Zweites Kapitel

Zweites Kapitel


Wenn ich es genau nehme, bin ich ein Kind der 68er Generation. Andere sind froh, wenn sie einen Vater haben: Ich hatte zwei. Meine Mutter wagte das Experiment, mit zwei Männer zusammenzuleben. Zum einen war da die eheliche Beziehung mit Gerd, der mein standesamtlicher Vater war, zum anderen hatte sie einen Freund, der Jascho hieß. Ich persönlich halte Jascho für meinen biologischen Vater, aber vielleicht werde ich nie Licht in diese dunkle Geschichte bringen. Denn Jascho nahm Drogen, starb an einer Überdosis Äther. Damals war ich zehn Jahre alt und verstand nicht viel von dem Lauf der Dinge. Ich wusste nur, dass ich Jascho lieber mochte als Gerd, und ich hätte es gerne gesehen, wenn meine Mutter sich hätte scheiden lassen und mit Jascho zusammengezogen wäre. Er hatte für mich immer ein offenes Ohr und bastelte gerne mit mir. Oft machten wir zusammen Camping, und er zeigte mir viele wissenswerte Sachen. Jascho war ein ausgesprochener Frauentyp und hatte viele Affären, aber wiewohl er äußerlich sehr robust wirkte, war er psychisch labil, konsumierte weiche Drogen und Alkohol und kam beruflich nicht auf den grünen Zweig. Er war gelernter Möbelrestaurator und hatte ein Studium der Metallbildhauerei an der Fachhochschule Köln abgeschlossen. Er war handwerklich außerordentlich geschickt, aber zum Künstler fehlte ihm das Zeug, und finanziell war er immer knapp bei Kasse. Als die Ehe zwischen meiner Mutter Hanna und Gerd auf der Kippe stand, machte Jascho Suizid. Meine Mutter meinte, er hätte es darauf ankommen lassen. Die Betäubungsmittel hatte er in der Uni-Klinik Köln gestohlen. Jascho seinerseits hatte eine weitere Freundin, sie hieß Heike.
Diese alte Geschichte gärte nun schon zehn Jahre vor sich hin, und es war wohl auch der Grund, warum Heike sich ein wenig um mich kümmerte, als meine erste Psychose vorbei war und ich einen neuen Start machen wollte. Sie war mittlerweile mit einem Goldschmied verheiratet, und nachdem sie ihre Referendarsprüfung in den Sand gesetzt hatte, versuchte sie sich im Handel mit Edelsteinen und las nebenher Korrektur von Bastei-Romanheftchen. Sie hatte zwei Kinder, Zwillinge, die zu diesem Zeitpunkt gerade eingeschult wurden. Manchmal passte ich abends auf die beiden Jungs auf, wenn Heike mit ihrem Mann etwas anderes vorhatte. Ich kramte in der Plattensammlung herum und hörte Steppenwolf, schnappte mir dazu eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und lernte für die Fahrschule. Obwohl ich zwei Jahre zuvor noch Stein und Bein geschworen hatte, niemals den Führerschein zu machen, hatte ich es mir dann doch anders überlegt. Ich interessierte mich für Fernreisen, und nach dem Urlaub in Frankreich war mir klar, dass man mit dem Fahrrad alleine nicht weit kam.
Heike hatte mir angeboten, nach dem Krankenhausaufenthalt ihr ein wenig im Büro zu helfen, und ich hatte sofort eingewilligt. Sie zahlte mir ein Taschengeld, und dafür tippte ich ihr zwei bis drei Stunden pro Tag Adresskärtchen, erledigte die Korrespondenz und suchte an der Hauptpost die Telefonnummern von sämtlichen Edelsteinhandlungen in Nordrhein-Westfalen aus den Gelben Seiten. Ihr Mann hatte den Meisterbrief und beschäftigte noch zwei Azubis. Kurz, es gab immer etwas zu tun. Ich war darüber froh, denn ich wusste nicht, wie es beruflich weitergehen sollte. Ich hatte mich für einen Studienplatz am Meteorologischen Institut der Uni Köln beworben, aber obwohl ich schon eingeschrieben war, machte der zuständige Assistent mir klar, dass ich erst zum Wintersemester ein Studium beginnen könnte. Mir war die Geschichte mit der Psychose furchtbar peinlich, und ich erzählte niemandem davon. Einmal traf ich abends ein paar Leute aus meiner Klasse, und sie fingen an zu bohren, aber ich gab keine Auskunft. Dann schleppten sie mich noch ins Schulz, das Schwulen- und Lesbenzentrum, wo ich prompt angequatscht wurde von einem Homosexuellen. Ich war bedient. Schule, das wollte ich nie wieder erleben.
