zweifarbentag

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sufnus

Mitglied
Hey Oliver! :)
Ein politisches Lied - sehr gut! Davon haben wir auf der Lupe (und wohl auch allgemein in der deutschen Lyrik) zu wenig, nachdem die großen, engagierten Stimmen nach und nach verstummt sind. Zwar will ich nicht verschweigen, dass mir primär engagierte Lyrik, die darüber den Blickkontakt zur Sprachformung verliert, etwas fremd ist, aber als vervollständigendes Element im vielstimmigen Lyrikgeschehen ist auch diese Entität für mich essentiell.
Dein Gedicht hat allerdings durchaus nicht vor lauter Engagement die Sprachfühlung eingebüßt - das Bild des "wilden Schlafs" ist ganz stark!
Dafür würde ich hier etwas (vorsichtig kritisch) anmerken, was ich normalerweise eher als Lob begrüße und bewundere, nämlich eine gewisse Inkommensurabilität, also eine gewisse mehrdeutige Vagheit. Ich zumindest blicke ehrlich gesagt nicht ganz durch, auf welches Ereignis sich die 50 Jahre beziehen. Wie gesagt: Normalerweise mag ich es, wenn in einem Gedicht ein Rätsel unaufgelöst bleibt, aber dieser Text fühlt sich so deutlich nach einer politisch-gesellschaftlichen Aussage an, dass ich diese gerne etwas konkretisiert gesehen hätte. :)
LG!
S.

P.S.:
Ah... vielleicht ist mit den (gerundet) 50 Jahren die Zeitspanne zwischen der Pogromnacht 1938 und dem Umbruchjahr 1989 gemeint? Und der "wilde Schlaf" wäre dann die Zeit zwischen 1989 und heute?
 
S

Susanne Evers

Gast
hallo Revilo,
die Gewaltmaßnahmen gegen Juden 1938 streiften mich flüchtig.
Ein starker Text.
LG
Susanne
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich denke, dass Oliver hier den Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges 1973 meint.

Liebe Grüße
Manfred
 

revilo

Mitglied
Hallo zusammen, da hier einige Fragen aufgetaucht sind, möchte ich kurz einmal das Gedicht erklären, was uns normalerweise überhaupt nicht meine Art ist. Wie vielleicht einige aus meiner Rubrik im Tagebuch wissen, schreibe ich seit einigen Jahren Tagebuch-Gedichte, die im Titel immer das Datum, an dem ich das geschrieben und/oder an dem ich Korrekturen angebracht habe. Es ist im eigentlichen Sinne kein Tagebuch. Ich kann mich aber beim Nachlesen anhand des Datums erinnern, was zu dieser Zeit in meinem Leben los war. Ich schreibe normalerweise überhaupt keine politischen Gedichte. Dieses Gedicht habe ich am 9. November diesen Jahres geschrieben, weil mir wieder auffiel, dass auf diesen Tag zum einen die Reichspogromnacht aus dem Jahre 1938 und die Maueröffnung im Jahr 1989 fiel. Genau genommen sind es nicht wie im Gedicht dargestellt 50, sondern 51 Jahre Zeitabstand. Ich hatte das eigentlich korrigiert, aber jetzt gesehen dass das nicht funktioniert hat. Ich lasse es aber so, weil es dann authentischer ist. Wie hier richtig erkannt wurde, habe ich im 1. Teil die Reichspogromnacht beschrieben und im 2. Teil den Tag der Maueröffnung. Mit dem Begriff „wilden Schlaf“ habe ich versucht zu skizzieren, dass das Tier in Deutschland jederzeit aufwachen kann. Und das tut es im Moment ganz gewaltig. Das Tier ist wach geworden. Es heißt Antisemitismus. Das tut mir weh. Ich engagiere mich seit Jahren in einem Verein für den Erhalt und die Pflege von jüdischen Brauchtums und war jahrelang Mitglied einer Bürgerinitiative, die erfolgreich verhindert hat , dass Neonazis an einem Tag, an dem die Stadt, in der ich wohne im 2. Weltkrieg ziemlich zerstört wurde durch mein Wohnviertel marschierten. Das schreibe ich Euch jetzt nicht um mich zu tun, sondern um die Hintergründe zu erklären. Der Text kam einfach so raus; ich musste erst gar nicht lange überlegen. Ich habe nicht den Text geschrieben, sondern er mich. Es freut mich sehr, dass dieses Gedicht hier ganz offensichtlich gut ankommt. Ich bedanke mich bei allen sehr herzlich für Eure Anmerkungen!

