Zweiter Eintrag ins Traumtagebuch:
Ich schlendere durch die Stadt. Verwinkelte Gässchen, breite Alleen und Einkaufspassagen wechseln sich ab. Ich gelange zum Schlossplatz. Von hier starten Vergnügungsbusse auf Stadtrundfahrt. Eine alte Bekannte winkt mir zu, ich solle mit ihr in den Bus einsteigen. Als ob ich die Stadt nicht genau kennen würde! Da sie fröhlich für mich den überteuerten Preis entrichtet, steige ich zu. Vielleicht unterhalten wir uns ja wieder so angenehm wie seinerzeit.
Die Tour heißt „Singsong“. Sicher ein Ableger von „Sightseing“, denke ich und nehme platz in einem der Schalensessel. Sie sind so gebaut, dass man keinen der übrigen Fahrgäste sieht, nur die eigenen Beine.
Kaum, dass die Türen geschlossen sind, setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Fast alle singen – ziemlich harmonisch und angenehm – ein englisches Lied nach dem anderen. Ich verstehe nix, kann nicht mitsingen. Mein Sitz kneift mich und die Rückenlehne, die sich über meinem Kopf zu einem Helm verformt hat, säuselt mir zu: „Du musst zur Harmonie beitragen, sing mit oder stimm ein neues Lied an!“
Irritiert versuche ich, mit meiner Bekannten wenigstens Blickkontakt zu bekommen. Es ist nicht möglich. Ich fühle mich einsam inmitten der singenden Menschen. Endlich beginnt eine helle Frauenstimme ein deutsches Volkslied, das ich kenne. Ich singe freudig mit, schon, damit der Stuhl aufhört, mich zu kneifen. Leider ist mir von der ersten Strophe die vierte Zeile entfallen und die anderen kennen sie auch nicht. Ungeschriebenes Gesetz in diesem Bus ist, dass ein abgebrochenes Lied nicht wieder aufgenommen werden darf. Mit rotem Kopf sinke ich in den Sessel zurück. Ich ließ meine Stimme schmettern und musste so kläglich enden!
Der Sitz wächst weiter zu um mich herum. Bald wird er mich völlig eingeschlossen haben. Mir muß ein Lied einfallen, das so gut wie alle kennen. Ich weiß plötzlich, dass die englischen Lieder aufhörten, weil sie nur von einer Gruppe gesungen wurden. Das Fahrzeug will aber, dass alle singen, wenn auch abwechselnd. Alle sollen Harmonie in gemeinschaftlichem Gesang finden. Ich weiß, dass jetzt jeder Fahrgast diesem Druck ausgesetzt ist: entweder ein Lied anstimmen, in das recht viele – möglichst alle! – einstimmen, oder als Ü-Ei im Warenregal enden. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen bei der Erkenntnis, dass die sonderbaren Gestalten, die sich neuerdings in den Ü-Eiern befinden, ehemalige Fahrgäste dieses auf Lem`sche Weise harmonieschaffenden Gefährts sind (Stanislaw Lem: Sterntagebücher, Vierundzwanzigste Reise).
Mein Schädel brummt. Was soll ich für ein Lied anstimmen? Ich kenne so viele! Aber welches werden die anderen mitsingen? „Stille Nacht?“ Da werden die sieben Burnusträger nicht einstimmen und auch jene nicht, deren Davidsstern mir vorhin an der Haltestelle stolz ins Auge funkelte. „Brüder, seht die Rote Fahne“? Ach, mit Kampfliedern Harmonie zu erzeugen, der Versuch ist doch schon mehrmals gescheitert!
Aber ich will nicht als Ü-Ei enden! Vielleicht kann ich uns alle retten mit „My bonny is over the ocean“? Ja, das könnte klappen, aber ich darf keinen Fehler machen. Die Melodie habe ich im Ohr, da kann nichts schief gehen, aber wie war das mit der Aussprache? My bonny is over oder my bonny eis over? Die damals elfjährige Waltraud sang immer „leis over“ und hatte es mir Fünfjährigen so beigebracht. Ich summe das Lied vor mich hin. Es gelingt mir nicht, die immer eisiger werdende Stille zu durchbrechen. Ich höre mich selber kaum.
Alles ist wie Watte um mich her. Der Sitz kneift nicht mehr. Ich höre, wie hier und da ein Sessel seine Eiform erreicht hat und klackernd zu Boden rollt. Auch mein Sessel lässt mir nur noch einen klitzekleinen Spalt offen. Das Klackern steigert sich zum Prasseln. Alle Hoffnung verlässt mich und ich ergebe mich in mein Schicksal. Na schön, dann stehe ich eben ne Weile als Monster auf irgendeinem Regal in einem Kinderzimmer, was solls . . .
