Gleißend hell strömte die Sonne in das kahle Krankenzimmer. Staubteilchen flimmerten vor ihren Augen durch den Raum, nur ein schmatzendes Geräusch störte die ansonsten heilsame Stille.
Der alte Mann im frisch bezogenen Krankenhausbett bewegte die Lippen. Seine linke Hand krampfte sich zusammen, als wollte er mit den Händen erzählen, da ja seine Stimme versagte.
Kein Laut kam aus seinem sich hilflos öffnenden Mund.
Und sie stand da und frohlockte. Wie herrlich war es anzusehen. Hilflos lag er da und quälte sich im Inneren. Und sie war versucht, ihm zu sagen, wie sehr sie diese Hilflosigkeit nachempfinden konnte.
Aber das wäre ihm wahrscheinlich sogar noch eine Genugtuung. Und so schwieg sie weiter und genoss den Anblick. Wie ein kahler Fisch lag er da herum. Verkabelt und angeschnallt noch dazu.
Jetzt wäre der Moment, ihm endlich ins Gesicht zu schlagen.
Sie merkte, wie sich ihre Hand leise bewegte, hielt jedoch inne, weil ihre Schwester den Raum betrat.
Mit Tränen in den Augen, die alte Heuchlerin. Wahrscheinlich wie immer pragmatisch, das konnte die gut. Sogar bei sichtbaren Gefühlsausbrüchen.
Die würde lieber die Hand aufhalten, anstatt den Alten ins Gesicht zu schlagen.
Mit ihr in einem Raum zu sein war in diesem Moment unmöglich, Tine merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte, presste ihre Lippen aufeinander, damit denen ja kein Wort entschlüpfen konnte, und ging hinaus.
Ganz hinaus, in den Park zuerst, wo sie sich auf eine Bank setzte und sich am liebsten eine Zigarette angesteckt hätte, wenn denn eine in der Nähe gewesen wäre. War sie aber glücklicherweise nicht, das fehlte noch, wegen den Idioten sich selbst untreu zu werden, dachte sie.
In diesem Moment erschien am Ende des Weges die Silouette ihrer Mutter.
Klein, zusammengefallen, den Rollator vor sich her schiebend.
Die hatte ihr jetzt noch gefehlt. Mit ihrem Schöngetue und der Heuchelei, mit ihrem Unterdenteppichkehren, bis man über die Kante flog.
Tine drehte sich um und ging zur Bushaltestelle.
Nach Hause. Endlich konnte sie ein Zuhause ohne diese Bilder haben.
Sie würde sie alle verbrennen. Auf einem großen Scheiterhaufen im Garten. Egal, was die Nachbarn sagen würden.
Ein Bild jedoch hatte sie im Kopf an diesem Nachmittag. Das des Alten, wie er hilflos da lag, unfähig, noch irgendwelchen Schaden anzurichten. Nicht einmal mit Worten, geschweige denn mit seinen Händen.
Sie merkte, wie sich der Ring um ihre Brust öffnete, ihre Hände aufhörten zu zittern, und wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit machte.
Und obwohl sie wusste, dass noch lange nicht alles vorbei war, das Schlimmste war ausgestanden. Das war das Einzige, was zählte.
Diese Hilflosigkeit jedoch, die sie jahrelang gespürt hatte, die war nicht mehr da. Fast wäre sie an der Haltestelle auf und ab gehüpft vor Freude und Erleichterung, und am liebsten hätte sie laut gesungen. Was, das wäre egal. Hauptsache laut.
Und sie rief ihre liebste Freundin an. Und sagte nur:“Er stirbt. Was für ein Glück!“ Sie hörte, wie ihre Freundin am anderen Ende tief ein-und ausatmete und berührte das rote Hörersymbol ihres Handys. Mehr musste nicht gesagt werden, sie würden sich morgen treffen.
Sie schloss kurz die Augen, um das Bild noch einmal zu sehen. Wie er da hilflos lag, ausgeliefert und unfähig jedweder Regung. Und sah einen fetten Rahmen rund um das Bild. Fest, dunkel, unzerbrechlich anscheinend.