Alles Liebe von Oliver
 
S

Susanne Evers

Gast
Hallo Oliver,
danke für die Erklärung.
Aus sehr gutem Grund sorge ich mich in hohem Maße. Es steht eben viel auf dem Spiel!!
 

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Mitglied
Sehr stark, lieber Oliver!

Der wilde Schlaf - wunderbar gewählt!
Ein gelungener Text - da sitzt jedes Wort und verleiht dem Inhalt gehörig Nachdruck. Ich bin sonst kein Freund politischer Gedichte, aber wenn sie so daherkommen, schon! Danke.

Liebe Grüße,
Claudia
 

revilo

Mitglied
Hallo Claudia, vielen Dank........ich wollte einfach meine Gedanken über den 9.11. loswerden.......

allen anderen Bewertern sei an dieser Stelle gedankt.....
 

sufnus

Mitglied
Hey Oliver,
vielen Dank für Deine inhaltliche Erläuterung des Gedichts! :)
Ich will dennoch meinen obigen Einwand nochmal wiederholen, dass sich ein Gedicht, welches einen gesellschaftlichen oder politischen Missstand bzw. eine (mögliche) ungute Entwicklung "aufs Korn nimmt", meiner Ansicht nach um ein höheres Maß an Verständlichkeit bemühen sollte, als ich das sonst in Gedichten für opportun halte.
Sprich: Bei einem "unpolitischen" Gedicht (vielleicht ist dieser Begriff blöd, weil es so etwas wie ein ganz unpolitisches Gedicht gar nicht gibt)... also vielleicht besser: Bei einem nicht-reflektierenden Gedicht ist eine inhaltliche Offenheit, ein gewisser Grad an "Unverständlichkeit" etwas sehr Begrüßenswertes. Hingegen ist m. E. ein "Rätselton" bei einem Gedicht, welches soziale oder politische Zustände reflektiert, ein bisschen... naja... unfair, weil dadurch eine latent dysfunktionale Doppelbotschaft kommuniziert wird, nämlich die Aufforderung zum Diskurs, ohne dass so wirklich klar wird, was eigentlich der Gegenstand des Diskurses sein soll und welche Prämissen hierbei als Startwert dienen.
Bei Deinem Gedicht (welches mir - siehe oben - ja sprachlich ausgesprochen gut gefällt) scheint mir die Klarheit noch etwas im Unklaren zu verharren ;) - dass Franke hier einen konkreten Bezug auf den Jom-Kippur-Krieg herausgehört hat, wäre ein Warnsymptom in dieser Richtung.
LG!
S.
 

revilo

Mitglied
Hallo S., ein ungemein kluger einwand zu meinem gedicht.....ein gedicht -nenn es von mir aus politisch -, dass sich um ein höheres Maß an Verständlichkeit bemüht, birgt die Gefahr in sich, dass es plakativ ist und eine Botschaft transportiert......und das ist der Tod eines noch so gut gemeinten Gedichts......auch außerhalb dieses Genres, in das ich mich eher zufällig verirrt habe hat das meiner Auffassung nach sehr hohe Bedeutung.......es hat mir GERADE gefallen, dass hier gerätselt wurde..........however...ich sehe dieses Teil eher als einen Ausrutscher an........ich habs in einem runtergeschrieben, in mein "privates" Lektorat gegeben und es danach hier eingestellt...........me culpa...........ich wünsche Dir einen schönen Abend.....
 



 
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