich in diesen Augenblicken sehr allein. Der Bruder lebt in einem anderen Bundesland und Thorsten, der inzwischen sehr viele, zum Teil lebensgefährliche Operationen überstehen musste, meldet sich nur selten. Meistens geht es dann um Marcus und dessen chaotische Lebensumstände. Beide machen sich große Sorgen um den einzigen Sohn. Die Beziehung zwischen Marcus und Thorsten war lange Zeit sehr angespannt. Erst als Peter eingriff, meldete sich Marcus wieder bei seinem Vater.
Auch heute noch kämpft Peter mit Schuldgefühlen seinem Sohn gegenüber und in Krisensituationen treten auch ab und an wieder Panikzustände auf. Das Leben mit transsexueller Prägung verlangt den Betroffenen viel ab. Inzwischen haben sich allerdings die Operationsmöglichkeiten für Frau zu Mann Transsexuelle verbessert und es gibt höchstrichterliche Urteile, die die Krankenkassen zur Kostenübernahme verpflichten. In der Bevölkerung zeichnen sich Offenheit im Umgang und Bereitschaft zur Akzeptanz ab. Mit Sexualität hat die Störung eigentlich gar nichts zu tun. Es ist das tiefe und bestimmte Gefühl, nicht dem biologischen, sondern dem Gegenschlecht anzugehören und in dieser Rolle leben zu müssen. Doch gerade das macht es für die Betroffenen so schwer.
Peter ist bemüht, die trüben Gedanken hinter sich zu lassen und wieder in die Realität zurückzukehren. Eine Möwe fliegt über ihn hinweg und ihr Schrei zerreißt die Stille. Langsam erhebt er sich von der Holzbank auf der Deichkrone. Hier oben kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen. So wie sein Vater Zeit lebend von der schlesischen Heimat schwärmte, so fühlt sich Peter in Nordfriesland zu Hause. Er schaut mit einem letzten Blick auf die friedliche Nordsee hinaus und steigt langsam wieder den Deich hinab. Leicht fröstelnd fährt er in der Abenddämmerung die Wiesen entlang. Ein leichter Nebel legt sich über das flache ruche Land. Bald ist der Sommer vorbei und die Einheimischen werden wieder unter sich sein.
Bei Pharisäer und Tote Tante mit Rum wird man den Herbststürmen trotzen und manch einer wird hier oben auf dem Deich stehen und dem Blanken Hans entgegensehen.
Peters Ziel ist nach wenigen Minuten erreicht. Sein Weg führte ihn wie immer an den saftigen Kuhweiden entlang. Hier im Koog wachsen keine Bäume mehr. Das Land ist flach und nur wenige an das raue Klima angepasste Pflanzen können hier gedeihen. Er stellt sein Fahrrad an den Zaun und öffnet die kleine Eisentür, die sich sofort wieder selbsttätig schließt, damit die Schafe nicht entweichen können. Dann steigt er die Treppe zum Deich hinauf. Die von einem ortsansässigen Ehepaar gestiftete Bank auf der Deichkrone ist frei und der Blick über die Bucht nach Süderhafen entschädigt ihn kurzzeitig für alle Sorgen. Ein dickes Schaf mit einem grünen Fleck auf dem Hinterteil weidet genüsslich neben ihm. Das Grün stammt von einem Farbbeutel, den der Schafbock unter dem Bauch trägt. Auf dem Hintern eines Schafes zeigt der Fleck an, dass dieses vom Bock bestiegen und besamt worden ist.
Peter schmunzelt über den Trick, wie die Schafbauern ihre Tiere markieren. Möwengeschrei vermischt sich mit dem Blöken der Schafe und den Geräuschen der Kühe, die hinter dem Deich auf den Weiden stehen. Vor ihm naht langsam die Flut und verschlingt das offene Vorland mit den Lahnungen. Links hinter ihm erhellen die Lichter der viel beschriebenen grauen Stadt am Meer den Himmel. Windräder wirbeln durch die Luft. Ihre roten Lichter blinken im Gleichtakt. Peter schaut wieder auf das wellenschlagende blaue Meer vor ihm. Die Hafeneinfahrt der Stadt wird durch ein rotes Leitfeuer angekündigt. Sein Blick wandert langsam über die kleine Bucht. In Schobüll, ein paar hundert Meter weiter endet der Deich, auf dem er gerade sitzt. Ein kleines Stück der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste bleibt ungeschützt. Hier ragt der Geestrücken bis ans Meer, um dann in die Salzwiesen überzugehen. Peter sieht die Scheinwerfer vieler Autos, die über den Damm nach Nordstrand fahren. ‚Ich wohne an einem Ort, an dem andere Leute Urlaub machen! ‘ Er lächelt über seinen Einfall, doch dann muss er wieder an seinen Sohn denken.
Marcus wollte sich stellen und die vier Monate absitzen. Aber daraus wurde nichts. Der junge Mann hat anscheinend Angst, dass seine Freundin Andrea ihn verlässt, wenn er im Gefängnis bleiben muss. Und eine Therapie will er nicht machen. Da ist er genauso stur wie sein Vater Thorsten.
Peter und Thorsten heirateten 1980. Damals war Peter biologisch noch eine Frau. Er wurde als Mädchen geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre auf der Nordseeinsel Sylt. Bereits im zarten Alter von drei Jahren bat er die Mutter, ihn doch in Zukunft „Peter “ zu nennen. Er wäre eigentlich ein kleiner Junge. Die Mutter lachte und spielte das „Spiel“ mit. Peters Puppen führten ein einsames Leben in der Ecke. Sie wurden so gut wie nie bespielt. Sein ganzer Stolz war der Fuhrpark, welcher aus unzähligen Plastikautos und Schiffen bestand. Im Laufe der Zeit konnte er auch noch eine kleine Eisenbahn, die es damals in den sechziger Jahren noch zum Aufziehen gab, sein eigen nennen. Der ältere Bruder fuhr bereits zur See, als Peter zusammen mit seiner Mutter um die Südspitze in Hörnum wanderte, um dem Vater, einem Zollbeamten, Kaffee und Brote zu bringen. Vom Bruder hatte der kleine „Junge“ ein Spielzeuggewehr und ein wunderschönes selbstgebasteltes Segelflugzeug „geerbt“. Er baute sich unzählige Schiffe in den Sand und saß als stolzer Kapitän dar innen. Anfangs war er trotzdem noch sehr unglücklich, denn seine Mutter hatte ihm die Haare wachsen lassen und Peter musste lange Zöpfe tragen. Eine Tante strickte ihm Kleidchen und da half kein Bitten und Flehen. Wie gern hätte er doch wie die anderen Jungen im Dorf Hosen besessen! In der Schule kam er sehr gut mit und im Sportunterricht konnte er stets schneller laufen als die Mädchen. Die Jungen in der Klasse hatten ihn als einen der ihren akzeptiert. Peter tobte wild mit ihnen umher und manch einer seiner Schulkameraden konnte ein „Lied“ von Peters Rauflust singen. Seine „Kopfnoten“ im Zeugnis waren dementsprechend schlecht. Gleich zu Beginn des zweiten Schuljahres wurde er krank. Seine Beine schmerzten und die Ärzte schickten ihn weit weg von zuhause nach Hamburg ins Krankenhaus. Nachdem er dort zweimal an den Beinen operiert werden musste, durfte er im Sommer wieder heim. Die Mutter hatte ihm die Erfüllung eines Wunsches versprochen und Peter konnte sein Glück kaum fassen. Natürlich wünschte er sich einen Besuch bei „Tante Margit“. Sie war Mutters beste Freundin und die Dorf Friseuse. Peter lief nach dem Friseurbesuch stolz mit seinem Bubikopf auf die Straße. Er war nun endlich ein richtiger Junge geworden. Seine Mama hielt schluchzend die langen abgeschnittenen Zöpfe in der Hand. Und der kleine „Junge“ konnte dann sogar Hosen durchsetzen. Die Mutter hatte nämlich festgestellt, dass diese wesentlich praktischer für ihn waren als Kleider und Strumpfhosen. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag zog die Familie nach Flensburg. Der Vater wurde beruflich versetzt und auch Peter sollte die Schulart wechseln.
