Arbeitswelt der Zukunft

Dyer

Mitglied
Die Katze Im Sack

Karl stand früh auf, duschte und rasierte sich, kämmte die Haare und zog den feinen Anzug an, den er
sich geliehen hatte. Es war sein Geburtstag, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war das Event, um das er sich zu kümmern hatte. Das Image seiner Firma stand auf dem Spiel.
In der Bahn war es eng und stickig, ständig rempelten Karl Leute an. Er fühlte sich unbedeutend und isoliert. Vermutlich geht es jedem so, dachte er.
Dort wo er ausstieg, war kaum noch ein Mensch. Hier und da flog eine Drohne vorbei, ein koffergroßer Android auf Rädern fuhr ihm über die Zehen, dann beförderte ihn die Rolltreppe nach oben. Fahles Licht und saurer Regen nahmen ihn in Empfang. Bis zum Turm ging er gebückt, unter einem viel zu kleinen Regenschirm. Der Turm war sein Arbeitsplatz: Ein riesiger Berg aus Metall, schier endlos in den Himmel ragend. Tief vergraben darin lag sein Büro. Klein und unaufgeräumt war es. Fenster gab es nicht.
Er betrat den Turm durch einen Nebeneingang. Sofort war alles anders. Wie sauber die Luft hier nur war, wie klar das Licht, wie fein die Geräusch - selbst auf den Toiletten. Karl ging zum Foyer. Zwei wissenschaftliche Angestellte begegneten ihm, man grüßte sich flüchtig und lächelte angestrengt. Dann ging es los - die Kinder kamen.
Eine ganze Horde war es. Dreißig, vielleicht vierzig Bälger, die in einer langen Kolonne durch das Haupttor hereinwuselten. Ganz am Ende kam die Klassenlehrerin, eine alte, zerzauste Dame mit vielen Falten und kleinen Augen. Verbissen starrte sie Karl an und bellte, man sei die Klasse Z6 und habe eine Führung gewonnen.
Karl nickte und verteilte Ausweise. Dann bekam jeder eine sterile Haube. Einige Kinder lachten, manche streckten ihm die Zunge entgegen und einem ganz fürchterlichen Jungen lief gelber Rotz aus der Nase.
Legen wir los, rief Karl, und er ruderte dabei mit den Armen, doch niemand rührte sich. Hilflos sah Karl sich um. Die Klassenlehrerin war verschwunden. Betty, die Dame vom Empfang, sah ihn an, schüttelte den Kopf, schenkte ihm ein beherztes Lächeln und sagte, die Frau habe gefragt, wo es Kaffee gebe, man solle nicht auf sie warten.
Karl ballte die Fäuste bis das Blut aus seinen Fingern wich. Er schwitzte und übel war es ihm auch. Zögerlich rief er erneut, legen wir los!, und dabei hampelte er von einem Bein auf das andere. Völlig überraschend setzten sich die Kinder in Bewegung.
Im Aufzug war es eng, und als die Türen sich schlossen, bekam Karl ein nervöses Zucken im Auge. Die Kabine beschleunigte rasant, der Bruchteil einer Sekunde verging, dann waren sie da. Karl führte die Kinder in einen langen, überbeleuchteten Tunnel. Er versammelte alle um sich und klatschte zweimal in die Hände. Warum er das tat, wusste er am Ende selbst nicht mehr.
Er sei ein Breeder, sagte Karl, er kümmere sich um die Aufzucht von Rindern, Schweinen, Schafen und Hühnern, eigentlich sei er nichts anderes als ein Landwirt, nur gebe es keine Felder zu bestellen, sondern diesen Turm zu warten.