Dieses Bild würde sie in ihre Galerie hängen. Zu Hause natürlich. In ihre Galerie der ungemalten Bilder. Diese waren nur nachts zu sehen, wenn Tine die Augen schloss.
Tine allerdings verstand sich selbst nicht mehr.
Wie konnte sie nur solche Gedanken denken. In dem Moment, wo der Alte im Sterben lag. Und wie konnte sie ihn überhaupt in Gedanken den Alten nenne? Und woher kam der Hass auf ihre Schwester und ihre Mutter?
Wie ein Blitz war es eingeschlagen. Und sie wusste nicht, warum.
Was aber das Faszinierendste war – sie fühlte sich gut dabei. Kein bisschen schuldbewusst, wie sonst immer.
Sie stieg in die U-Bahn und genoss das Trubelige um sich herum. So konnte sie sich hinsezten, die Augen schließen und sich von der Geräuschkulisse trostvoll einhüllen lassen.
Diesmal jedoch erschien ihr auch hier ein Bild aus ihrer Galerie. Am hellichten Tage, mitten im Gewusel menschlicher Umgebung. Es überfiel sie sozusagen.
Es war das Bild mit dem fetten, verschnörkelten, prunkvollen, goldenen Rahmen.
Der ist fast größer, als das Bild selbst, auf jeden Fall aber eindrucksvoll, fast furchteinflößend.
Mittendrin zwei Mädchen, vorsichtig lächelnd, dahinter Vater und Mutter, der Vater hat jeweils eine Hand auf eine Schulter der Mädchen gelegt, die Mutter schaut zu ihm auf und lehnt sich an seine linke Schulter. Auch sie lächelt sanft, der Vater jedoch strahlt vor Besitzerstolz.
Sie sah dieses Bild vor sich und konnte sich nicht davon losreißen, nicht die Augen öffnen, nicht ihre Tränen wegwischen.
Dieser schreckliche Rahmen.
Sie spürte ihn förmlich.
Es gab kein Entweichen. Nicht für ein kleines Mädchen. Dafür war der Rahmen viel zu breit, zu stark, zu fest und zu eng.
Und natürlich viel zu schön, wie für eine Prinzessin eigentlich. Golden mit wunderschönen Mustern dazu.
Der gibt doch Halt, passt auf das Mädchen auf, schmückt es sozusagen. Könnte man denken.
Aber sie rüttelte daran. Eine lange Zeit.
Es tat weh, so oft. Aber sie rüttelte weiter.
Bis er an einer ganz kleinen Stelle brüchig wurde.
Und sie herausfiel.
Verletzt.
Du bist ein schreckliches Mädchen, sagte der Vater.
Die Mutter hatte dem nichts entgegen zu setzen.
Die Mutter hatte nie etwas entgegen zu setzen.
Sie war also ein schreckliches Mädchen.
Weil sie aus dem Rahmen gefallen war.
Aus diesem tollen Rahmen dieser tollen Familie.
Sie lebte mit diesem Gedanken, ein schreckliches, undankbares Mädchen zu sein.
Auch, als sie schon kein Mädchen mehr war.
Tine schaffte es doch irgendwie, die Augen zu öffnen, sah, dass sie noch in der U-Bahn war, und wischte sich die Tränen ab.
Und sie versuchte, die Rahmen für´s Erste zu vergessen.
Mit wackeligen Knien stieg sie an der richtigen Station aus, gelangte irgendwie zu ihrer Wohnung, nahm dort ein Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich auf ihre Couch fallen.
Da saß sie nun. Bemüht, nicht zu denken, nicht zu heulen, nicht umzufallen und nicht zum Telefon zu greifen.
So viel nichts.
Wer war sie überhaupt?
Rein äußerlich betrachtet ein Frau in den besten Jahren – oder sagt man das nur von Männern?
Egal, also ein Frau in den besten Jahren, erfolgreich im Beruf, gescheitert in zwei Ehen, in Liebe verbunden mit ihren Kindern und den kleinen Enkelmädchen, und im Moment allein und völlig durcheinander in ihrer gemütlichen Wohnung – mit kleinem Garten sogar - die sie sehr liebte, abgesehen von den Bildern.
Aus dem Rahmen gefallen. Was für ein Glück, denn Tine bekam langsam das Gefühl, dass sie keinen Rahmen mehr brauchte.