Er ging nun aufs Gymnasium, trug weiterhin nur kurze Haare und Hosen und fühlte sich in der reinen Mädchenklasse alles andere als wohl. In den folgenden Jahren träumte er ständig einen Tagtraum. Nach einem Busunfall hätten die Ärzte männliche Organe in seinem Bauch gefunden und müssten ihn nun zu einem Jungen „um operieren“. Die Pubertät wurde für den transsexuellen Jungen eine einzige Katastrophe. Sein Körper wehrte sich mit furchtbaren monatlichen Schmerzen gegen die biologische Rolle als Frau. Dazu kamen psychische Probleme, denn Peter hasste seinen weiblichen Körper und bemühte sich verzweifelt, mithilfe der Antibabypille, seine Blutungen zu unterdrücken. Auch die Brust hatte sich geringfügig entwickelt und er konnte im Sommer nicht mehr mit freiem Oberkörper ins Schwimmbad gehen. Er versuchte, trotz der inneren Konflikte, seine Schulaufgaben ordentlich zu bewältigen, doch irgendwie wirkte sich das Chaos in seiner Seele auch auf seine Schulleistungen aus. Die Banknachbarin wurde ihm die beste Freundin. Aber mit ihr reden konnte er nicht. Er hatte ja inzwischen die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau realisiert und traurig verstanden, dass an seiner Körperlichkeit nun einmal nichts zu ändern war. Seine Träume konzentrierten sich nur noch auf unerreichbare Wünsche. Er lebte damit in der ständigen Angst, etwas Verbotenes zu tun. Sein schlechtes Gewissen verhinderte auch, dass er sich als Jugendlicher einem Arzt anvertrauen konnte. Er bewahrte „sein Geheimnis“ tief in sich, weil er fürchtete möglicherweise bis an sein Lebensende in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Diese Vorstellung ängstigte ihn noch mehr, als die Aussicht von anderen Menschen wegen seiner obskuren Wünsche abgelehnt und verurteilt zu werden. So vergingen die Jahre. Er „verliebte“ sich pro forma in einen nicht erreichbaren Jungen aus der Schule und versuchte, ihn in seinen Träumen zu kopieren. Beziehungen zu Jungen brachten ihm nichts und natürlich konnte er auch keine Zärtlichkeiten mit der Freundin austauschen. Er erlebte sich ja nicht als lesbische Frau. Das junge Mädchen wollte natürlich auch nur Beziehungen zu Jungen und hätte das sicher gar nicht zugelassen. Niemand erfuhr etwas von Peters wahren Gefühlen. Die inneren Spannungen verhinderten dann auch den eigentlich angestrebten Schulabschluss. Peter wollte das Abitur machen und Lehrer werden. Aber der Adoleszenskonflikt war so übermächtig geworden, dass er bald ständig unter panikartigen Ängsten litt. Die anstehenden Abiturprüfungen wurden so zum Albtraum für ihn. Von Versagens Ängsten gepeinigt, verließ er das Gymnasium mit der Versetzung in die Oberprima. In den folgenden Jahren bemühte er sich um seine Berufsausbildung, wurde Beamter und lebte sehr zurückgezogen. Nur mit der Mutter sprach er einmal als zwanzigjähriger über seine Wünsche. Sie gab ihm dann den Rat, ans Heiraten zu denken und Kinder zu bekommen. Wenn er sein erstes Baby im Arm hielte, würden seine dummen Gedanken ganz von selbst verschwinden.
Peter lernte Thorsten kennen. Bei dem zwölf Jahre älteren Handwerksmeister fühlte er sich geborgen und ihre Liebe zu Pferden verband die beiden. Peter zog zu Thorsten aufs Land. Sie heirateten inmitten einer großen Familie und auch Peter genoss das Leben in der dörflichen Gemeinschaft. Er versuchte, sich jungenhaft zu kleiden und zu geben, aber andererseits auch wieder sein biologisches Geschlecht zu leben. Es war ein Spagat, der ihm viel Kraft abforderte. Nach zwei Ehejahren wollte das junge Paar Eltern werden. Peter wünschte sich sehnsüchtig ein Kind, allerdings raubte ihm die Angst vor dem Geburtsschmerz gleichzeitig den Verstand. Trotzdem bemühten sich die beiden um Nachwuchs. Als dieser auf sich warten ließ, leiteten sie ärztliche Untersuchungen ein und fanden bald heraus, dass es sowohl bei Thorsten als auch bei Peter Probleme mit der Realisation ihres Kinderwunsches geben würde. Peter wollte Thorsten keine Operation zumuten, die möglicherweise nicht einmal erfolgversprechend sein könnte. Auch alle anderen Versuche, mithilfe eines Arztes schwanger zu werden, scheiterten. So beschloss das junge Ehepaar, ein Kind zu adoptieren.
Nachdem sie die notwendigen Anträge gestellt hatten, hieß es abwarten. Sie gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und versorgten am Abend ihr gemeinsames großes Haus. Auch ein eigenes Pferd hatten sie sich angeschafft. Wirtschaftlich ging es ihnen gut und Peter wurde durch das abwechslungsreiche Leben von seinen Problemen abgelenkt.
Im Sommer 1983 war es dann endlich soweit. Thorsten und Peter hatten an einem Seminar für angehende Adoptiveltern teilgenommen und eines Tages erreichte Peter am Arbeitsplatz der langersehnte Anruf von der Adoptionsvermittlungsstelle. Ein kleiner vier jähriger Junge suchte ein Zuhause. Peter war überglücklich. Gemeinsam fuhren sie ins Kinderkurheim an die Nordsee und trafen dort zum ersten Mal ihren kleinen Sohn Marcus. Schnell wurden die erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Das Kinder Kinderzimmer musste hergerichtet werden und Peter ließ sich von seinem Arbeitgeber beurlauben. Ein paar Tage später kamen sie noch einmal in das Kurheim.