Die Kinder sahen ihn reglos an. Der fürchterliche Junge bohrte in seiner Nase. Karl nahm es mit einem Schaudern zur Kenntnis.
Dieser Turm sei einzigartig, erklärte Karl weiter. Es gebe nichts Vergleichbares, seine Firma decke neunzig Prozent der lokalen Fleischproduktion ab, und das auf kleinstem Raum, ohne Luftverschmutzung und ohne die Tiere zu quälen. Vorbei seien die barbarischen Methoden der konventionellen Fleischzucht. Dies sei die Gegenwart und die Zukunft.
Der letzte Satz kam Karl etwas theatralisch vor. Er hatte ihn sich selbst ausgedacht und eingestreut, was sein Chef ihm ausdrücklich verboten hatte.
Schweigend sahen die Kinder Karl an. Niemand machte einen Laut, was Karl als gutes Zeichen verstand. Stolz führte er die Gruppe weiter, durch eine enorme Türe, hinein in einen abgedunkelten Raum voll kleiner, pulsierender Lichter. Kabel hingen wie dichter Urwaldbewuchs von der Decke, Monitore flackerten und ein leises Summen hing in der Luft - dann sahen die Kinder erschrocken nach oben.
Abertausende Säcke hingen von der Decke herab, zu viele, als dass sie ein menschliches Auge erfassen konnte. Karl sah das Funkeln in den Augen der Kinder. Es rührte ihn. Beinahe wurde er verlegen. Dass den meisten speiübel wurde, bemerkte er nicht.
Künstliche Gebärmütter, erklärte Karl und sein Atem wurde ganz schnell. Man züchte darin Kühe, Schweine, Lämmer, Hühner – alles was dem Menschen als Nahrung dienen könne. Ein Kabel versorge die Körper mit Nährstoffen und Sauerstoff, ganz wie in einer echten Gebärmutter. Jeder Körper bade in einer Elektrolyt-Flüssigkeit und werde durch genau regulierte Stromstöße trainiert. Abgase und Ausscheidungen filtere man, sodass für die Umwelt keine Belastung entstehe. Es sei wundervoll!
Abseits der Gruppe übergab sich ein Kind. Sofort eilte ein kleiner Putzroboter herbei und wischte sauber. Ein Mädchen hob zaghaft den Finger. Ihre Miene wirkte verstört. Ob die Tiere dort schliefen, fragte sie.
Karl kicherte. Nicht ganz, sagte er, sie seien bei Bewusstsein, aber nicht hier. Er tippte sich selbst in den Nacken und deutete dann auf die Säcke. Ihre Körper seien zwar hier, ihre Gehirne halte man aber in einer virtuellen Realität gefangen. Dort hätte jedes Tier genügend Platz und könne den ganzen Tag tuen, was es wolle. Ganz herrlich sei es dort, warm und sonnig. Endlose Wiesen und Wälder. Die Körper schlachte man zwar nach kurzer Zeit, die Tiere selbst verbrächten aber eine natürliche Lebensspanne in der virtuellen Realität. Man könne die Zeit dort beliebig manipulieren. An nichts fehle es ihnen.
Keines der Kinder hatte je zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Sie kannten Fleisch nur in Form von Nuggets oder gepressten Würsten. Die eingewickelten, von der Decke hängenden Leiber, ergaben keinen Sinn für sie. Später versicherten ihre Eltern ihnen, dass das der Lauf der Natur sei, und Karl, der Landwirt, ein Held.
Als die Führung vorbei war, kam die Lehrerin zurück. Karl winkte den Kindern zum Abschied. Gegen Ende hatte er die Bälger tatsächlich in sein Herz geschlossen. Es war ein sonderbares Gefühl, aber es gefiel ihm.