Ich blieb drei Wochen in Heikes Büro, dann besorgte mein Vater mir einen Job in seiner Firma. Es war eine große Versandbuchhandlung für Orientalistik. Zunächst war ich in der Packerei tätig. Gerd lernte mich an und zeigte mir, wie ich die Bücher packen und frankieren musste. Einmal am Tag kam ein Kurierfahrer, und wir brachten zusammen die Pakete zur Post. Einige Wochen später wurde ich dann ins Büro versetzt, wo ich den ganzen Tag lang am Computer saß. Gemeinsam mit einer Sekretärin tippte ich das monatliche Programm der Buchhandlung in den Computer. Der Chef war zufrieden mit mir, aber mir war klar, dass ich diesen Job nicht ewig weitermachen konnte, da ich zum Herbst anfangen wollte zu studieren. Ich besuchte ein letztes Mal den Arzt in Herdecke. Er meinte, ich bräuchte die Medikamente nicht weiter zu nehmen. Eine Fehleinschätzung, wie sich später herausstellen sollte. Zu diesem Zeitpunkt aber war ich froh, dass ich wieder ohne die Pillen zurechtkam und in Ruhe den Führerschein machen konnte. Ich buchte bei einem Reiseveranstalter eine Gruppenreise nach Norwegen, da ich nicht noch einmal das Risiko eingehen wollte, im Urlaub ganz auf mich allein gestellt zu sein.
Zu Hause hing ich den ganzen Tag an meinem Rechner herum und schrieb einige Programm in Assembler, von denen ich zwei bei einer Computerzeitschrift veröffentlichen konnte. Zum Ausgleich ging ich einmal in der Woche zu der Sprachtherapie in Alfter. Die Therapeutin arbeitete mit mir an der Aussprache; ich musste Verse rezitieren und dabei auf und ab gehen. Dann kam der Sommer, und wir legten die Sprachtherapie auf Eis. Ich fuhr nach Hamburg, wo die Reise mit dem Bus nach Norwegen starten sollte. Ich war spät dran und sah von weitem schon eine ganze Schar von Rucksacktouristen vor dem Bus stehen. Die Reiseleiterin, ein hübscher Rotschopf im Regenmantel, winkte mir von weitem. "Hallo, da ist noch einer aus unserer Gruppe."
Ich fand sie auf Anhieb ausgesprochen sympathisch. Auch die anderen Teilnehmer waren sehr freundlich, aber ich wusste nicht recht, wie ich es anfangen sollte, eine Partie zu landen. Am ersten Abend saßen wir zusammen am Lagerfeuer, und jeder erzählte etwas von sich. Ich berichtete, im Vorjahr allein in Urlaub gefahren zu sein. "Ich fühlte mich sehr allein und dachte, in der Gruppe mit anderen sei der Urlaub vielleicht interessanter."
"Was ist dir denn passiert", wollte die Reiseleiterin wissen.
"Ich weiß auch nicht. Die Luft war halt raus."
"Und deshalb hast du bei uns gebucht?"
"Ja, genau."
Ein bisschen war ich schon zu diesem Zeitpunkt in sie verliebt. Sie mochte acht Jahre älter als ich sein. Ihr Name war Sophie. Ich fragte sie, ob sie schon einmal studiert hätte.
"Ja, Ökotrophologie."
Darunter konnte ich mir nichts vorstellen, verwechselte es mit Ökologie und war gleich Feuer und Flamme. "Toll, das würde ich auch gerne machen."
Sie wunderte sich über meinen Enthusiasmus, sagte aber nichts dazu. Sie erzählte, sie hätte vor wenigen Jahren noch in einer WG in Hamburg gewohnt, wo sie mit ihrem damaligen Freund einen Campingladen unterhielt. Später hätten sie dann den ersten Bus gekauft, und mit Ach und Krach hatte sie den Führerschein geschafft, um im Alter von 25 Jahren die erste Rundreise durch Ägypten anzubieten. Ich holte mir an einer Tankstelle eine Illustrierte, die über den Sahara-Tourismus berichtete. Sie las den Artikel und lachte sich halb tot. "Ja, da fahren wir auch hin, nach Südalgerien. Komm doch nächstes Jahr mit!"