Marcus war sehr traurig. Es handelte sich ja um ein Heim, in das Kinder aller Altersgruppen aus ganz Deutschland für eine begrenzte Zeit aufgenommen wurden. Wenn die anderen Kinder wieder ihre Koffer packten und nach Hause fahren durften, musste Marcus dort bleiben. Seine Augen strahlten vor Freude, als Peter und Thorsten auch ihn endlich abholten. Schnell waren seine wenigen Habseligkeiten in den mitgebrachten Koffer gesteckt und auch sein Teddy und das schöne Fährschiff, welches er von Peter als Willkommensgeschenk erhalten hatte, waren rasch in einer Plastiktüte verstaut worden. Am Strand legte die Erzieherin Marcus’ kleine Hand in die Peters. Von einem Gefühl tiefster Liebe überwältigt, liefen Peter Tränen übers Gesicht und er wusste, er würde diese kleine Hand nie wieder los lassen, was immer auch das Leben noch mit ihnen vor hätte. Marcus fasste schnell Vertrauen zu Peter, der ihn liebevoll umsorgte. Als erstes wurde er dem Hausarzt vorgestellt. Eine richtige ärztliche Versorgung fehlte dem kleinen Jungen ebenso wie Liebe und Geborgenheit. Seine sprachlichen Fähigkeiten waren nicht ausreichend entwickelt. Er erhielt deshalb sofort logopädischen Unterricht und wurde dann auch gegen die wichtigsten Kinder Krankheiten geimpft. Der kleine Bursche war ein lebhaftes Kind, das neugierig mit großen Augen seine Umgebung erkundete, aber er hatte sich natürlich nicht altersgemäß entwickelt. Seine Feinmotorik war ebenfalls schlecht ausgeprägt, was dazu führte, dass er nicht nur sehr leicht hinfiel und dabei buchstäblich über die eigenen kleinen Beine stolperte, sondern auch mit den Händen sehr hart zupackte, dann aber die Gegenstände plötzlich und unvermittelt wieder losließ. Sehr deutlich wurde das Dilemma, wenn er im Hühnerstall beim Eiersammeln helfen durfte. Peter musste ihm dann sanft die Eier aus der Hand nehmen, wollte er sie für die Küche retten. Es gab für den vierjährigen so viel Neues und Unbekanntes zu entdecken. Zu Weihnachten wünschte er sich einen Bauernhof und als er den Weihnachtsmann auf dem Parkplatz des Kaufhauses traf, in dem Thorsten arbeitete, da zupfte er dem Mann im roten Mantel und weißem Rauschebart am Ärmel, sah ihn bittend und flehend an und fragte immer wieder, ob er ihm auch den erhofften Bauernhof bringen würde. Natürlich konnte er am Heiligen Abend einen großen Hof mit Kühen, Schweinen und Pferden sein eigen nennen. Der Weihnachtsmann hatte noch eins draufgelegt und einen schönen Trecker mitgeliefert. Marcus fühlte sich nun als stolzer Landwirt und spielte stundenlang mit seinem Hof. In der Familie hatten ihn alle auf Anhieb sehr lieb gewonnen. Da zwei Brüder Thorstens ebenfalls „richtige“ Landwirte waren, kam Marcus dort regelmäßig gerne zu Besuch. Er durfte Trecker fahren und beim Füttern helfen. Als Peter und Thorsten dann ihm zu Ehren die ganze Familie zum „Kindskiek“ einluden, war die Freude groß. Ein grüner Traktor zum „selber treten“ stand fortan vor dem Haus. Marcus ging natürlich keinen Meter mehr zu Fuß, sondern begleitete die Mutter beim einkaufen auf dem eigenen Trecker.
Mit den Erwachsenen, die auf seine Bedürfnisse eingingen, kam er gut zurecht. Die gleichaltrigen Nachbarskinder begrüßten den Neuankömmling zwar sofort vorbehaltlos, doch das gemeinsame Spiel endete dann allerdings nicht selten in Streit und Rauferei. Marcus hatte Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Kindern. Im Kurheim war er stets der Kleinste gewesen. Durch die kurze Verweilzeit der Kinder dort, konnte er keine festen Beziehungen aufbauen. In der leiblichen Familie war er der Gewalt des Großvaters ausgesetzt und das Jugendamt sah es als notwendig an, ihn aus dieser Familie herauszunehmen. So hatte er das normale Spielen mit Gleichaltrigen nie gelernt.
Auf Anraten des Hausarztes sollte er dann schon im kommenden Frühjahr den Kindergarten besuchen und erst zwei Jahre später als siebenjähriger eingeschult werden. Nun konnte er sich noch einige Monate an sein neues zuhause gewöhnen, bevor er im Kindergarten erneut unbekanntes Terrain kennen lernen würde. Peter hatte vor einiger Zeit auf dem Jahrmarkt einen großen Teddybären gewonnen. Das Kuscheltier war fast so groß wie Marcus selbst und wurde sein ständiger Begleiter. Eines Morgens kamen die beiden ins elterliche Schlafzimmer. Marcus erklärte, der Teddy wolle mal zu den Eltern und im nächsten Moment tobte die ganze Familie im Ehebett. Der Bann war gebrochen. Sie waren nun wirklich eine kleine Familie geworden. Marcus entwickelte sich langsam zu einem fröhlichen kleinen Lausejungen. Nachts schlief er noch sehr unruhig und schrie oft auf. Er erwachte nie in der Lage, in die er abends ins Bett gelegt wurde. Für das Zubettgehen hatte sich Peter ein Ritual ausgedacht. Nachdem die Zähne geputzt waren, kuschelte sich Marcus mit seinem Teddy unter die Decke und Peter erzählte oder las Gute Nacht Geschichten vor. Ein Buch hatte es ihm besonders angetan. Es handelte von einer Szene aus dem Dschungel. Marcus gab der Hauptfigur kurzerhand seinen eigenen Namen und erlebte fortan selbst die Abenteuer mit Bär, Panther und Tiger. Häufig folgte die Familie den Einladungen des Jugendamtes zu Veranstaltungen für Adoptiveltern.
Auch die Dame von der Adoptionsvermittlungsstelle kam regelmäßig zu Besuch, um sich ein Bild von der Entwicklung ihres Schützlings zu machen.
Durch seinen ungestümen Bewegungsdrang erlitt Marcus beim Spielen einen Unfall und brach sich den Arm. Das Krankenhaus, in dem er behandelt werden musste, war nicht auf Kinder eingerichtet gewesen. Trotzdem durfte Peter nicht die Nacht bei seinem kleinen Sohn verbringen. Am nächsten Morgen war der inzwischen fünfjährige Junge völlig verängstigt weggelaufen und Peter konnte ihn noch in letzter Sekunde kurz vor dem Betreten der Hauptstraße abfangen. Peter und Thorsten waren außer sich, dass die Schwestern im Krankenhaus nicht besser auf ihren Sohn aufgepasst hatten und nahmen ihn sofort mit nach Hause. Für Marcus war dies der endgültige Beweis, dass er nun auch wirklich ‚richtige‘ Eltern hatte. Dann wurde es Frühjahr. Er kam in den Kindergarten und musste dort sehr mühsam lernen, sich in die Kindergruppen einzufügen. Er suchte ständig die Nähe der Betreuerinnen. Bei ihnen fühlte er sich sicher und verstanden. An den Elternabenden saß Peter oft etwas zerknirscht in der Runde, wenn die anderen Mütter von Marcus‘ Missetaten erzählten.
Als Marcus sechs Jahre alt geworden war, tat Thorsten das in seinen Augen einzig Vernünftige. Er meldete seinen lebhaften Sohn im örtlichen Fußballverein an. Der kleine Junge wurde Torwart aus Leidenschaft und spielte dort bis zur A-Jugend. Als C-Jugendspieler durfte er sogar einmal für die Auswahlmannschaft das Tor hüten. Die Schule bereitete ihm nach anfänglicher Begeisterung ziemliche Kopfschmerzen und Peter, welcher zeitweilig mehr Schularbeiten machte als sein Sohn, schlaflose Nächte. Marcus litt unter Konzentrationsschwierigkeiten und dachte mit Grausen an jede Mathematikarbeit. Das Lesen und Schreiben hatte er ansonsten sehr gut gelernt und seine Aufsätze im Deutschunterricht konnten sich sehen lassen. Auch die Beziehung zu den Nachbarskindern besserte sich mit zunehmendem Alter. Aber er blieb ein sehr quirliger Junge, der kaum eine Sekunde richtig still sitzen konnte.