***

Bis spät in die Nacht saß Karl noch im Büro. Zahlen und Diagramme rauschten an ihm vorbei. Das Monitorlicht brannte in seinen Augen. Dann war es genug. Feierabend. Doch bevor er nachhause ging, in seine kleine, schäbige Wohnung, die kaum größer als ein Zimmer war, kaum besser beleuchtet als eine Gefängniszelle, mit leerem Kühlschrank und leeren Wänden, da hatte er noch etwas zu erledigen.
Der Aufzug spuckte ihn in einer der obersten Brutetagen aus. In einem entlegenen Winkel stand eine Liege, umzingelt von Plastiksäcken, in denen die Leiber junger Kälber reiften. Dort wo die Liege stand, gab es keinen Sack, doch Kabel und Monitore hingen dort, wie überall. Karl legte sich in die Liege und stieß sich eine spitze Nadel in den Arm. Dann nahm er ein langes Kabel und steckte das offene Ende in eine kleine Buchse hinter seinem rechten Ohr, die er mit Make-up kaschiert hatte.
Plötzlich stand Karl auf einer Wiese. Käfer brummten, Vögel sangen, es war warm und ungemein friedvoll. Überall standen Kühe, Schafe, Lämmer und Hühner. Sie lebten zufrieden und im Einklang mit der Natur.
Karl setzte sich ins Gras und zog die Schuhe aus. Mit den Fingern strich er über die saftige Wiese. Manchmal verbrachte er seine Mittagspause hier, manchmal die ganze Nacht, und eines Tages, das wusste er, wollte er hier sterben.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Dyer, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Klasse Geschichte!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Dyer