Ich druckste herum. "Ich bin doch ein Anfänger, was Wüstenreisen angeht. Ich weiß nicht, ob ich mir so eine lange Tour zutraue."
"Davor brauchst du keine Angst zu haben. Bis jetzt sind wir immer durchgekommen."
Sie erzählte von Tamanrasset und dass sie vier Wochen lang unterwegs gewesen seien, ohne ein einziges Mal duschen zu können. "Wir stanken wie die Füchse, aber trotzdem fühlten wir uns wohl."
"Wird in Nordafrika nicht viel gekifft?"
"Nein, das muss man ja nicht machen. Nur einmal in Thailand, da hat es mich erwischt."
"Was denn?"
"Na ja, ich habe drei Space Cakes zu mir genommen und hing anschließend drei Tage lang auf dem Hotelzimmer herum."
"Hast du halluziniert?"
"Ja, alles wurde plötzlich ganz grün."
"Warum hast du das denn gemacht?"
"Nun, da gab es nichts anderes zu essen, und ich hatte Hunger." Sie seufzte. "Erzähl das jetzt bloß nicht dem Reiseveranstalter."
"Nein, natürlich nicht. Was ist dir denn sonst so passiert?"
"Einmal hatten wir unseren R4 im Niemandsland zwischen Syrien und Jordanien an einen Einheimischen verkauft. Wir bekamen das Geld auf die Hand und saßen im Taxi auf drei Kisten Jack Daniels, eine unglaubliche Zitterpartie, bis wir endlich heil in Jordanien ankamen."
"Und wie ist es im Jemen?"
"Auch so eine Geschichte. Ich bin die einzige Frau, die als Reiseleiterin in den Jemen darf. Sie wollten mich erst nicht akzeptieren, aber ich drohte damit, die ganze Reise abzublasen, da haben sie eingelenkt."
"Wo du überall schon warst. Ich glaube, ich gehe es langsam an."
"Wie es dir beliebt. Bei uns bist du auf jedenfall immer willkommen."
Wir fuhren mit dem Bus weiter nach Bergen und Jotunheimen, verbrachten dann eine Nacht in der Hardangervidda. Es war sehr kalt dort, und als wir am anderen Tag noch eine Wanderung durch Schnee und Regen unternahmen, waren wir alle durchgeschwitzt und durchnässt, so dass alle froh waren, als Sophie ein Hotel mit Sauna ausfindig machte. Ich hatte die Gelegenheit, sie mir aus der Nähe anzusehen, schämte mich aber ein wenig und dachte nicht im Traum daran, ihr eine Avance zu machen. Bald traten wir schon wieder den Rückweg nach Oslo an, wo wir das Munch Museum und den Holmenkollen besichtigten. Ich war froh, dass die Psychose mir nicht schon wieder einen Strich durch die Rechnung machte. Ich fühlte mich in der Gruppe wohl, träumte aber gleichzeitig davon, wie es wohl wäre, mit eigenem Fahrzeug und aus eigener Kraft dieses schöne Land zu bereisen. Am letzten Abend gab es ein überreichliches Büfett, und wir verbrachten mit Gesellschaftsspielen und Erzählungen eine letzte Nacht am Lagerfeuer.
Ich kam zurück nach Köln und redete den ganzen Tag nur von Sophie. Meine Mutter schüttelte den Kopf und sagte zu meinem Vater: "Die hat ihm ja ganz schön den Kopf verdreht."
Aber dann standen andere Dinge auf dem Programm. Kaum dass ich mich wieder an die Heimat gewohnt hatte, fing der Mathematische Vorkurs für Physiker an. Auf der Schule hatte ich nur einen Grundkurs in Mathematik belegt, so dass einiges auf mich zukam. Ich wusste nur ungenügend Bescheid, wie man mathematische Beweise führt. In der Physik kannte ich mich besser aus. Aber ich versuchte mein Bestes, und so belegte ich drei Vorlesungen, Analysis I, Lineare Algebra I und Klassische Mechanik. In der Allgemeinen Meteorologie passte ich besonders gut auf und fertigte ein Skript von dem Unterrichtsstoff des ersten Semesters an, das der Assistent des Professors Korrektur las.