Zusammen mit den Eltern unternahm er viele schöne Urlaubsreisen. Meist zog es die drei in die Berge. Im Harz und in Österreich sausten Thorsten, Marcus und Peter die Sommerrodelbahnen hinunter und krönten ihre „Bergsteiger Karriere“ dann mit dem Besuch der Zugspitze. In Bayern erhielt er ein besonderes Gastgeschenk der Vermieterin. Es war eine als kuscheliger Teddybär hergestellte Handpuppe, welche auf den Namen ‚Mecki‘ hörte und nun ebenfalls einen festen Platz in Marcus‘ Bett bekam. Natürlich nahm er zuhause auch am Kinderfasching des Sportvereins teil. Hinsichtlich der Kostümierung gab es keinerlei Probleme. Er verkleidete sich jedes Jahr erneut als Cowboy. Mehrmals wurde er an den Schulkinderfesten König in seiner Jahrgangsklasse und bescherte Peter damit regelmäßig die Aufgabe, im nächsten Jahr im Vorstand mit zu helfen. Zu seinem elften Geburtstag wuchs die kleine Familie dann um ein weiteres Mitglied an. Marcus wurde, nachdem Peter in Gedanken einen Putz Plan für die Wohnung entwickelt hatte, endlich stolzer Hundebesitzer.
Ein kleiner Dackelwelpe zog nun auch noch in das Zweifamilienhaus ein, in dessen Dachgeschosswohnung einige Jahre zuvor schon Peters Eltern eine neue Heimat gefunden hatten. ‚Purzel‘ stellte das Leben der Familie erst einmal gründlich auf den Kopf. Marcus und sein Hündchen wurden die besten Freunde und Peter musste ständig kopfschüttelnd darauf achten, dass der Hund nicht zusammen mit seinem jungen Herrchen die Nacht in dessen Bett verbrachte. Der kleine Kerl machte ansonsten nichts als Unfug. Er nahm die Blumenbank auf dem Flur auseinander und kaum eine Toilettenpapierrolle überlebte die Neugier und Abenteuerlust des putzigen Welpen.
Marcus hatte im Laufe der Jahre drei Operationen überstehen müssen. Im Alter von fünf Jahren wurden ihm Nasenpolypen entfernt und gleich darauf folgten die Mandeln.
Während des Eingriffs wurde ein Gehörschaden am rechten Ohr festgestellt, so dass sich eine sehr schwere Ohroperation anschloss. Zeitgleich wurde auch Thorsten krank. Ein Bandscheibenvorfall musste ebenfalls operativ behandelt werden. Peter hatte wieder angefangen halbtags zu arbeiten und war mit Haushalt, Beruf und der Sorge um Marcus und Thorsten in den nächsten Jahren sehr gefordert. So stellten sich auch bei ihm rasch Erschöpfungszustände ein. Als seine Mutter kurz vor Weihnachten zu allem Überfluss auch noch an Krebs erkrankte, fühlte sich Peter geschwächt und nieder geschlagen. Er litt unter starken Rückenschmerzen und bekam schwere Depressionen.
Sein Hausarzt wies ihn zur Diagnostizierung ins Krankenhaus ein. Peter dachte wieder an seine ‚komischen‘ Gefühle. In der Ostsee Klinik konnte er sich endlich einer Oberärztin anvertrauen. Es war das erste Mal, dass er mit einem Arzt über sein Problem gesprochen hatte. Die Ärztin gab ihm die Telefonnummer einer Psychotherapeutin, die sich mit dem Thema Transsexualität auskannte. Sie wünschte ihm viel Kraft, sollte sich die Diagnose bestätigen. Im November 1992 begann Peter eine psychotherapeutische Behandlung. Er war überglücklich endlich ernst genommen zu werden, hatte er doch all die Jahre befürchtet, mit seiner bizarren Geschichte irgendwann einmal in der Psychiatrie zu landen. Die Therapeutin hörte ihm aufmerksam zu und gab seiner Störung einen Namen.
Peter war Frau zu Mann Transsexuell. Es handelt sich dabei um eine besondere Art von Geschlechtsidentitätsstörung. Peters Gefühl, er hätte eigentlich als Junge zur Welt kommen müssen, erwies sich als zutreffend. Sein Körper war zwar weiblich, doch Körper und Seele stimmten nicht überein. Wie die Störung tatsächlich entsteht, ist bis heute ungeklärt. Eventuell sind hormonelle Störungen der Mutter während der Schwangerschaft dafür mitverantwortlich, aber auch psychosoziale Konflikte und das soziale Umfeld sowie das frühkindliche Selbsterleben spielen eine Rolle. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen, fuhr Peter nach Hause. Für ihn stellte sich erst einmal die Frage, wie er Thorsten die Problematik erklären sollte. Der Partner ist natürlich die wichtigste Person, wenn es darum geht, einen Weg zu finden, um mit der Störung zu leben. Peter wollte keine Veränderungen herbei führen und sein Lebensumfeld behalten. Alles sollte möglichst so bleiben, wie es war. An eine mögliche Trennung von Thorsten zu denken, kam ihm deshalb gar nicht in den Sinn. Was würde dann auch aus Marcus? Sie waren Eltern und würden das auch für den Rest ihres Lebens bleiben, egal was passierte. Peter dachte daher an Cross Dressing, was er ohnehin schon tat. Damit ist das bewusste Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts gemeint. Für eine biologische Frau stellt das heute gesellschaftlich natürlich kein Problem mehr dar und Peter bevorzugte ohnehin schon Hosen, weil er sich in Hemd und Hose einfach wohler fühlte. Vielleicht würden sie zusammen einen jungenhaft klingenden Spitznamen für ihn erfinden, damit er sich etwas männlicher fühlen könnte.
Eine gering dosierte Hormonbehandlung mit Testosteron Präparaten und ein Mittel, welches die Regel ausbleiben ließ, kämen medizinisch ebenfalls in Frage.
Peter litt jeden Monat unter furchtbaren Schmerzen, denen mit normalen Schmerzmitteln nicht bei zu kommen war. Er hätte sich auch gerne die weiblichen inneren Organe entfernen lassen. Sie bekamen keine eigenen Kinder und Marcus hatten sie inzwischen rechtmäßig adoptieren können. Peter suchte selbst nach Lösungen für sein Problem und war guter Dinge, zusammen mit Thorsten einen unkomplizierten Weg zu finden, um mit der Störung umgehen zu können. Trotzdem machte er sich Gedanken darüber, wie Thorsten wohl reagieren würde. Er konnte ihm die Therapieinhalte ja nicht ewig vorenthalten. So sprach er mit seiner Ärztin, die ihm riet, Thorsten in einem ruhigen Gespräch alles zu erzählen und ihm vor allem auch seine eigenen verschiedenen Lösungswege zu unterbreiten. Thorsten solle sich keine Sorgen machen.