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Die Katze Im Sack

Karl stand früh auf, duschte und rasierte sich, kämmte die Haare und zog den feinen Anzug an, den er
sich geliehen hatte. Es war sein Geburtstag, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war das Event, um das er sich zu kümmern hatte. Das Image seiner Firma stand auf dem Spiel.
In der Bahn war es eng und stickig, ständig rempelten Karl Leute an. Er fühlte sich unbedeutend und isoliert. Vermutlich geht es jedem so, dachte er.
Dort wo er ausstieg, war kaum noch ein Mensch. Hier und da flog eine Drohne vorbei, ein koffergroßer Android auf Rädern fuhr ihm über die Zehen, dann beförderte ihn die Rolltreppe nach oben. Fahles Licht und saurer Regen nahmen ihn in Empfang. Bis zum Turm ging er gebückt, unter einem viel zu kleinen Regenschirm. Der Turm war sein Arbeitsplatz: Ein riesiger Berg aus Metall, schier endlos in den Himmel ragend. Tief vergraben darin lag sein Büro. Klein und unaufgeräumt war es. Fenster gab es nicht.
Er betrat den Turm durch einen Nebeneingang. Sofort war alles anders. Wie sauber die Luft hier nur war, wie klar das Licht, wie fein die Geräusch - selbst auf den Toiletten. Karl ging zum Foyer. Zwei wissenschaftliche Angestellte begegneten ihm, man grüßte sich flüchtig und lächelte angestrengt. Dann ging es los - die Kinder kamen.
Eine ganze Horde war es. Dreißig, vielleicht vierzig Bälger, die in einer langen Kolonne durch das Haupttor hereinwuselten. Ganz am Ende kam die Klassenlehrerin, eine alte, zerzauste Dame mit vielen Falten und kleinen Augen. Verbissen starrte sie Karl an und bellte, man sei die Klasse Z6 und habe eine Führung gewonnen.
Karl nickte und verteilte Ausweise. Dann bekam jeder eine sterile Haube. Einige Kinder lachten, manche streckten ihm die Zunge entgegen und einem ganz fürchterlichen Jungen lief gelber Rotz aus der Nase.
Legen wir los, rief Karl, und er ruderte dabei mit den Armen, doch niemand rührte sich. Hilflos sah Karl sich um. Die Klassenlehrerin war verschwunden. Betty, die Dame vom Empfang, sah ihn an, schüttelte den Kopf, schenkte ihm ein beherztes Lächeln und sagte, die Frau habe gefragt, wo es Kaffee gebe, man solle nicht auf sie warten.
Karl ballte die Fäuste bis das Blut aus seinen Fingern wich. Er schwitzte und übel war es ihm auch. Zögerlich rief er erneut, legen wir los!, und dabei hampelte er von einem Bein auf das andere. Völlig überraschend setzten sich die Kinder in Bewegung.
Im Aufzug war es eng, und als die Türen sich schlossen, bekam Karl ein nervöses Zucken im Auge. Die Kabine beschleunigte rasant, der Bruchteil einer Sekunde verging, dann waren sie da. Karl führte die Kinder in einen langen, überbeleuchteten Tunnel. Er versammelte alle um sich und klatschte zweimal in die Hände. Warum er das tat, wusste er am Ende selbst nicht mehr.
Er sei ein Breeder, sagte Karl, er kümmere sich um die Aufzucht von Rindern, Schweinen, Schafen und Hühnern, eigentlich sei er nichts anderes als ein Landwirt, nur gebe es keine Felder zu bestellen, sondern diesen Turm zu warten.
Die Kinder sahen ihn reglos an. Der fürchterliche Junge bohrte in seiner Nase. Karl nahm es mit einem Schaudern zur Kenntnis.
Dieser Turm sei einzigartig, erklärte Karl weiter. Es gebe nichts Vergleichbares, seine Firma decke neunzig Prozent der lokalen Fleischproduktion ab, und das auf kleinstem Raum, ohne Luftverschmutzung und ohne die Tiere zu quälen. Vorbei seien die barbarischen Methoden der konventionellen Fleischzucht. Dies sei die Gegenwart und die Zukunft.
Der letzte Satz kam Karl etwas theatralisch vor. Er hatte ihn sich selbst ausgedacht und eingestreut, was sein Chef ihm ausdrücklich verboten hatte.
Schweigend sahen die Kinder Karl an. Niemand machte einen Laut, was Karl als gutes Zeichen verstand. Stolz führte er die Gruppe weiter, durch eine enorme Türe, hinein in einen abgedunkelten Raum voll kleiner, pulsierender Lichter. Kabel hingen wie dichter Urwaldbewuchs von der Decke, Monitore flackerten und ein leises Summen hing in der Luft - dann sahen die Kinder erschrocken nach oben.
Abertausende Säcke hingen von der Decke herab, zu viele, als dass sie ein menschliches Auge erfassen konnte. Karl sah das Funkeln in den Augen der Kinder. Es rührte ihn. Beinahe wurde er verlegen. Dass den meisten speiübel wurde, bemerkte er nicht.
Künstliche Gebärmütter, erklärte Karl und sein Atem wurde ganz schnell. Man züchte darin Kühe, Schweine, Lämmer, Hühner – alles was dem Menschen als Nahrung dienen könne. Ein Kabel versorge die Körper mit Nährstoffen und Sauerstoff, ganz wie in einer echten Gebärmutter. Jeder Körper bade in einer Elektrolyt-Flüssigkeit und werde durch genau regulierte Stromstöße trainiert. Abgase und Ausscheidungen filtere man, sodass für die Umwelt keine Belastung entstehe. Es sei wundervoll!
Abseits der Gruppe übergab sich ein Kind. Sofort eilte ein kleiner Putzroboter herbei und wischte sauber. Ein Mädchen hob zaghaft den Finger. Ihre Miene wirkte verstört. Ob die Tiere dort schliefen, fragte sie.
Karl kicherte. Nicht ganz, sagte er, sie seien bei Bewusstsein, aber nicht hier. Er tippte sich selbst in den Nacken und deutete dann auf die Säcke. Ihre Körper seien zwar hier, ihre Gehirne halte man aber in einer virtuellen Realität gefangen. Dort hätte jedes Tier genügend Platz und könne den ganzen Tag tuen, was es wolle. Ganz herrlich sei es dort, warm und sonnig. Endlose Wiesen und Wälder. Die Körper schlachte man zwar nach kurzer Zeit, die Tiere selbst verbrächten aber eine natürliche Lebensspanne in der virtuellen Realität. Man könne die Zeit dort beliebig manipulieren. An nichts fehle es ihnen.
Keines der Kinder hatte je zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Sie kannten Fleisch nur in Form von Nuggets oder gepressten Würsten. Die eingewickelten, von der Decke hängenden Leiber, ergaben keinen Sinn für sie. Später versicherten ihre Eltern ihnen, dass das der Lauf der Natur sei, und Karl, der Landwirt, ein Held.
Als die Führung vorbei war, kam die Lehrerin zurück. Karl winkte den Kindern zum Abschied. Gegen Ende hatte er die Bälger tatsächlich in sein Herz geschlossen. Es war ein sonderbares Gefühl, aber es gefiel ihm.