So verging der Winter. Im Frühjahr buchte ich dann eine weitere Reise bei Sophie. Mit Ach und Krach schaffte ich drei Scheine und konnte guten Gewissens in Urlaub fahren. Der Flug ging nach Malaga, wo der Bus auf uns wartete. Die Tour sollte durch drei nordafrikanische Staaten führen, von Marokko über Algerien nach Tunis. Ich war haushoch verliebt in Sophie, aber ihr Freund Roland war bei dem Trip mit dabei und wurde schnell eifersüchtig. Die fremde Kultur krempelte mein ganzes Leben um. Die Wüste war fantastisch und einsam, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich sprach ganz passabel Französisch und kam mit den Einheimischen schnell in Kontakt. Aber dann erwischte mich wieder die Psychose. Ich erzählte Sophie mein halbes Leben, und als wir quer durch Algerien fuhren, kamen alle Erinnerungen wieder hoch. Zwei Tage lang musste ich weinen, bis sich der Ärmel von meinem Hemd schon ganz gelb färbte. Mein Leben schien an mir vorüberzuziehen, und die karge Mondlandschaft brachte auch keine Linderung. In Timmimoun saßen wir im Café, als ein paar Jugendliche mich anquatschten. Ich reagierte nicht, fasste krampfhaft nach meinem Glas Minztee und war völlig blockiert. Die Jungs waren nicht auf den Kopf gefallen: "Il est malade", sagten sie. Sophie besprach sich mit Roland, der vorschlug, mich einfach ins Flugzeug zurück nach Deutschland zu setzen. Aber dann kriegte ich doch noch die Kurve, und im Übrigen waren alle Teilnehmer auf dieser Reise mehr oder weniger krank, es war einfach eine anstrengende Tour. Um mir zu helfen, versprach Sophie mir, dass ich vielleicht eine Reise bei dem Unternehmen umsonst mitfahren könnte, sozusagen als Reisebegleiter. Ich war begeistert. Nach tausenden Kilometern Sand und Dünen kamen wir in Tunesien an und fuhren von Tozeur nach Tunis. Ich erzählte Sophie von Jascho und seinen Abenteuerreisen. Mir war klar, dass ich noch oft nach Nordafrika zurückkommen würde.
In Tunis setzten wir uns ins Flugzeug. Die Heimkehr war schwierig, und als das Studium wieder anfing, war ich völlig verstört. "Der Typ ist total fertig", witzelten meine Kommilitonen. Mir war der ganze Unterrichtsstoff zu trocken und zu theoretisch, und ich beschloss, das Studienfach zu wechseln. Ich konnte mir nicht vorstellen, jeden Tag am Computer herumzuhängen und Wetterprognosen anzufertigen. Ich wollte etwas lernen, das mehr Abwechslung versprach und nicht so dröge wie Mathematik und Physik. Aber was sollte ich machen? Ein Kumpel schüttelte den Kopf: "Erst war es Soziologie, dann wolltest du Ethnologie studieren. Und jetzt sind es auf einmal Sprachen. Wann legst du dich endlich auf etwas fest?"
Bei den Sprachen blieb ich dann hängen. Ich wollte besser französisch und englisch sprechen lernen und bewarb mich für den Eurostudiengang Sprachen an der Fachhochschule Köln. Es gab 250 Bewerber für 20 Studienplätze. Dank meines guten Abiturs und der Vorkenntnisse nahm mich die Prüfungskommission dann tatsächlich. Ich war der einzige Mann unter 20 Frauen, und die Mädchen - meist ehemalige Fremdsprachenkorrespondentinnen - sollten sich bald amüsieren: "Da kommt der Quotenmann."
Aber bevor der Studiengang anfing, waren noch drei Monate Zeit, die ich in der Kreditkartenabteilung von Kaufhof verbrachte. Ich jobbte als Datentypist und gab den ganzen Tag Adressen in den Computer ein. Das Geld investierte ich in einen alten VW-Bus, und gemeinsam mit meiner Schwester und einer Freundin plante ich einen Urlaub in Norwegen. Der Bus war in Ordnung, aber ich hatte gerade mal zwei Monate meinen Lappen und setzte mich nur selten ans Steuer.