Auch wenn eine operative und hormonelle Geschlechtsangleichung immer noch die normale Behandlungspraxis bei zumindest genuiner, also echter Transsexualität wie bei Peter, darstellte, gäbe es unzählige andere Möglichkeiten den richtigen Weg für sich selbst zu finden. Peters Ideenreichtum kannte keine Grenzen und das Wesentliche hatte er ja schon für sich entdeckt.
Dann kam es zur Katastrophe. Ob Torsten Peters zum Teil holprige und unbeholfene Erläuterungen missverstanden hatte oder nur Angst vor einer Gleichgeschlechtlichen Beziehung bekam, die zu dem damaligen Zeitpunkt gar nicht zur Debatte stand, wurde auch später nie geklärt. Thorsten meinte lediglich, wenn Peter künftig als Mann leben wolle, müssen sie sich trennen und stand nach dem Gespräch wortlos vom Tisch auf.
Peter saß verzweifelt und völlig fassungslos daneben und starrte ins Leere. Von Trennung war nie die Rede gewesen. Er wollte doch Kompromisse suchen, Lösungen finden, die es ihm ermöglichen würden, ohne Operationen und geschlechtsspezifische Veränderungen in seinem Körper weiter zu leben. Er fühlte sich elend, allein gelassen und war nicht mehr fähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht hätte er Thorsten gar nichts sagen sollen. Er hätte sich ein anderes Outfit zugelegt, zusammen mit seiner Frauenärztin ein Medikament gefunden, welches die Regelblutung unterdrückt und zusätzlich schwach dosierte Testosteron Präparate eingenommen. Die Entfernung der Gebärmutter wäre mit seiner Endometriose begründet worden. Peter litt seit jeher unter dieser Erkrankung, die auch Unfruchtbarkeit zur Folge hat und sehr häufig bei Frauen auftritt.
Vom Tag seines häuslichen „Comingouts“ an, war nichts mehr so wie früher. Die Beziehung zu Thorsten wurde im Laufe der nächsten Wochen und Monate immer schlechter. Sie konnten nicht über die Problematik reden. Schwer depressiv erzählte Peter seiner Psychologin von der Absicht, aus dem Leben scheiden zu wollen. Die erfahrene Ärztin hatte die Veränderung ihres Patienten bereits bemerkt und reagierte entsprechend. Sie meinte ganz trocken, sie würde zu ihren Suizid gefährdeten Patienten immer sagen; „Lassen Sie uns doch erst einmal reden, umbringen können Sie sich dann ja immer noch!“ Die Worte kamen so flüssig, dass Peter unwillkürlich anfing, zu schmunzeln. Natürlich war eine solche Reaktion beabsichtigt gewesen und als er dann im nächsten Augenblick unter Tränen erklärte, dass er doch für seinen kleinen Sohn leben müsse, bestätigte sie ihn einfach. So wurden die Selbstmordpläne vorerst verschoben.
Peter erholte sich kurzzeitig, als ihm seine Frauenärztin die ersten gegengeschlechtlichen Hormone verabreichte. Er blühte plötzlich auf, war fröhlich und ausgeglichen und konnte vor allem auch seinem Beruf wieder nach gehen. Die schmerzhaften Blutungen blieben ebenfalls aus. Doch gleichzeitig senkte sich, als Nebenwirkung des Testosteron Präparats, auch seine Stimme um ein paar Nuancen. Für Thorsten war das Grund genug, Peter vor die Wahl zu stellen. Entweder er hört sofort mit der Hormoneinnahme auf oder es müsse unabänderlich zur Trennung kommen. Der Konflikt zwischen den Ehepartnern spitzte sich derartig zu, dass Peter von seinem Hausarzt in eine nahe gelegene psychosomatische Klinik ein gewiesen werden musste.
Die Hoffnung, von dort Hilfe zu erhalten, erfüllte sich jedoch nicht. Traurig musste er realisieren, das er sich nicht in die Gruppengespräche einbringen durfte. Der behandelnde Arzt meinte, die anderen Patienten würden seine bizarre Geschichte nicht verstehen und er hätte nur noch Einzelgespräche. Im Übrigen wären Transsexuelle, Menschen aus der Halbwelt und dazu wolle Peter als Beamtin doch sicher nicht gehören. Peter war verzweifelt. Er hämmerte in der Turnhalle stundenlang Bälle mit einem Tennisschläger an die Wand. Dann hielt er die Isolation nicht mehr aus. Am Abend erzählte er seinen Mitpatienten unter Tränen, was ihn bedrückte. Die Reaktion war überwältigend. Niemand reagierte schockiert. Die meisten hatten schon von Transsexualität gehört und fanden überhaupt nichts dabei. Er wurde erst einmal in die Arme genommen und konnte sich richtig ausheulen.
Während des Klinikaufenthaltes setzte er dann seinen ersten Besuch in einer Hamburger Selbsthilfegruppe durch. Auch hier fühlte er sich gut aufgehoben und verstanden. Er freundete sich mit einem jungen Mann an, der wie er selbst, Patient bei seiner Psychotherapeutin war. Die beiden wurden sehr enge Freunde und haben noch heute Kontakt. Auf der Heimfahrt beschloss Peter, den Klinikaufenthalt zu beenden. Er erzählte dem Arzt, was dieser hören wollte und wurde als geheilt entlassen. Peter und Thorsten wurde eine Familientherapie empfohlen. Doch auch diese Gespräche liefen ins Leere. Zusammen mit Thorsten fuhr er dann zu einem anderen Arzt, welcher an der Universitätsklink praktizierte.
Und wieder musste Peter enttäuscht feststellen, dass man ihm nicht zu hörte und vor allem auch nicht auf die familiären Probleme einging. Der Arzt, der für seine Fachkompetenz auf dem Gebiet der Transsexualität bekannt war, setzte noch eines drauf und wies ihn erneut in die Psychiatrie ein. Peter gehorchte traurig. In der Nervenklinik angekommen, erklärte man ihm allerdings, dass in der offenen Abteilung zurzeit kein Bett frei wäre und man ihn nur auf der geschlossenen Station aufnehmen könne. In diesem Moment meldete sich Peters Selbstachtung zurück. Damit wäre genau das passiert, wovor er sein ganzes Leben Angst gehabt hatte. Er lehnte ab, erhielt aber sehr starke Beruhigungstabletten. Von der Heimfahrt bekam er dann so gut wie nichts mehr mit. Thorsten war zufrieden, dachte er doch, so eine Tablette könnte Peter wieder vernünftig werden lassen. Thorsten gab der Therapeutin die Schuld an Peters Zustand. Eine Woche später begleitete er ihn zur Therapie. Mit dem einstündigen Gespräch dort, konnte er überhaupt nichts anfangen. Zu Hause kam es dann wieder Mal zum heftigen Streit. Peter wollte doch nur ernst genommen werden und mit Thorsten reden. Er war völlig verzweifelt. Es ging ihm gar nicht so sehr um Thorstens grundsätzliche ablehnende Meinung, sondern darum, dass sie kein einziges vernünftiges Wort mehr mit einander sprechen konnten. Zu allem Überfluss hatte auch Marcus gemerkt, dass irgendetwas in der Beziehung der Eltern nicht stimmte. Kinder reagieren sehr sensibel auf familiäre Stimmungen und spüren, wenn Unstimmigkeiten zwischen Vater und Mutter auftreten. Thorsten erlaubte nicht, dass Peter seinem inzwischen dreizehnjährigen Sohn von dem „Blödsinn“ erzählte. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten.