***

Bis spät in die Nacht saß Karl noch im Büro. Zahlen und Diagramme rauschten an ihm vorbei. Das Monitorlicht brannte in seinen Augen. Dann war es genug. Feierabend. Doch bevor er nachhause ging, in seine kleine, schäbige Wohnung, die kaum größer als ein Zimmer war, kaum besser beleuchtet als eine Gefängniszelle, mit leerem Kühlschrank und leeren Wänden, da hatte er noch etwas zu erledigen.
Der Aufzug spuckte ihn in einer der obersten Brutetagen aus. In einem entlegenen Winkel stand eine Liege, umzingelt von Plastiksäcken, in denen die Leiber junger Kälber reiften. Dort wo die Liege stand, gab es keinen Sack, doch Kabel und Monitore hingen dort, wie überall. Karl legte sich in die Liege und stieß sich eine spitze Nadel in den Arm. Dann nahm er ein langes Kabel und steckte das offene Ende in eine kleine Buchse hinter seinem rechten Ohr, die er mit Make-up kaschiert hatte.
Plötzlich stand Karl auf einer Wiese. Käfer brummten, Vögel sangen, es war warm und ungemein friedvoll. Überall standen Kühe, Schafe, Lämmer und Hühner. Sie lebten zufrieden und im Einklang mit der Natur.
Karl setzte sich ins Gras und zog die Schuhe aus. Mit den Fingern strich er über die saftige Wiese. Manchmal verbrachte er seine Mittagspause hier, manchmal die ganze Nacht, und eines Tages, das wusste er, wollte er hier sterben.



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Liebe Leserinnen und Leser,
Ich hoffe ihr habt viel Spaß mit dieser Geschichte, und ich hoffe,
Sie versüßt euch ein paar Minuten.
Konstruktive Kritik ist jederzeit willkommen und ich freue mich über eure Verbesserungsvorschläge.
 