Ich schlendere durch die Stadt. Verwinkelte Gässchen, breite Alleen und Einkaufspassagen wechseln sich ab. Ich gelange zum Schlossplatz. Von hier starten Vergnügungsbusse auf Stadtrundfahrt. Eine alte Bekannte winkt mir zu, ich solle mit ihr in den Bus einsteigen. Als ob ich die Stadt nicht genau kennen würde! Da sie fröhlich für mich den überteuerten Preis entrichtet, steige ich zu. Vielleicht unterhalten wir uns ja wieder so angenehm wie seinerzeit.
Die Tour heißt „Singsong“. Sicher ein Ableger von „Sightseing“, denke ich und nehme platz in einem der Schalensessel. Sie sind so gebaut, dass man keinen der übrigen Fahrgäste sieht, nur die eigenen Beine.
Kaum, dass die Türen geschlossen sind, setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Fast alle singen – ziemlich harmonisch und angenehm – ein englisches Lied nach dem anderen. Ich verstehe nix, kann nicht mitsingen. Mein Sitz kneift mich und die Rückenlehne, die sich über meinem Kopf zu einem Helm verformt hat, säuselt mir zu: „Du musst zur Harmonie beitragen, sing mit oder stimm ein neues Lied an!“
Irritiert versuche ich, mit meiner Bekannten wenigstens Blickkontakt zu bekommen. Es ist nicht möglich. Ich fühle mich einsam inmitten der singenden Menschen. Endlich beginnt eine helle Frauenstimme ein deutsches Volkslied, das ich kenne. Ich singe freudig mit, schon, damit der Stuhl aufhört, mich zu kneifen. Leider ist mir von der ersten Strophe die vierte Zeile entfallen und die anderen kennen sie auch nicht. Ungeschriebenes Gesetz in diesem Bus ist, dass ein abgebrochenes Lied nicht wieder aufgenommen werden darf. Mit rotem Kopf sinke ich in den Sessel zurück. Ich ließ meine Stimme schmettern und musste so kläglich enden!
Der Sitz wächst weiter zu um mich herum. Bald wird er mich völlig eingeschlossen haben. Mir muß ein Lied einfallen, das so gut wie alle kennen. Ich weiß plötzlich, dass die englischen Lieder aufhörten, weil sie nur von einer Gruppe gesungen wurden. Das Fahrzeug will aber, dass alle singen, wenn auch abwechselnd. Alle sollen Harmonie in gemeinschaftlichem Gesang finden. Ich weiß, dass jetzt jeder Fahrgast diesem Druck ausgesetzt ist: entweder ein Lied anstimmen, in das recht viele – möglichst alle! – einstimmen, oder als Ü-Ei im Warenregal enden. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen bei der Erkenntnis, dass die sonderbaren Gestalten, die sich neuerdings in den Ü-Eiern befinden, ehemalige Fahrgäste dieses auf Lem`sche Weise harmonieschaffenden Gefährts sind (Stanislaw Lem: Sterntagebücher, Vierundzwanzigste Reise).
Mein Schädel brummt. Was soll ich für ein Lied anstimmen? Ich kenne so viele! Aber welches werden die anderen mitsingen? „Stille Nacht?“ Da werden die sieben Burnusträger nicht einstimmen und auch jene nicht, deren Davidsstern mir vorhin an der Haltestelle stolz ins Auge funkelte. „Brüder, seht die Rote Fahne“? Ach, mit Kampfliedern Harmonie zu erzeugen, der Versuch ist doch schon mehrmals gescheitert!
Aber ich will nicht als Ü-Ei enden! Vielleicht kann ich uns alle retten mit „My bonny is over the ocean“? Ja, das könnte klappen, aber ich darf keinen Fehler machen. Die Melodie habe ich im Ohr, da kann nichts schief gehen, aber wie war das mit der Aussprache? My bonny is over oder my bonny eis over? Die damals elfjährige Waltraud sang immer „leis over“ und hatte es mir Fünfjährigen so beigebracht. Ich summe das Lied vor mich hin. Es gelingt mir nicht, die immer eisiger werdende Stille zu durchbrechen. Ich höre mich selber kaum.
Alles ist wie Watte um mich her. Der Sitz kneift nicht mehr. Ich höre, wie hier und da ein Sessel seine Eiform erreicht hat und klackernd zu Boden rollt. Auch mein Sessel lässt mir nur noch einen klitzekleinen Spalt offen. Das Klackern steigert sich zum Prasseln. Alle Hoffnung verlässt mich und ich ergebe mich in mein Schicksal. Na schön, dann stehe ich eben ne Weile als Monster auf irgendeinem Regal in einem Kinderzimmer, was solls . . .