So blieb Marcus bei der Bewältigung der schwierigen Familiensituation außen vor und erhielt nur unzureichende Informationen. Peter wollte seinen Sohn in die Gespräche bei dem Familientherapeuten einbeziehen, so dass auch er Bescheid wissen sollte und fortan in alle Entscheidungen der Eltern involviert wäre. Aber Thorsten verweigerte die Zustimmung dazu. Peter erfuhr dann zusätzlich von seinen Eltern, dass er zur NS Zeit wahrscheinlich mit einer solchen Störung in einem KZ umgekommen wäre. Natürlich hatten sie Recht, auch wenn die Erkenntnis sehr weh tat. Aber er konnte seine Gefühle nicht ungeschehen machen. Sie waren nun einmal da und er musste einen Weg finden, um mit ihnen umzugehen. Er fühlte sich von den eigenen tiefen Wahrheiten und den Ansprüchen und Wünschen seiner Familie förmlich zerrissen. Eine Arbeitskollegin vermietete ihm für einen Monat ihre kleine Ferienwohnung. Peter versuchte nach dreizehn Jahren zum ersten mal, wieder alleine zu leben.
Doch es stellten sich erneut schwere Depressionen ein. Er hatte sich den Arbeitskollegen gegenüber geoutet. Sie reagierten auch nett und freundlich, meinten aber, mit einer derartigen Problematik müsse man in einer Großstadt leben, in deren Anonymität man nicht auffalle. Peter fühlte sich nur in den Therapiesitzungen wohl. Aber die Ärztin arbeitete in der Landeshauptstadt und er war nicht einmal in der Lage, in der etwas größeren Kreisstadt zu leben. Wie sollte er da ohne Hilfe und ohne Familie in einer Großstadt zurechtkommen? Er bekam plötzlich immer mehr das Gefühl, fremdgesteuert zu werden. Eine Stimme in seinem Kopf erzählte ihm die nächsten Schritte, die er tun müsse. Mit Thorsten konnte er überhaupt nicht mehr sprechen und auch seine Eltern zeigten sich sehr besorgt und traurig. Sie wohnten im Dachgeschoß ihres Hauses und überlegten bereits, auszuziehen.
Peter wäre an all dem schuld gewesen und das ließ man ihn auch spüren. Er fuhr allein in die große Stadt und fand dort eine kleine möblierte Wohnung. Sein Arbeitgeber gab grünes Licht und versetzte ihn. Natürlich wurden die neuen Kollegen eingeweiht.
Dann kam der furchtbare Moment, als er das Nötigste von seinen Sachen einpackte. Thorsten und Marcus saßen weinend im Schlafzimmer und Peter weinte mit ihnen. Am nächsten Morgen verließ er das kleine Dorf. Er hatte seinen Jahresurlaub für den Umzug genommen. In den folgenden Wochen begann er, sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Anfangs klappte es auch mit dem neuen Arbeitsplatz sehr gut. Peter absolvierte nun seinen Alltagstest. Er sollte ohne operiert zu sein, in männlicher Rolle leben, wurde mit „Herr“ angesprochen und lebte wie ein Mann. Es fiel ihm nicht schwer. Er meldete sich im Fitnessstudio an und zog sich im Männerumkleideraum um. Irgendwann duschte er auch dort. Stück für Stück wurde er in seiner neuen Rolle selbstsicher. Er freute sich, wenn er mit dem Fährschiff den Hafen überqueren konnte, bekam eine Eintrittskarte für die Handballmeisterschaft und nahm interessiert am öffentlichen Leben teil. In der Stadt gab es eine neu gegründete Selbsthilfegruppe für Transsexuelle, welche hauptsächlich aus Studenten bestand. Auch Peter und sein Freund trafen sich dort. Zusammen fuhren sie nach Frankfurt zur Transidentitas. Dabei handelt es sich um eine Fachtagung für transsexuell geprägte Menschen und ihre Angehörigen. Peter war von den vielen Eindrücken überwältigt und lernte dort auch seinen späteren Operateur kennen. Aber vorher musste er sich zuhause der Begutachtung zweier unabhängig voneinander untersuchender Ärzte stellen. Erst wenn die Diagnose in zwei Gutachten feststeht, ergeht der offizielle Beschluss des Amtsgerichts zur Vornamensänderung. Hat sich der oder die Betreffende dann auch einem operativen Eingriff unterzogen, kann danach der Personenstand geändert werden.
Einer der Gutachter war schon etwas älter und als Psychiater lange Zeit in der Nervenklinik beschäftigt gewesen. Er verfügte über eine weitreichende Berufserfahrung, besprach mit Peter dessen Lebenslauf und kam sehr schnell zur Diagnose. Als zweiten Gutachter musste sich Peter mit dem Arzt auseinander setzen, der ihn bei seinem Besuch mit Thorsten gleich in die Psychiatrie einweisen wollte. Obwohl dieser als Koryphäe auf dem Gebiet der Transsexualität galt, kamen die Gespräche nur sehr schleppend in Gang. Peter konnte zu dem Mann kein Vertrauen fassen. Später erfuhr er in seiner Selbsthilfegruppe, dass auch die anderen Freunde ähnliche Probleme hatten. Der Arzt merkte dann auch selbst, dass er und Peter nicht zusammenpassten und bat einen Kollegen um Unterstützung. Die von Peters Psychotherapeutin gestellte Diagnose wurde nach einem Jahr von beiden Gutachtern bestätigt.
Zwischenzeitlich erhielt Peter die Kündigung seiner privaten Krankenversicherung, die sich vor der Zahlungsverpflichtung für die geschlechtsangleichende Behandlung drücken wollte. Als Beamter wurde Peter in keine gesetzliche Krankenkasse aufgenommen und die Chance mit seiner Problematik eine neue private Versicherung zu finden, ging gegen Null.
Er musste ohne ausreichenden Versicherungsschutz auskommen. Nachdem er sich seinem Vorgesetzten anvertrauen konnte und ein Rechtsanwalt eingeschaltet wurde, gelang es mithilfe eines Kollegen, nach einigen zähen Verhandlungen, die Kündigung wieder rückgängig zu machen. Peters Einkommen im Mittleren Dienst hätte niemals ausgereicht, um seine gesamten Krankheitskosten abzudecken.
Thorsten rief ihn häufig an und Peter fühlte schmerzlich, wie sehr er ihn vermisste.