Und sie begann, Erleichterung zu spüren.
Der alte Mann im frisch bezogenen Krankenhausbett bewegte die Lippen. Seine linke Hand krampfte sich zusammen, als wollte er mit den Händen erzählen, da ja seine Stimme versagte.
Kein Laut kam aus seinem sich hilflos öffnenden Mund.
Und sie stand da und frohlockte. Wie herrlich war es anzusehen. Hilflos lag er da und quälte sich im Inneren. Und sie war versucht, ihm zu sagen, wie sehr sie diese Hilflosigkeit nachempfinden konnte.
Aber das wäre ihm wahrscheinlich sogar noch eine Genugtuung. Und so schwieg sie weiter und genoss den Anblick. Wie ein kahler Fisch lag er da herum. Verkabelt und angeschnallt noch dazu.
Jetzt wäre der Moment, ihm endlich ins Gesicht zu schlagen.
Sie merkte, wie sich ihre Hand leise bewegte, hielt jedoch inne, weil ihre Schwester den Raum betrat.
Mit Tränen in den Augen, die alte Heuchlerin. Wahrscheinlich wie immer pragmatisch, das konnte die gut. Sogar bei sichtbaren Gefühlsausbrüchen.
Die würde lieber die Hand aufhalten, anstatt den Alten ins Gesicht zu schlagen.
Mit ihr in einem Raum zu sein war in diesem Moment unmöglich, Tine merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte, presste ihre Lippen aufeinander, damit denen ja kein Wort entschlüpfen konnte, und ging hinaus.
Ganz hinaus, in den Park zuerst, wo sie sich auf eine Bank setzte und sich am liebsten eine Zigarette angesteckt hätte, wenn denn eine in der Nähe gewesen wäre. War sie aber glücklicherweise nicht, das fehlte noch, wegen den Idioten sich selbst untreu zu werden, dachte sie.
In diesem Moment erschien am Ende des Weges die Silouette ihrer Mutter.
Klein, zusammengefallen, den Rollator vor sich her schiebend.
Die hatte ihr jetzt noch gefehlt. Mit ihrem Schöngetue und der Heuchelei, mit ihrem Unterdenteppichkehren, bis man über die Kante flog.
Tine drehte sich um und ging zur Bushaltestelle.
Nach Hause. Endlich konnte sie ein Zuhause ohne diese Bilder haben.
Sie würde sie alle verbrennen. Auf einem großen Scheiterhaufen im Garten. Egal, was die Nachbarn sagen würden.
Ein Bild jedoch hatte sie im Kopf an diesem Nachmittag. Das des Alten, wie er hilflos da lag, unfähig, noch irgendwelchen Schaden anzurichten. Nicht einmal mit Worten, geschweige denn mit seinen Händen.
Sie merkte, wie sich der Ring um ihre Brust öffnete, ihre Hände aufhörten zu zittern, und wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit machte.
Und obwohl sie wusste, dass noch lange nicht alles vorbei war, das Schlimmste war ausgestanden. Das war das Einzige, was zählte.
Diese Hilflosigkeit jedoch, die sie jahrelang gespürt hatte, die war nicht mehr da. Fast wäre sie an der Haltestelle auf und ab gehüpft vor Freude und Erleichterung, und am liebsten hätte sie laut gesungen. Was, das wäre egal. Hauptsache laut.
Und sie rief ihre liebste Freundin an. Und sagte nur:“Er stirbt. Was für ein Glück!“ Sie hörte, wie ihre Freundin am anderen Ende tief ein-und ausatmete und berührte das rote Hörersymbol ihres Handys. Mehr musste nicht gesagt werden, sie würden sich morgen treffen.
Sie schloss kurz die Augen, um das Bild noch einmal zu sehen. Wie er da hilflos lag, ausgeliefert und unfähig jedweder Regung. Und sah einen fetten Rahmen rund um das Bild. Fest, dunkel, unzerbrechlich anscheinend.
Dieses Bild würde sie in ihre Galerie hängen. Zu Hause natürlich. In ihre Galerie der ungemalten Bilder. Diese waren nur nachts zu sehen, wenn Tine die Augen schloss.