An einem Sonntag im Juli 1990 war es dann so weit. Mit meiner Schwester Iris zusammen lud ich das Gepäck und den Proviant in das Auto, auch für mein Fahrrad fanden wir noch einen Platz. Dann fuhren wir nach Hannover, wo Bianka auf uns wartete. Die Autobahn war gähnend leer, und wir kamen gut voran. Vor Biankas Haus in der Dieckmannstraße war ein Parkplatz frei, aber es war gar nicht so einfach, den VW-Bus in die enge Parklücke zu manövrieren. Doch mit vereinten Kräften stellten wir den Bus dort ab. Am nächsten Tag fuhren wir in Richtung Flensburg weiter, wo wir eine Stellgelegenheit auf dem Campingplatz fanden. Es fand gerade die Fußball-Weltmeisterschaft statt, Deutschland war im Endspiel, und alle Camper hingen vor ihren Fernsehgeräten. Zwischendurch brachten sie eine Meldung über Waldbrände in Südfrankreich, wo ich zwei Jahre zuvor meinen Urlaub verbracht hatte, aber ich schenkte der Nachricht keine große Beachtung. Wir nahmen am anderen Tag die Fähre von Frederikshavn nach Oslo, und Bianka - die schon einige Routine am Steuer vorweisen konnte - fuhr die Rampe hoch in den Laderaum der Fähre, wo die Ordner uns einen Platz zuwiesen. Es war Zentimeterarbeit. Während der Überfahrt hingen wir stundenlang auf dem Deck herum und schauten nach den Möwen. Ein Norweger beugte sich über die Reling, lachte vor Freude, als das Land in Sicht kam. Offenbar war er lange nicht mehr daheim gewesen. Es war gegen zwölf Uhr nachts, als wir in Oslo ankamen, und wie die anderen Touristen fanden wir eine Abstellmöglichkeit auf dem nahen Campingplatz, der jedoch total überteuert war. Aber wo sollten wir schon hin mitten in der Nacht? Wir hatten zwei Zelte dabei, aber meine Schwester zog es bald vor, im Kofferraum des Busses zu schlafen. Für mich wäre das zu eng gewesen.
Anfangs verstanden wir uns noch ganz gut, aber nachdem wir zehn Tage auf Achse waren, passierte ein Disaster. Wir kamen von Bergen und suchten eine Übernachtungsmöglichkeit am Hardangerfjord. Ein Feldweg zweigte von der Straße ab und führte zu einer Lichtung im Grünen. Meine Schwester saß am Steuer. Ich riet ihr, den Bus auf dem Feldweg zu parken, aber ihr war das nicht idyllisch genug, und sie steuerte das Fahrzeug geradewegs auf die grüne Wiese. Ich gab nach, und wir bauten das Zelt auf und bereiteten eine Mahlzeit zu. Am nächsten Tag geschah, was ich befürchtet hatte. Auf der nassen Wiese fanden die Räder des Busses keinen Halt und wühlten im Schlamm. Wir luden das ganze Gepäck aus, ich wuchtete mit dem Wagenheber die Antriebsräder nach oben und wälzte Steine darunter. Ein paar Meter kamen wir auch voran, aber dann - ich schwitzte schon ziemlich, und die allgemeine Stimmung war im Keller - brach der Wagenheber. Mit einem Hammer klopfte ich den Wagenheber aus dem Schlamm. Zusammen mit Bianka machte ich mich auf den Weg zur nächsten Tankstelle. Wir versuchten, ein Stück zu trampen, aber niemand nahm uns mit. Jetzt war auch Bianka mit ihren Kräften am Ende. Völlig deprimiert erreichten wir die Tanke und riefen einen Abschleppwagen. Der kam bald, inspizierte unsere ADAC-Mitgliedskarte und grinste. Er hätte schon gegen Morgen unseren Bus auf der Wiese gesehen und hätte sich gleich gedacht: "He won't get out of there."