Er fuhr an den Wochenenden nachhause und versuchte, das Familienleben einigermaßen aufrechtzuerhalten. Aber er geriet immer wieder mit Thorsten in Streit. Anfangs schlief er noch im gemeinsamen Schlafzimmer. Thorsten war ins Nachbarzimmer gezogen. Nachdem er von Peters Problematik erfahren hatte, stellte er alle Zärtlichkeiten ein. Das geschah merkwürdiger weise bereits zu einem Zeitpunkt als bei Peter noch gar keine sichtbaren Veränderungen erkennbar waren. Wenn sie doch nur miteinander hätten reden können! Auch für Marcus wäre die wöchentliche Trennung von Peter aus beruflichen Gründen nachvollziehbar gewesen. Am Wochenende wären sie dann immer zusammen gekommen. Peter bedrängte Thorsten nicht zu einer Männerbeziehung. Natürlich fühlte sich Thorsten Heterosexuell und auch Peter entdeckte langsam seine eigenen Neigungen, die er sich ja Zeit Lebens selbst verboten hatte. Das schlimmste war der ständige Streit wegen Nichtigkeiten. Hätten sie einen Weg gefunden, freundlich und friedlich mit einander umzugehen, wäre es sicher auch für Marcus sehr viel leichter geworden. Die Landeshauptstadt bot genug Abwechslung und sie hätten dort während der Freizeit zusammen mit Marcus viel unternehmen können, ohne aufzufallen. Auch ein späterer Umzug in die Kreisstadt und somit in die Nähe zu Marcus und Thorsten wäre sicher möglich gewesen. Thorsten aber konnte sich mit der Situation nicht arrangieren. Er sagte, er würde Peter niemals als Mann anerkennen und sprach ihn auch nie mit dem neuen Vornamen an. So war es für Peter auch schwierig, eine Regelung mit Marcus zu finden. Solange der Junge noch bei Thorsten lebte, konnte er keine vernünftige, der Realität angepasste Beziehung zu Peter aufbauen. Eigentlich war es für Marcus sogar unmöglich, sich überhaupt mit der Realität auseinander zu setzen. Thorsten erklärte, die Nachbarn würden sie mobben und er könne nirgendwo mehr hingehen. Auch Marcus würde in der Schule gehänselt werden. Peters Eltern bestätigten einige Aussagen, obgleich Peter sich eine solche negative Reaktion in seinem Dorf gar nicht vorstellen konnte. Er selbst sprach mit den Nachbarn, so als wenn nichts geschehen wäre. Marcus war noch zu jung, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Peter hatte sich überlegt, ob es nicht besser wäre, seinen Sohn zu sich zu holen. Es gab auf dem Nachbargrundstück sogar eine Gesamtschule, so dass er schulisch auf jeden Fall besser gestellt gewesen wäre, als auf der Hauptschule zuhause. Doch Peter fühlte sich in seinem derzeitigen Zustand der Verantwortung für einen pubertierenden jungen Mann nicht gewachsen und wollte Marcus deshalb nicht aus dessen gewohntem Umfeld herausreißen. So bemühte er sich weiterhin um ein friedliches Miteinander mit Thorsten. Der „Spagat“ hatte seinen Preis und kostete ihn viel Kraft. Für den gemeinsamen Sohn wurde dadurch nichts besser.
Irgendwann zog Peter schweren Herzens an den Wochenenden zu seinen Eltern ins Dachgeschoß. Doch auch dort fand er nicht die rechte Ruhe. Starke Schuldgefühle quälten ihn. Seine Eltern wollten das Beste für alle Familienmitglieder, aber sie merkten, dass die Situation auch für sie nicht gut war. Peters Mutter erkrankte zudem an Krebs und so hatten die Eltern genug eigene Probleme zu bewältigen. Peters Schuldgefühle seinem Sohn gegenüber wuchsen ins Unermessliche. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten und entwickelte sich doch gleichzeitig selbst äußerlich zu einem jungen Mann. Thorsten schürte die Schuldgefühle, in dem er auch vor Marcus erklärte, dass sie nun keine Familie mehr wären.
Im Sommer durfte Marcus ihn in seiner kleinen Wohnung besuchen. Peter fühlte sich nicht viel älter als der fünfzehnjährige Sohn. Er erlebte im Zeitraffer erneut seine Pubertät. Die beiden unternahmen viel in diesen vier Tagen. Peter versuchte Marcus auch die Situation zu erklären und seine Psychologin half ihm dabei. Aber sie sah ebenfalls mit geübtem Blick die Probleme in Marcus‘ eigener psychischer Struktur. Peter hoffte, dass sich sein Sohn trotz aller Schwierigkeiten normal entwickeln würde und eines Tages einen Beruf ergreifen könnte. Marcus fuhr wieder nach Hause und beendete im Sommer seine Schule. Thorsten fand für ihn einen Ausbildungsplatz als Malerlehrling. Nach nur einem Jahr wollte Marcus nicht mehr. Seine Berufsschulnoten waren schlecht und er hatte keine Lust, seinen Beruf weiterhin auszuüben. Thorsten und Peter konnten ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Auch alle Gespräche mit dem Lehrherrn brachten keinen Erfolg. Als Marcus drohte straffällig zu werden, meldete sich Thorsten beim Jugendamt. Er bekam sofort Hilfe. Ein Betreuer nahm sich des Jungen an und versuchte, ihn für Lernprojekte zu begeistern. Der siebzehnjährige durfte bereits mit dem Führerschein beginnen. Peter sah dem Treiben etwas skeptisch zu. Marcus war in seiner Entwicklung noch nicht soweit, um die Verantwortung als Autofahrer tragen zu können. Aber seine Einwände wurden von Thorsten nicht ernst genommen. Es wäre Thorsten am liebsten gewesen, Peter wäre ganz aus ihrem Leben verschwunden und hätte seinen Sohn und seine Eltern nie wieder gesehen. So blieb Peter nichts anderes übrig als tatenlos zusehen zu müssen, wie Marcus immer mehr überfordert wurde und an jeder neuen Aufgabe scheiterte.
Aber anstatt umzudenken und eine neue Strategie zu entwickeln, hackten sie immer weiter auf dem armen Jungen herum. Natürlich schaffte er auch die nächste Lehre nicht und selbst ein Jahr im Jugendaufbauwerk brachte keine Besserung. Die wichtigen therapeutischen Gespräche mit ihm und den Eltern wurden auch dort nicht geführt. Nach dem Aufenthalt begann Marcus seine dritte Lehre. Er wohnte wieder bei Thorsten und hatte sogar nach vielen vergeblichen Versuchen endlich seinen Führerschein bestanden. Während einer kurzen Wochenendfreizeit lernte er ein junges Mädchen aus Dänemark kennen. Die beiden wurden für drei Jahre ein Paar und verlobten sich sogar. Marcus blühte auf. Die Freundin gab ihm nicht nur ihre Liebe sondern trug auch zur Stärkung seines angeknacksten Selbstwertgefühles bei. Peter und Thorsten unterstützten die Beziehung genauso wie die Eltern des Mädchens in Dänemark. Auch die Elternpaare lernten sich kennen und Peter wurde von den toleranten und unkomplizierten Dänen vorbehaltlos akzeptiert. Aber auch in dieser Familie kam es zur Katastrophe. Marens Eltern ließen sich ebenfalls scheiden. Anfangs gaben sich die beiden jungen Menschen gegenseitig Halt, doch bald stellte sich heraus, dass sie beide den Veränderungen, die sich bei einer Trennung der Eltern zwangsläufig einstellen, nicht gewachsen waren. Auch ihre eigene Beziehung zerbrach schließlich.
Marcus hatte zwischenzeitlich Kontakt zu seiner leiblichen Familie aufgenommen. Er sah als achtzehnjähriger erstmalig im Leben seine Mutter. Und auch hier erlebte er nur Enttäuschungen. Peter wollte ihm so gerne helfen und musste selbst zeitgleich zu Weihnachten eine weitere schwere Krebserkrankung seiner Mutter hinnehmen. Das geschah zu Weihnachten 1997. Einige Monate später starb die Mutter.
