Zweite Chance

Olivier O.

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Ich liege im Sterben. Ein komischer Moment. Halb ist das Leben schon vorbei, halb liegt es noch offen vor einem, und man meint, im nächsten Augenblick schon aufstehen zu können und weiterzugehen. Und doch ist man irgendwie schon tot. Es gibt nichts mehr zu tun, nichts mehr zu sagen, nur noch warten und warten… Ich schlafe viel. Kein ruhiger Schlaf, noch nicht, ständig träume ich. Manchmal seltsames Zeug. Gerade eben hatte ich den seltsamsten Traum von allen:

Um mich herum nur Dunkelheit. Ich liege auf etwas Hartem, einem Stein vielleicht. Die Luft ist stickig wie in einem Keller. In der Ferne höre ich Schritte, sie kommen näher. Eine tanzende Kerzenflamme begleitet sie. Plötzlich wird alles heller und ich sitze jetzt auf einem altmodischen Sessel. Vor mir steht eine Figur. Schweigend starrt sie mich an. Ich starre zurück. Eine Weile sagen wir beide nichts, geniessen die Stille und warten, bis es etwas zu sagen gibt. Endlich räuspert sich die Figur und spricht: «Du stirbst.» «Ich weiss», antworte ich. «Weisst du, was das bedeutet?» Ich verneine. «Bevor du gehen kannst, musst du die wichtigsten Momente deines Lebens noch einmal durchlaufen. Du weisst ja, wie alle behaupten, dass einem kurz vor dem Tod alles, was man erlebt hat, vor den Augen abläuft? Das stimmt nicht ganz. Du hast nämlich das Recht, alles anders zu machen. Sozusagen als Trost. Alles, was du bereust, alles, wofür du dich hasst; du kannst es besser machen. Jetzt ist der Moment dafür. Heute gibt dir das Leben eine zweite Chance.» Ich zögere. Nicht, dass ich nichts bereue; wer bereut schon nichts im Leben, aber ist schlussendlich nicht doch alles gut gekommen? Ist nicht alles genau so geschehen, wie es geschehen sollte? Ich weiss nicht, ob dieses Wesen, diese merkwürdige Figur meine Gedanken lesen konnte, aber sie antwortete, als hätte sie meine Fragen gehört: «Selbstverständlich musst du nichts ändern. Du kannst exakt dasselbe tun, wie das letzte Mal. Die Frage ist, ob du das wirklich willst. Viele Menschen behaupten, dass sie nichts bereuen. Aber am Ende bereuen sie alles. Jedes Wort, jeden Blick, ihr Leben ist ein einziger, langer Fehler.» Ich stütze den Kopf auf die Faust und denke nach. Gibt es wirklich nichts, das ich hätte besser machen können? Und vor allem: hätte ich es wirklich gekonnt? Denn ich bin doch ich, und die anderen bleiben die anderen, und wir haben alle genau das getan, was wir tun mussten! Wie soll ich da etwas verändern? Ich hatte doch immer genau das getan, was im Bereich des Möglichen gewesen war, schlussendlich bin ich ja auch nur ein Mensch und meine Macht begrenzt. Plötzlich aber unterbrach die Figur meine Gedanken. «Für solche Überlegungen bleibt jetzt keine Zeit mehr. Es ist nämlich so weit. Viel Glück!» Und ich schlafe ein.