Er setzte mit dem Lkw ein Stück zurück und zog uns dann mit der Seilwinde aus dem Schlamm. Wir bedankten uns großartig, luden dann das Gepäck wieder ein und machten uns auf die Weiterfahrt. Aber nun begann der Streit. Ich war wegen des Malheurs beleidigt und bestand darauf, dass wir einen neuen Wagenheber kaufen sollten, für den Fall, dass wir eine weitere Panne hätten. Iris und Bianka sahen das nicht ein und meinten, die Anschaffung sei viel zu teuer. Daraufhin wechselte ich zwei Tage lang kein Wort mehr mit den anderen. Ich war schon wieder leicht psychotisch, aber ich nahm es nicht einmal wahr.
Am dritten Tag nach dem Missgeschick hatte meine Schwester dann die Nase voll und sagte: "Warum fährst du nicht einfach mit deinem Fahrrad weiter und lässt uns in Ruhe?"
"Aber der Bus gehört mir!"
"Ach komm, du hast doch gar keine Fahrpraxis. Du würdest alleine nie wieder zurück kommen."
Ich hatte keine Lust auf großartige Diskussionen. Im Morgengrauen des nächsten Tages packte ich klammheimlich alle Sachen zusammen, die ich brauchte, klemmte noch einen Abschiedsgruß an die Windschutzscheibe des Busses und schwang mich auf mein Fahrrad. Ich hatte Pech, denn gleich nach zwanzig Kilometern gab es den ersten Tunnel. Der war für Radfahrer gesperrt, und so musste ich die Ausweichstrecke über den Gletscher nehmen. Das waren im ganzen 1200 Meter Höhenunterschied, und mein Fahrrad war voll beladen. Keuchend kämpfte ich mich zum Gipfel empor, einige Male musste ich auch schieben. Hinter mir rollte eine Blechlawine über die Serpentinen, und jeder zweite Fahrer hupte mich - weshalb auch immer - an. Oben angekommen, sah ich, dass hier viel Wintersport betrieben wurde. Der Schnee lag einen ganzen Meter hoch. Dann kam ein Schild: "Next Grocery 70 Kilometres."
Mir wurde klar, dass ich mir einiges vorgenommen hatte. Das Wetter war auch etwas diesig, und als ich schließlich den nächsten Campingplatz erreichte, hatte ich 120 Kilometer in den Beinen. Ich rief meine Eltern zu Hause an, die sich schreckliche Sorgen machten. Mein Vater meinte, es sei ja jammerschade, dass wir uns im Streit getrennt hätten, ob wir uns nicht wieder versöhnen könnten und zusammen weiterfahren könnten?
Leider waren Iris und Bianka ebenfalls weitergefahren, aber genau in die entgegengesetzte Richtung, und ich wusste nicht, wie ich zu ihnen Kontakt aufnehmen sollte. Ich hatte auch keine große Lust, schon wieder das fünfte Rad am Wagen zu spielen. Ich hatte eine Riesenwut auf meine Schwester und wollte ihr jetzt einmal zeigen, was eine Harke war. Ich nahm mir vor, den ganzen Weg alleine auf dem Fahrrad zurückzufahren. Ab und zu rief ich meine Eltern zu Hause an. Sie sorgten sich um meinen Gesundheitszustand. Dann erzählte ich am Telefon, ich sei ein Stück mit dem Rad auf der E5 gefahren. "Es gibt nun mal keine andere Straße hier."
Am nächsten Tag kam mir eine Polizeistreife entgegen. Ich witterte Ärger. Kurzerhand wuchtete ich das Fahrrad die Böschung hoch und fuhr über Feldwege und Fußwege weiter nach Süden. Schließlich erreichte ich Oslo. Ich gönnte mir keine Rast. Es ging weiter nach Schweden und über Göteborg nach Frederikshavn. Ab und an hatte ich eine Reifenpanne, und weil mein Fahrrad so schwer beladen war, brachen einige Speichen. Ich fand einen Bauernhof, an dem mir der Bauer einen Schraubstock zur Verfügung stellte. Ich setzte den Abzieher auf das Ritzel, um es von der Nabe zu lösen. Aber ich wusste nicht, in welche Richtung ich die Felge drehen sollte! Dummerweise entschied ich mich für die falsche Richtung und knallte das Ritzel bombenfest auf das Schraubgewinde. Der Bauer verfolgte desinteressiert meine Bemühungen und dachte sicher, "der Irre dreht bloß am Rad."