Peter konnte sich im Mai 1995 operieren lassen. Eine befreundete Anwältin hatte entsprechende höchstrichterliche Urteile erwirkt Aber auch jetzt, versuchte sich die Versicherung, mit einem Trick vor der Zahlungsverpflichtung zu drücken. Durch die vielen Probleme zermürbt, konnte sich Peter über seine Operation nicht so freuen, wie die Freunde aus der Selbsthilfegruppe. Trotzdem erfasste ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als er nach dem mehrstündigen Eingriff aufwachte und an sich heruntersah. Wie bei der deutschen Wiedervereinigung hatten sich bei ihm Körper und Seele vereint. Wieder zuhause und noch sehr geschwächt, verweigerte die Krankenversicherung, trotz bereits vorher schriftlich erteilter Kostenzusage, die Begleichung ihres Anteils an der Operationsrechnung. Peter sollte erst unterschreiben, dass er in Zukunft keine weiteren Forderungen an die Versicherung mehr stellen würde, die in Zusammenhang mit der geschlechtsangleichenden Behandlung stünden. Das schließe alle eventuell in den Folge Jahren notwendigen Korrekturoperationen und die lebenslange Hormonbehandlung mit ein. Peter hielt die Operationsrechnung in den Händen und weinte. Wenn er das gewusst hätte, wäre er niemals zur OP gefahren. Die Kosten hätte er nie selbst tragen können. Zum Glück konnte seine Anwältin helfen.
Dann wurde der Dezember 1997 für ihn erneut zum Schicksalsjahr. Erst wurde er am Nikolaustag von Thorsten geschieden. Danach musste er selbst zu seinem Operateur fahren, um eine einzige kleine Nachbehandlung durchführen zu lassen. Doch nun wollte plötzlich sein Arbeitgeber die Kosten dafür nicht übernehmen. Peter führte verängstigt und vor Schmerzen gepeinigt mehrere Telefonate und Schriftverkehr. Zwei Wochen später konnte er dann endlich ins Krankenhaus fahren.
Als er nach dem Eingriff geschwächt wieder nach Hause kam, erzählte ihm sein Vater von der nunmehr tödlichen Krebserkrankung der Mutter. Sie brauchte ihn jetzt und auch Marcus brauchte ihn im Jugendaufbauwerk. Peters Vater konnte nicht verstehen, dass er nach vierzig Jahren Ehe seine Frau verlieren sollte und Peter musste auch den verzweifelten alten Mann stützen. Dabei stieß er dann selbst bald an seine physischen und psychischen Grenzen. Zudem gestaltete sich die Beziehung zu Thorsten weiterhin als sehr unstet und Peter nahm die Herabsetzungen und Diskriminierungen seiner Person klaglos hin, wollte er doch weder seinen Eltern noch Marcus zusätzlichen Kummer bereiten. Marcus verließ das Elternhaus und brach erneut seine Lehre ab. Er hatte nun weder eine Berufsausbildung noch einen Arbeitsplatz und schlug er sich mit Gelegenheitsjobs sowie Sozialhilfe durch. Im Laufe der Jahre wurde der Antrag beim Arbeitsamt zum Alltag. Durch seine Aggressivität musste er Verurteilungen wegen Körperverletzung hinnehmen und konnte nicht immer seine Geldstrafen bezahlen. Sowohl Thorsten als auch Peter halfen immer wieder aus und „retteten“ ihn vor dem Gefängnis. Als sich die Strafen mehrten und auch keine Geldstrafen mehr verhängt wurden, musste Marcus einige Monate hinter Gitter. Sein Leben verläuft chaotisch. Natürlich hat er ein gutes Herz und alles Kriminelle liegt ihm fern. Er wird nur sehr leicht wütend und kann dann seine Gefühle nicht kontrollieren. Darunter leiden auch seine eigenen Beziehungen.
Peter wurde im Juni 1997 auf Anraten seines Vorgesetzten vorzeitig pensioniert. In den folgenden Jahren schrumpfte sein Einkommen durch die vielen Gesetzesänderungen und Einschnitte, so dass ein Betrag in Höhe des Arbeitslosengeldes II zum Leben bleibt.
Im September 2005 starb plötzlichen auch der Vater an Krebs. Nach dem Tod der Mutter, hatten die beiden ein sehr inniges Verhältnis zu einander aufgebaut. Sie wanderten stundenlang mit ihrem kleinen Dackel durch die Feldmark. Das kleine treue Tier war bereits im Herbst 2001 eingegangen. Peter hatte sich gerade in der Kreisstadt ein neues Leben aufgebaut. In einem nahe gelegenen Reitstall fand er Freunde und Pflegepferde. Gesundheitlich ging es ihm nicht immer gut. Er merkte auch, dass er älter wurde und sich alle möglichen Gebrechen vor allem im Bereich der Gelenke und der Wirbelsäule einstellten. Er versorgte seinen Vater und besuchte Bildungsveranstaltungen an der Fachhochschule. Sein BWL Gasthörer Studium machte ihm viel Freude.
Die unerwartete Erkrankung seines Vaters und dessen plötzlicher Tod warfen ihn dann wieder weit zurück. Auch nach fünf Jahren sind die Wunden noch nicht verheilt und Peter steht oft fassungslos am Elterngrab.
Er fühlt sich in diesen Augenblicken sehr allein. Der Bruder lebt in einem anderen Bundesland und Thorsten, der inzwischen sehr viele, zum Teil lebensgefährliche Operationen überstehen musste, meldet sich nur selten. Meistens geht es dann um Marcus und dessen chaotische Lebensumstände. Beide machen sich große Sorgen um den einzigen Sohn. Die Beziehung zwischen Marcus und Thorsten war lange Zeit sehr angespannt. Erst als Peter eingriff, meldete sich Marcus wieder bei seinem Vater.
Auch heute noch kämpft Peter mit Schuldgefühlen seinem Sohn gegenüber und in Krisensituationen treten auch ab und an wieder Panikzustände auf. Das Leben mit transsexueller Prägung verlangt den Betroffenen viel ab. Inzwischen haben sich allerdings die Operationsmöglichkeiten für Frau zu Mann Transsexuelle verbessert und es gibt höchstrichterliche Urteile, die die Krankenkassen zur Kostenübernahme verpflichten. In der Bevölkerung zeichnen sich Offenheit im Umgang und Bereitschaft zur Akzeptanz ab. Mit Sexualität hat die Störung eigentlich gar nichts zu tun. Es ist das tiefe und bestimmte Gefühl, nicht dem biologischen, sondern dem Gegenschlecht anzugehören und in dieser Rolle leben zu müssen. Doch gerade das macht es für die Betroffenen so schwer.
Peter ist bemüht, die trüben Gedanken hinter sich zu lassen und wieder in die Realität zurückzukehren. Eine Möwe fliegt über ihn hinweg und ihr Schrei zerreißt die Stille. Langsam erhebt er sich von der Holzbank auf der Deichkrone. Hier oben kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen. So wie sein Vater Zeit lebend von der schlesischen Heimat schwärmte, so fühlt sich Peter in Nordfriesland zu Hause. Er schaut mit einem letzten Blick auf die friedliche Nordsee hinaus und steigt langsam wieder den Deich hinab. Leicht fröstelnd fährt er in der Abenddämmerung die Wiesen entlang. Ein leichter Nebel legt sich über das flache ruche Land. Bald ist der Sommer vorbei und die Einheimischen werden wieder unter sich sein.
Bei Pharisäer und Tote Tante mit Rum wird man den Herbststürmen trotzen und manch einer wird hier oben auf dem Deich stehen und dem Blanken Hans entgegensehen.