Ich erwache unter einem Baum. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiss nicht woher. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel, die Luft riecht nach Staub und Hitze. Alles klebt vor Schweiss. Ich ahne… Ich bin in Afrika, irgendwo mitten in der Savanne. In der Ferne ein kleines Dorf. Langsam erinnere ich mich wieder. Ich arbeite hier, als Arzt, ein Hilfsprojekt irgendeiner Wohltätigkeitsorganisation. Ich operiere im Zelt, die Bedingungen sind schlecht, die Bezahlung ist es auch. Ich habe gemeint, das würde mich zu einem besseren Menschen machen. Etwas zurückgeben, einmal im Leben. Ein Jahr habe ich mitten im Nirgendwo verbracht, sicher zahlreiche Menschenleben gerettet, aber macht mich das wirklich zu einem besseren Menschen? Ich habe damals die Geburt meines Sohnes verpasst, ich hatte nicht einmal davon gewusst. Wochenlang praktisch keine Verbindung zum Rest der Welt. Im Moment ist es mir nicht so schlimm vorgekommen, denn was ist schon eine verpasste Geburt gegen zehn gerettete Leben? Aber im Nachhinein? Ist das der Augenblick, um alles anders zu machen? Lohnt sich das überhaupt? Mein Sohn hat sowieso keine Erinnerung an seine Geburt, meine Frau hat es irgendwie verkraftet, es waren ja genug andere Leute da… Aber entschuldigt es das? Jetzt wäre meine Chance, meinem Leben einen anderen Lauf zu geben, das Schicksal zu überwinden… Es ist noch nicht zu spät, mein Sohn ist erst in der Regenzeit zur Welt gekommen, noch sind die Strassen gut, in ein paar Wochen wäre ich zuhause… Niemand würde es mir übelnehmen, man hat mich damals ja sogar ermuntert, zu gehen. Aber lohnt es sich überhaupt? Ist es das alles Wert? Die Leben, den Schmerz; alles, was ich hätte verhindern können? Ich weiss es nicht. Ich bin ahnungslos, gelähmt und schwitze weiter unter dem Baum. Wäre es nicht einfacher, nichts zu tun, weiterzugehen, das Schicksal zu akzeptieren? Wenigstens weiss ich, was dann am Ende passiert, wie die Geschichte ausgeht. Wenn ich aber jetzt etwas verändere, dann stürze ich mich ins Ungewisse. Weiss Gott, was dann noch alles kommt. Vielleicht mache ich mich zehnmal schuldig, wenn ich jetzt nach Hause gehe. Und doch gibt es einen Unterschied. Das letzte Mal wusste ich gar nicht, dass ich die Geburt verpassen würde. Natürlich, ich wusste, dass meine Frau hochschwanger war, aber ich habe mich immerhin nicht dazu entschieden, nicht bei der Geburt dabei zu sein! Ich dachte, ein Monat mehr würde drin liegen, vielleicht zwei. Mir gefiel es hier draussen. Aber jetzt müsste ich mich völlig bewusst dazu entscheiden, nicht abzureisen. Ach, wüsste ich doch nichts von der Zukunft! Es gibt nur schlechte Optionen! Egal, was ich tue, ich bin ein schlechter Mensch. Ist das denn schon die Hölle? Wieviel einfacher war das Leben, als ich nicht wusste, was ich tue! — Ein Kreischen unterbricht meine Gedanken. Auf dem Baum über mir ist ein einsamer Geier gelandet und zwinkert mir zu. Mir ist so heiss. Ich reisse mir das Hemd vom Körper. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich platzen. Ich kann nicht mehr. Tausend Gedanken dröhnen in mir. Vor mir sehe ich meine Frau, im Kreissaal, ganz allein. Sie weint. Ich schaue in die andere Richtung. Dort liegt eine Frau, die ich vielleicht schon einmal im Dorf gesehen habe. Sie stirbt und schaut mich mit traurigen Augen an. Ich habe ihr nicht geholfen und sie versteht nicht, wieso. Überall nur Leid, und das wegen einer einzigen Entscheidung! Es gibt keinen Ausweg, keine Lösung, nichts, nur Fehler über Fehler. Ich kann das nicht! Ich will keine Verantwortung übernehmen für mein Leben! Ich bin unschuldig! Ich bin kein Mörder, kein schlechter Vater, ich bin doch nur ein Mensch! Ich kann das einfach nicht mehr! Ich will mich nicht entscheiden! — Plötzlich fällt mein Blick auf das Gewehr, das ich zum Schutz vor wilden Tieren dabeihabe. Die ganze Zeit hatte es dort gelegen, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ich hebe es auf, presse den Lauf gegen meine Stirn und drücke ab.

Schweissgebadet wache ich auf. Ich bin allein im Zimmer. Verwirrt versuche ich, vom Bett aufzusitzen. Es geht nicht, ich bin zu schwach. Ich habe plötzlich Lust, meinem Sohn anzurufen. Ihm zu sagen, dass es mir leidtut, dass ich nie dagewesen bin für ihn. Ich würde auch gerne meiner Frau anrufen, aber sie ist schon lange tot. Bereue ich mein Leben? Ich habe doch immer nur das Beste versucht. Ich wusste nicht, wohin der Weg führen würde. Niemand kennt die Zukunft, niemand kann wissen, was er tun muss. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als im Dunkeln zu tappen, von Entscheidung zu Entscheidung, und zu hoffen, dass am Ende doch noch alles gut kommt. Denn leben ist doch nicht viel mehr als zu hoffen. Die Zukunft allein zeigt, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, im Moment aber bleiben wir blind. Ich will mich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ich weiss, was ich getan habe. Aber wenigstens habe ich dabei versucht, das Richtige zu tun. Ich lächle. Auf einmal fühle ich mich unendlich müde und schwer. Ich bin bereit zu gehen. Ein letztes Mal denke ich an den Baum in der afrikanischen Wildnis zurück. Daran, dass ich mein Bestes versucht habe. Mein Bestes war zwar nicht gut genug, aber das ist jetzt egal. Es liegt nicht an mir, zu urteilen. Ich schliesse langsam die Augen und schlafe ein.
 



 
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