Ich entschied mich also, mit zwei gebrochenen Speichen weiterzufahren, und die Felge hielt tatsächlich bis nach Köln. In Frederikshavn traf ich zwei Holländer auf dem Campingplatz. Ein Brite gesellte sich zu uns, und gemeinsam leerten wir einen Kasten Bier. Dann radelte ich weiter quer durch Dänemark. Es war schwierig, morgens in die Gänge zu kommen, ohne einen Schluck warmen Kaffee oder sonst ein Frühstück. Manchmal lag ich im Zelt und wimmerte leise vor mich hin. Die anderen Urlauber suchten nur selten Kontakt. Ich war froh, als ich Dänemark hinter mir ließ und über die Grenze nach Deutschland radelte. Bald kam ich in Bremen an, und von dort bis ins Rheinland war es nur ein Katzensprung. In Longerich schoss ich noch ein Erinnerungsfoto, braungebrannt, hager, den Kopf voller wirrer Ideen, so kam ich in Köln an.
Zu Hause warteten gute Neuigkeiten auf mich. In einem Studentenwohnheim in Lindenthal konnte ich ein Zimmer beziehen. Ich war heilfroh, von zu Hause weg zu können und meine eigenen vier Wände zu haben. Das Zimmer war etwa 11 Quadratmeter groß, Toilette und Dusche auf dem Gang, aber mir kam es vor wie ein Dreisternehotel. Meine Mutter machte für mich noch einmal einen Termin fest bei einem Homöopathen um die Ecke. Ich ging dorthin, und der Arzt war mir unsympathisch, aber er versicherte mir: "Merken Sie nicht, dass ich Ihnen helfen will?"
Ich druckste herum. "In zwei Wochen will ich mein neues Studium beginnen. Wie soll ich das nur schaffen, wenn ich jetzt wieder eine Psychose kriege?"
"Fangen Sie sofort eine Psychotherapie an."
Er gab mir eine Adresse und schickte mich dann in eine psychiatrische Praxis am Hohenstaufenring. Ich brauchte eine ganze Stunde, bis ich die Praxis gefunden hatte, obwohl ich in dem Viertel aufgewachsen war. Dann musste ich noch einmal zwei Stunden warten. Der Neurologe war ein junger Afrikaner, in der Mehrzahl waren seine Patienten Gastarbeiter und Ausländer. Er verordnete mir ein Neuroleptikum und gab mir dann einen Termin für die kommende Woche. Zu dem Psychologen nahm ich auch Kontakt auf und hatte das Glück, eine Therapie beginnen zu können. Dann nahm ich meinen Umzug in Angriff.
Meine Eltern fuhren einen nagelneuen Golf, und in dem Studentenwohnheim meinte eine Bewohnerin, "der kommt wohl aus gutem Hause", als ich mit dem Auto vorfuhr. Ich schleppte meine Kartons auf das Zimmer, mein Vater half mir dabei. Die Wohnheimverwalterin entschuldigte sich dafür, dass auf dem Zimmer nur eine Matratze lag und versprach mir, dass in der kommenden Woche ein Bettgestell in das Zimmer käme. Ich fand auf dem Schreibtisch Platz für meinen Atari ST und den Kassettenrekorder und fühlte mich auf dem Zimmer wohl.
Tatsächlich schaffte ich den Einstieg in das Studium und besuchte die ersten Vorlesungen. Ich war sehr fleißig, lernte jeden Tag Vokabeln und fertigte Übersetzungen an. An der Fachhochschule tummelten sich in der Mehrzahl Frauen, aber ich war noch zu unerfahren, um die Rolle als Hahn im Korb auszunutzen. Nebenher belegte ich einen Volkshochschulkurs, der sich rund um den Otto-Motor drehte. Ich war noch ein wenig psychotisch und versteckte mein Gesicht in den Händen, da ich nicht wollte, dass meine wächserne Miene auffiel. Der Psychiater reduzierte die Medikamente bald, ich bekam schließlich einmal pro Woche eine Imap-Depotspritze. Das war sehr praktisch, da ich so nicht immer meine Pillen mit mir herumschleppen musste. Ich hatte immer noch Angst, dass meine Komilitoninnen etwas von meiner Erkrankung erfahren könnte und schämte mich dafür sehr. Aber eigentlich waren alle sehr freundlich, wunderten sich vielleicht insgeheim, warum ich so scheu war.