Dyer

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Karl stand früh auf, duschte und rasierte sich, kämmte die Haare und zog den feinen Anzug an, den er
sich geliehen hatte. Es war sein Geburtstag, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war das Event, um das er sich zu kümmern hatte. Das Image seiner Firma stand auf dem Spiel.
In der Bahn war es eng und stickig, ständig rempelten Karl Leute an. Er fühlte sich unbedeutend und isoliert. Vermutlich geht es jedem so, dachte er.
Dort wo er ausstieg, war kaum noch ein Mensch. Hier und da flog eine Drohne vorbei, ein koffergroßer Android auf Rädern fuhr ihm über die Zehen, dann beförderte ihn die Rolltreppe nach oben. Fahles Licht und saurer Regen nahmen ihn in Empfang. Bis zum Turm ging er gebückt, unter einem viel zu kleinen Regenschirm. Der Turm war sein Arbeitsplatz: Ein riesiger Berg aus Metall, schier endlos in den Himmel ragend. Tief vergraben darin lag sein Büro. Klein und unaufgeräumt war es. Fenster gab es nicht.
Er betrat den Turm durch einen Nebeneingang. Sofort war alles anders. Wie sauber die Luft hier nur war, wie klar das Licht, wie fein die Geräusch - selbst auf den Toiletten. Karl ging zum Foyer. Zwei wissenschaftliche Angestellte begegneten ihm, man grüßte sich flüchtig und lächelte angestrengt. Dann ging es los - die Kinder kamen.
Eine ganze Horde war es. Dreißig, vielleicht vierzig Bälger, die in einer langen Kolonne durch das Haupttor hereinwuselten. Ganz am Ende kam die Klassenlehrerin, eine alte, zerzauste Dame mit vielen Falten und kleinen Augen. Verbissen starrte sie Karl an und bellte, man sei die Klasse Z6 und habe eine Führung gewonnen.
Karl nickte und verteilte Ausweise. Dann bekam jeder eine sterile Haube. Einige Kinder lachten, manche streckten ihm die Zunge entgegen und einem ganz fürchterlichen Jungen lief gelber Rotz aus der Nase.
Legen wir los, rief Karl, und er ruderte dabei mit den Armen, doch niemand rührte sich. Hilflos sah Karl sich um. Die Klassenlehrerin war verschwunden. Betty, die Dame vom Empfang, sah ihn an, schüttelte den Kopf, schenkte ihm ein beherztes Lächeln und sagte, die Frau habe gefragt, wo es Kaffee gebe, man solle nicht auf sie warten.
Karl ballte die Fäuste bis das Blut aus seinen Fingern wich. Er schwitzte und übel war es ihm auch. Zögerlich rief er erneut, legen wir los!, und dabei hampelte er von einem Bein auf das andere. Völlig überraschend setzten sich die Kinder in Bewegung.
Im Aufzug war es eng, und als die Türen sich schlossen, bekam Karl ein nervöses Zucken im Auge. Die Kabine beschleunigte rasant, der Bruchteil einer Sekunde verging, dann waren sie da. Karl führte die Kinder in einen langen, überbeleuchteten Tunnel. Er versammelte alle um sich und klatschte zweimal in die Hände. Warum er das tat, wusste er am Ende selbst nicht mehr.
Er sei ein Breeder, sagte Karl, er kümmere sich um die Aufzucht von Rindern, Schweinen, Schafen und Hühnern, eigentlich sei er nichts anderes als ein Landwirt, nur gebe es keine Felder zu bestellen, sondern diesen Turm zu warten.
Die Kinder sahen ihn reglos an. Der fürchterliche Junge bohrte in seiner Nase. Karl nahm es mit einem Schaudern zur Kenntnis.
Dieser Turm sei einzigartig, erklärte Karl weiter. Es gebe nichts Vergleichbares, seine Firma decke neunzig Prozent der lokalen Fleischproduktion ab, und das auf kleinstem Raum, ohne Luftverschmutzung und ohne die Tiere zu quälen. Vorbei seien die barbarischen Methoden der konventionellen Fleischzucht. Dies sei die Gegenwart und die Zukunft.
Der letzte Satz kam Karl etwas theatralisch vor. Er hatte ihn sich selbst ausgedacht und eingestreut, was sein Chef ihm ausdrücklich verboten hatte.
Schweigend sahen die Kinder Karl an. Niemand machte einen Laut, was Karl als gutes Zeichen verstand. Stolz führte er die Gruppe weiter, durch eine enorme Türe, hinein in einen abgedunkelten Raum voll kleiner, pulsierender Lichter. Kabel hingen wie dichter Urwaldbewuchs von der Decke, Monitore flackerten und ein leises Summen hing in der Luft - dann sahen die Kinder erschrocken nach oben.
Abertausende Säcke hingen von der Decke herab, zu viele, als dass sie ein menschliches Auge erfassen konnte. Karl sah das Funkeln in den Augen der Kinder. Es rührte ihn. Beinahe wurde er verlegen. Dass den meisten speiübel wurde, bemerkte er nicht.
Künstliche Gebärmütter, erklärte Karl und sein Atem wurde ganz schnell. Man züchte darin Kühe, Schweine, Lämmer, Hühner – alles was dem Menschen als Nahrung dienen könne. Ein Kabel versorge die Körper mit Nährstoffen und Sauerstoff, ganz wie in einer echten Gebärmutter. Jeder Körper bade in einer Elektrolyt-Flüssigkeit und werde durch genau regulierte Stromstöße trainiert. Abgase und Ausscheidungen filtere man, sodass für die Umwelt keine Belastung entstehe. Es sei wundervoll!
Abseits der Gruppe übergab sich ein Kind. Sofort eilte ein kleiner Putzroboter herbei und wischte sauber. Ein Mädchen hob zaghaft den Finger. Ihre Miene wirkte verstört. Ob die Tiere dort schliefen, fragte sie.
Karl kicherte. Nicht ganz, sagte er, sie seien bei Bewusstsein, aber nicht hier. Er tippte sich selbst in den Nacken und deutete dann auf die Säcke. Ihre Körper seien zwar hier, ihre Gehirne halte man aber in einer virtuellen Realität gefangen. Dort hätte jedes Tier genügend Platz und könne den ganzen Tag tuen, was es wolle. Ganz herrlich sei es dort, warm und sonnig. Endlose Wiesen und Wälder. Die Körper schlachte man zwar nach kurzer Zeit, die Tiere selbst verbrächten aber eine natürliche Lebensspanne in der virtuellen Realität. Man könne die Zeit dort beliebig manipulieren. An nichts fehle es ihnen.
Keines der Kinder hatte je zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Sie kannten Fleisch nur in Form von Nuggets oder gepressten Würsten. Die eingewickelten, von der Decke hängenden Leiber, ergaben keinen Sinn für sie. Später versicherten ihre Eltern ihnen, dass das der Lauf der Natur sei, und Karl, der Landwirt, ein Held.
Als die Führung vorbei war, kam die Lehrerin zurück. Karl winkte den Kindern zum Abschied. Gegen Ende hatte er die Bälger tatsächlich in sein Herz geschlossen. Es war ein sonderbares Gefühl, aber es gefiel ihm.