Tine allerdings verstand sich selbst nicht mehr.
Wie konnte sie nur solche Gedanken denken. In dem Moment, wo der Alte im Sterben lag. Und wie konnte sie ihn überhaupt in Gedanken den Alten nenne? Und woher kam der Hass auf ihre Schwester und ihre Mutter?
Wie ein Blitz war es eingeschlagen. Und sie wusste nicht, warum.
Was aber das Faszinierendste war – sie fühlte sich gut dabei. Kein bisschen schuldbewusst, wie sonst immer.
Sie stieg in die U-Bahn und genoss das Trubelige um sich herum. So konnte sie sich hinsezten, die Augen schließen und sich von der Geräuschkulisse trostvoll einhüllen lassen.
Diesmal jedoch erschien ihr auch hier ein Bild aus ihrer Galerie. Am hellichten Tage, mitten im Gewusel menschlicher Umgebung. Es überfiel sie sozusagen.
Es war das Bild mit dem fetten, verschnörkelten, prunkvollen, goldenen Rahmen.
Der ist fast größer, als das Bild selbst, auf jeden Fall aber eindrucksvoll, fast furchteinflößend.
Mittendrin zwei Mädchen, vorsichtig lächelnd, dahinter Vater und Mutter, der Vater hat jeweils eine Hand auf eine Schulter der Mädchen gelegt, die Mutter schaut zu ihm auf und lehnt sich an seine linke Schulter. Auch sie lächelt sanft, der Vater jedoch strahlt vor Besitzerstolz.
Sie sah dieses Bild vor sich und konnte sich nicht davon losreißen, nicht die Augen öffnen, nicht ihre Tränen wegwischen.
Dieser schreckliche Rahmen.
Sie spürte ihn förmlich.
Es gab kein Entweichen. Nicht für ein kleines Mädchen. Dafür war der Rahmen viel zu breit, zu stark, zu fest und zu eng.
Und natürlich viel zu schön, wie für eine Prinzessin eigentlich. Golden mit wunderschönen Mustern dazu.
Der gibt doch Halt, passt auf das Mädchen auf, schmückt es sozusagen. Könnte man denken.
Aber sie rüttelte daran. Eine lange Zeit.
Es tat weh, so oft. Aber sie rüttelte weiter.
Bis er an einer ganz kleinen Stelle brüchig wurde.
Und sie herausfiel.
Verletzt.
Du bist ein schreckliches Mädchen, sagte der Vater.
Die Mutter hatte dem nichts entgegen zu setzen.
Die Mutter hatte nie etwas entgegen zu setzen.
Sie war also ein schreckliches Mädchen.
Weil sie aus dem Rahmen gefallen war.
Aus diesem tollen Rahmen dieser tollen Familie.
Sie lebte mit diesem Gedanken, ein schreckliches, undankbares Mädchen zu sein.
Auch, als sie schon kein Mädchen mehr war.
Tine schaffte es doch irgendwie, die Augen zu öffnen, sah, dass sie noch in der U-Bahn war, und wischte sich die Tränen ab.
Und sie versuchte, die Rahmen für´s Erste zu vergessen.
Mit wackeligen Knien stieg sie an der richtigen Station aus, gelangte irgendwie zu ihrer Wohnung, nahm dort ein Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich auf ihre Couch fallen.
Da saß sie nun. Bemüht, nicht zu denken, nicht zu heulen, nicht umzufallen und nicht zum Telefon zu greifen.
So viel nichts.
Wer war sie überhaupt?
Rein äußerlich betrachtet ein Frau in den besten Jahren – oder sagt man das nur von Männern?
Egal, also ein Frau in den besten Jahren, erfolgreich im Beruf, gescheitert in zwei Ehen, in Liebe verbunden mit ihren Kindern und den kleinen Enkelmädchen, und im Moment allein und völlig durcheinander in ihrer gemütlichen Wohnung – mit kleinem Garten sogar - die sie sehr liebte, abgesehen von den Bildern.
Aus dem Rahmen gefallen. Was für ein Glück, denn Tine bekam langsam das Gefühl, dass sie keinen Rahmen mehr brauchte.
Und sie begann, Erleichterung zu spüren.