Im Studentenwohnheim kursierten die Gerüchte. Anscheinend hatten dort ein paar Kriminelle gewohnt, bevor ich eingezogen war, und fünfzehn Leuten war der Mietvertrag gekündigt worden. Allem Anschein nach wollte sich einer von ihnen rächen und hatte, bevor ich eingezogen war, das Klingelbrett abgefackelt. Dann war das Schloss an der Tür zum Fahrradkeller mit Klebstoff zugeschmiert. Ein Brief von der Wohnheimverwaltung machte die Runde. Der Vorsitzende warnte vor einer Gemeingefahr.
Nun ist es eines der Hauptmerkmale einer Psychose, dass man sich immer gemeint fühlt, egal was passiert. Ich zeigte meinem Arzt den Brief, und er hatte wohl von meinen Problemen die Nase voll und riet mir, einfach nachzufragen, worum es sich da handeln sollte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von der Geschichte mit dem Brandstifter. Die Wohnheimverwalterin wimmelte meine dumme Frage ab und empfahl mir, zu dem Studentensprecher zu gehen, falls ich psychische Probleme hätte. Aber die Dinge waren bald wieder im Lot, und meine peinlichen Fragen gerieten bald in Vergessenheit.
Doch dann geschah etwas Schreckliches. Mitten in der Nacht wurde ich wach, als die Italienerin aus dem Erdgeschoss an alle Türen hämmerte und "Feuer! Feuer!" brüllte. Alle zogen sich schnell etwas über und flüchteten durch ein Fenster im Erdgeschoss auf die Straße. Die Feuerwehr kam, und wir wurden in einem geheizten Bus auf der Straße untergebracht. Die Feuerwehrleute waren in vollem Einsatz. Anscheinend hatte der Kühlschrank im Keller Feuer gefangen. Anfangs mutmaßten wir, ob er vielleicht nicht rechtzeitig abgetaut worden war und sich überhitzt hatte. Aber die Feuerwehr fand heraus, dass der Stromstecker herausgezogen war. Sie schleppten den Kühlschrank zur Spurensicherung in einen der LKWs. Im ersten Morgengrauen durften wir dann zurück auf unsere Zimmer. Das Treppenhaus war völlig verrußt, in der Zeitung stand später etwas von 200.000 Mark Sachschaden. Wir trafen uns am darauffolgenden Tag in der Küche und tauschten Anekdoten über die verstrichene Nacht aus. Einige der Bewohner hatten die ganze Sache verschlafen und wurden erst wach, als die Einsatzmänner in voller Montur alle Zimmer kontrollierten. Einer lehnte sich im zweiten Stock aus dem Fenster und wurde per Megaphon davor gewarnt, aus dem Fenster zu springen. Ein anderer Student wurde auch zu spät wach und hangelte sich am Fenster auf die Terrasse im ersten Stock, von wo er zusammen mit anderen mittels Drehleiter geborgen wurde. Die Aufräumarbeiten dauerten Wochen und Monate. Wer den Brand gelegt hatte, blieb im Unklaren, offenbar wollte sich einer der Studenten rächen, dem der Mietvertrag gekündigt worden war.
Das Studium ging weiter, und ich lernte viel. Ab und zu schaute ich noch zu Hause bei meinen Eltern vorbei. Meine Schwester war ausgezogen und wohnte nun in einer Sozialwohnung in Mülheim. Sie hatte ein Bauingenieur-Studium begonnen und fuhr nebenher für einen Kurierdienst Medikamente aus. Mit der Mathematik kam sie nicht gut klar, und ich half ihr bei den Übungsaufgaben. Ich selbst kam mit dem Übersetzerstudiengang gut zurecht, und mein Französisch verbesserte sich schnell. Alles sah danach aus, als ob die Dinge in bester Ordnung seien. Doch dann kam eine schlimme Nachricht. Mein Vater - dem eine Lungenentzündung attestiert war - nahm mich an einem Sonntag im November beiseite. "Wir müssen jetzt alle ganz stark sein", meinte er. "Ich habe Krebs."


(c) 2007 by Marcel Sommerick
 



 
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