Zwiebeln, Pflaumenkuchen und Kaffee

solowasser

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Zwiebeln, Pflaumenkuchen und Kaffee


Wir saßen in der Küche, als es geschah. Ich hörte ein Poltern aus dem Dachgeschoss, dann einen Schuss.
Meine Mutter saß auf dem Küchentisch und schreckte auf. Sie schaute mich an. Ihr Blick verengte sich, sie schürzte ihre Lippen und rollte ihre Augen nach oben. Der Schlüsselmoment in einem Leben, von mir kartographiert und abgespeichert. Sie wusste es. Sie wusste alles, ich sah es ihr an.
Ich wusste, dass es geschehen würde, aber erschrak trotzdem wie selten zuvor in meinem Leben.
Ich sah in den Garten, sah, wie die Sonne auf die Schaukel scheinte, sah das reflektierte Licht, das sich im Küchenfenster spiegelte und in dünnen Strahlen hereinfiel auf das Gesicht meiner Mutter.
Ich sah hinaus und vergaß. Ich vergaß, was geschehen war; ich wollte vergessen, ich wollte mich belügen. Wie in einem verschwommenen Traum nahm ich meine Umwelt war. Die fahle, von Lichtstrahlen unterbrochene Luft der Küche machte die Szene für mich nicht fassbar.
Ich nahm den Staub wahr, der sich im Licht kräuselte wie die Kohlensäure in einem Glas Mineralwasser. Mein Blick fiel auf den Tisch, es standen drei Tassen darauf. Wir wollten gerade Kaffee trinken, schoss es mir durch den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde landete ich zurück in der Realität. Doch der Moment war schon vorbei, bevor ich ihn begreifen konnte und bevor mir die Dringlichkeit, ihn auszunutzen, bewusst wurde.
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Es roch nach Zwiebeln und Pflaumenkuchen. Und Kaffee. Nie werde ich diesen Geruch vergessen. Es duftete nach Sommer und Sonntag, nach einem dieser Tage, die schön und traurig zugleich sind. Nach einem dieser Tage, an dem man sich der Nichtigkeit seiner Existenz bewusst wird. An dem man feststellt, dass man ganz und gar nutzlos ist.
Für mich roch es aber auch nach Zwiebeln, Pflaumenkuchen und Kaffee. Und war das nicht Grund genug weiterzumachen?
Das Holz des Küchentisches fühlte sich weich und stark an. Es war nicht glatt, sondern sehr rau, gezeichnet von den Jahren, das es mitmachen musste. Gezeichnet von den vielen Sonntagen voller schwerer Kaffeekannen und gußeiserner Töpfe. In diesem Moment machte ich mir nicht bewusst, dass ich das alles so intensiv wahrgenommen habe. Die Erkenntnis kam erst Jahre später, als ich es zum ersten Mal wieder wagte, an einem Sonntag hierherzukommen und mit meiner Mutter in der Küche saß und Kuchen aß.-
Der Schuss hallte lange nach und komplettierte das Szenario wie in einem feinfühligem Film. Er war immer da und somit, so dachte ich es mir später, muss auch der Gedanke, an die Realität und an meine Schuld immer dagewesen sein
Damals wirkte das auf mich wie ein alles niederwalzendes Sinnesorchester, das mit dem langsamen Abklang des Schusses seinen Höhepunkt erreichte.
Nun kam Bewegung in die Szenerie. Meine kreidebleiche Mutter sprang auf und ging schnellen Schrittes auf die Treppe zu. Ich sah ihr einige Sekunden hinterher und sprang dann ebenfalls auf und ging ihr wie in Trance hinterher. Die Stufen in den 1.Stock kamen mir endlos vor und ich musste mich furchtbar anstrengen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Durch die körperliche Anstrengung gelang es mir, für einen kurzen Moment einen klaren Kopf zu bekommen. Ich fasste in meine Hosentasche und fühlte die rauen Ritzen des kleinen, silbernen Schlüssels. Ich fühlte eine seltsame Art der Erleichterung, ich hatte die Kontrolle behalten. - Bis zuletzt.
Im Korridor nahm ich zum ersten Mal einen anderen, intensiven Geruch wahr.
Es roch nach Papa.
Es roch so sehr nach Papa, dass mir schlecht wurde. Es roch nach stundenlangen Sitzen im Wald und es roch nach seinem grünen Hut. Es roch nach den Tränen meiner Mutter und den schrecklichen Worten meines Bruders.
Wir gingen an seinem alten Zimmer vorbei und sahen die offene Tür des gläsernen Schrankes.
Wieder diese seltsame Erleichterung. Beinahe triumphierend blieb ich für den Bruchteil einer Sekunde stehen; natürlich voller Trauer, aber trotz allem mit einem positiven Gedanken. Alles lief so wie besprochen, ich hatte bis zuletzt die Karten in der Hand behalten.
Das alte Holz knarzte laut, als wir zum Dachstuhl hinaufgingen. Meine Mutter wurde immer schneller und ich tat mich nun schwerer, Schritt zu halten, als sie zielstrebig auf das einzige Zimmer im Dachgeschoss des Hauses zuging.
Er lag mit dem Rücken auf dem dunklen Holzboden; das Jagdgewehr neben ihm. Sanft und langsam lief das Blut die Dielen entlang, blieb in den Ritzen hängen und bahnte sich trotzdem einen Weg durch den alten, vermorschten Parkett. Fast schon friedlich umschloss es den Kopf meines Bruders, der mit gleichgültigem Gesichtsausdruck und regungslos dalag. - Er hatte sich erschossen.
Meine Mutter quiekte einmal schrill, legte sich beide Hände vor den Mund, drehte sich um und polterte die Treppen hinunter. Eigensinnig blieb ich stehen und versuchte das Szenario zu fassen. Hundertmal bin ich es im Kopf durchgegangen, aber konnte mich dennoch nicht darauf vorbereiten. Der Anblick war so unwirklich und meine Schuld so unerträglich, dass ich diesen Moment abermals anzweifelte und meine Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Mein Geist suchte verzweifelt nach einem Ausweg, nach einer Lösung, aber das, was sich vor meinen Augen abspielte, war zu real und zu kalt, um es kurzfristig zu verdrängen.
Langsam ging ich auf meinen Bruder zu und piekste ihn an. Ich fuhr erschrocken zurück, sein Körper war noch warm und aus irgendeinem Grund hatte ich das nicht erwartet. Ich bemerkte einen kleinen, weißen Zettel, der neben dem Gewehr lag und griff danach.
In großen Buchstaben und mit krakeliger Schrift war das letzte Wort, das mein Bruder geschrieben hat: DANKE.
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Wie gesagt, Jahre später kam ich wieder in das Haus meiner Eltern, in dem jetzt meine Mutter alleine wohnte. Wieder saßen wir zusammen in der Küche und tranken Kaffee.
Wir beiden waren noch da. Trotz allem. Warum mein Bruder nicht mehr da war, begriff ich erst jetzt: Für ihn roch es nie nach Zwiebeln, Pflaumenkuchen und Kaffee.
 



 
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