***

Bis spät in die Nacht saß Karl noch im Büro. Zahlen und Diagramme rauschten an ihm vorbei. Das Monitorlicht brannte in seinen Augen. Dann war es genug. Feierabend. Doch bevor er nachhause ging, in seine kleine, schäbige Wohnung, die kaum größer als ein Zimmer war, kaum besser beleuchtet als eine Gefängniszelle, mit leerem Kühlschrank und leeren Wänden, da hatte er noch etwas zu erledigen.
Der Aufzug spuckte ihn in einer der obersten Brutetagen aus. In einem entlegenen Winkel stand eine Liege, umzingelt von Plastiksäcken, in denen die Leiber junger Kälber reiften. Dort wo die Liege stand, gab es keinen Sack, doch Kabel und Monitore hingen dort, wie überall. Karl legte sich in die Liege und stieß sich eine spitze Nadel in den Arm. Dann nahm er ein langes Kabel und steckte das offene Ende in eine kleine Buchse hinter seinem rechten Ohr, die er mit Make-up kaschiert hatte.
Plötzlich stand Karl auf einer Wiese. Käfer brummten, Vögel sangen, es war warm und ungemein friedvoll. Überall standen Kühe, Schafe, Lämmer und Hühner. Sie lebten zufrieden und im Einklang mit der Natur.
Karl setzte sich ins Gras und zog die Schuhe aus. Mit den Fingern strich er über die saftige Wiese. Manchmal verbrachte er seine Mittagspause hier, manchmal die ganze Nacht, und eines Tages, das wusste er, wollte er hier sterben.



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Liebe Leserinnen und Leser,
Ich hoffe ihr habt viel Spaß mit dieser Geschichte, und ich hoffe, Sie versüßt euch ein paar Minuten.
Konstruktive Kritik ist jederzeit willkommen und ich freue mich über eure Verbesserungsvorschläge.
 



 
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