Zwischenstopp auf der Zeitreise

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Januar 2016. Beim Abtippen und Speichern bleibe ich an einer Passage hängen …

Nur selten wünsche ich mich in die alten Zeiten zurück. Gestern bemerkte ich einen, den ich seinerzeit in Berlin oft beobachtet hatte - mehr war nie geschehen. Er kam aus Süddeutschland, sprach mit hartem Akzent viel und nachdrücklich, dabei intelligent - er dürfte Student gewesen sein. Trotz seines anziehenden Äußeren schien er für erotische Abenteuer nicht begabt zu sein, nur für den Kopf zu leben. Da ist jetzt noch immer das hübsche, männliche Gesicht und die enorme Adlernase und sehr dichtes, dunkles Wuschelhaar, das sich allerdings in der Mitte ein wenig zu lichten beginnt. Er ist in meinem Alter. Nun wirkte er eher introvertiert. Im Gegensatz zu früher hatte er auch Augen für mich. Doch konnte ich nicht herausbringen, ob er sich bloß an mich erinnerte oder mich erstmals mit Interesse wahrnahm. Ich hätte ihn ansprechen können, aber er war zu Besuch bei einem dieser Hamburger Faustficktypen. Er wird doch nicht mit ihm geschlafen haben? Nachher, als er fort war und der Hamburger noch blieb, war es zu spät, die Verhältnisse näher zu untersuchen. Er kann ja bloß bei ihm gewohnt haben. Eine Konzession hat der Berliner im Lauf der Jahre an den Geschmack der anderen gemacht: Er trägt nun eine schwarze Lederjacke. Alles andere ist immer noch so studentisch lustlos wie in den APO-Tagen. Für mich verkörpert er weiter den diskursiven Geist, der in den Kneipen herrschte, damals in den Siebzigern. Aber auch an ihm war nicht zu übersehen, wie die Art selten und etwas melancholisch geworden ist. Eigentlich rührend, ein anachronistisch gewordener Progressiver … Ich stelle bei ihm wieder fest, was mein Hauptantrieb ist: ihnen unter die Schädeldecke zu schauen.

Geschrieben im Mai 1987 in Hamburg. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen, nie mehr an ihn gedacht. Jetzt, selbst wieder in Berlin lebend, würde ich ihn nicht einmal mehr erkennen. Umso plastischer sein Bild noch in mir, das ursprüngliche wie das spätere. Vergeht die Zeit wirklich? Oder vergehen eher wir in ihr, wie in ein uns unzuträgliches Element getaucht?
 
O

orlando

Gast
... aber er war zu Besuch bei einem dieser Hamburger Faustficktypen.
Darf ich einmal höflich anfragen, was ich mir unter einem "Hamburger Faustficktypen" vorzustellen habe? Welches Klischee wird hier bedient?
 
Orlando, das sind schwule Männer, die andere befriedigen, indem sie mit der Faust im Anus des Partners aktiv sind. Das war, von den USA ausgehend, in jenen Jahren in der Szene sehr weit verbreitet und hat, nebenbei bemerkt, manchen mit HIV infiziert. Ob es heute noch so populär ist, weiß ich nicht - hoffentlich nicht.

Hier wird nichts "bedient", schon gar nicht Klischees. Der Text war ursprünglich ein rein privater Tagebucheintrag, den ich zwecks Veröffentlichung nur ein wenig redigiert habe. Das Detail mit den "Faustficktypen" ist schon im Original vorhanden, nur dass der Ausdruck dafür dort noch deftiger ist. Ich hab's abgemildert. Verzichten konnte ich nicht darauf, denn in diesem authentischen Detail drückt sich besonders deutlich die negative Entwicklung aus, die so viele Biographien zwischen 1970 und 1990 charakterisiert.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Januar 2016. Beim Abtippen und Speichern bleibe ich an einer Passage hängen …

Nur selten wünsche ich mich in die alten Zeiten zurück. Gestern bemerkte ich einen, den ich seinerzeit in Berlin oft beobachtet hatte - mehr war nie geschehen. Er kam aus Süddeutschland, sprach mit hartem Akzent eindringlich und viel, schien intelligent - er dürfte Student gewesen sein. Trotz seines anziehenden Äußeren schien er für erotische Abenteuer nicht begabt zu sein, nur für den Kopf zu leben. Da ist jetzt noch immer das hübsche, männliche Gesicht und die enorme Adlernase und sehr dichtes, dunkles Wuschelhaar, das sich allerdings in der Mitte ein wenig zu lichten beginnt. Er ist in meinem Alter. Nun wirkte er eher introvertiert. Im Gegensatz zu früher hatte er auch Augen für mich. Doch konnte ich nicht herausbringen, ob er sich bloß an mich erinnerte oder mich erstmals mit Interesse wahrnahm. Ich hätte ihn ansprechen können, aber er war zu Besuch bei einem dieser Hamburger Faustficktypen. Er wird doch nicht mit ihm geschlafen haben? Nachher, als er fort war und der Hamburger noch blieb, war es zu spät, die Verhältnisse näher zu untersuchen. Er kann ja bloß bei ihm gewohnt haben. Eine Konzession hat der Berliner im Lauf der Jahre an den Geschmack der anderen gemacht: Er trägt nun eine schwarze Lederjacke. Alles andere ist immer noch so studentisch lustlos wie in den APO-Tagen. Für mich verkörpert er weiter den diskursiven Geist, der in den Kneipen herrschte, damals in den Siebzigern. Aber auch an ihm war nicht zu übersehen, wie die Art selten und etwas melancholisch geworden ist. Eigentlich rührend, ein anachronistisch gewordener Progressiver … Ich stelle bei ihm wieder fest, was mein Hauptantrieb ist: ihnen unter die Schädeldecke zu schauen.

Geschrieben im Mai 1987 in Hamburg. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen, nie mehr an ihn gedacht. Jetzt, selbst wieder in Berlin lebend, würde ich ihn nicht einmal mehr erkennen. Umso plastischer sein Bild noch in mir, das ursprüngliche wie das spätere. Vergeht die Zeit wirklich? Oder vergehen eher wir in ihr, wie in ein uns unzuträgliches Element getaucht?
 



 
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