Besessen

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Xuscha

Mitglied
Erschrocken fuhr James aus dem Schlaf hoch und setzte sich schweißgebadet auf. Der Mond hüllte sein Zimmer in einen hellen Grauton und erleuchtete ihn schwach, und dennoch genug, sodass er sich im Spiegel gegenüber erkennen konnte. Er wirkte kraftlos. Seine Unterarme auf die Oberschenkel gelegt, betrachtete er seine zerzausten Haare, die an seiner Stirn klebten. Sein Oberkörper bewegte sich schwer auf und ab und er wirkte erschöpft.
Es war nur ein Albtraum… Er lachte leise. Das nur war mehr als unpassend, denn seine Träume entsprachen immer der Realität.
James dachte durchgehend an seine Mutter, der er nicht helfen konnte. Jahrelang verfolgten ihn nun schon diese Träume, die er verzweifelt abzuschütteln versuchte, doch vergeblich.
Ihre leblosen Augen, welche ihn anklagend anstarrten, würden ihn nun für den Rest seines Lebens verfolgen… und das zurecht.
Er allein war Schuld an ihrem Tod. James glaubte ihr nicht, als sie ihn verzweifelt darum bat, die Schule früher zu verlassen. Sie erklärte, es ginge ihr mal wieder nicht gut und somit dachte er, sie würde erneut simulieren. James lag falsch.
Monate vergingen und ihn plagten jede Sekunde nie endende Schuldgefühle. Irgendwann begannen die Lehrer, keine Rücksicht mehr auf seine Probleme zu nehmen und behandelten ihn wie jeden anderen auch. Doch James war nicht wie die anderen.
Er war ein Ausgestoßener. Andere Schüler machten sich lustig über ihn und gestalteten sein Leben noch schwerer, als es ohnehin schon war. Für sie war es ein Witz, ihm seine Sachen zu entwenden und sie an allen möglichen Orten zu verstecken, an denen es weitere Erniedrigungen gab. Das Mädchenklo war ein sehr beliebter Ort, James\' Sachen zu verstecken. Die Lehrer bemühten sich zwar, all die Attacken zu verhindern, doch sie konnten nicht an allen Orten sein, um ihn zu beschützen. Im Endeffekt war er allein und auf sich gestellt.
Sein rechtes Augenlid begann zu zucken. Er hasste es, denn es kam unvorbereitet und konnte nicht kontrolliert werden. Es war der Stress, den seine Träume, seine Mitschüler und sein Vater, der ihn bereits seit seiner Kindheit als Enttäuschung betrachtete, hervorriefen.
Ein Wunsch… nein, mehr ein Drang breitete sich durch seinen Körper aus und hinterließ eine innere Unruhe, die James nicht bändigen konnte. Und mit der Unruhe kam die Stimme erneut hervor, die ihm wie sooft dazu riet, sich der Gier hinzugeben und sich nicht dagegen zu wehren.
James stieß einen heftigen Schrei aus und schleuderte sein Kissen gegen den Spiegel.
Sein Herz begann zu rasen und das Blut pulsierte stark durch seine Adern. Seine Atmung beschleunigte sich und panisch überlegte er, wie er diesem Drang nur widerstehen konnte, wozu er jedoch bisher nie fähig war.
Er wollte sich nicht der Manie hingeben, doch sein Verlangen danach war zu stark und er zu unbeherrscht.
Sein Spiegelbild zog eine hässliche Grimasse und grinste ihn an. In ihm ertönte diese Stimme, die ihn jederzeit verfolgte, und ihn stets verführerisch dazu verlocken wollte, loszulassen.
James rang mit sich und kämpfte gegen den Eindringling an, der ihn schon so oft heimsuchte und gewaltsam überkam.
Es war wie ein Parasit, der sich hinterhältig in den Körper schlich und ihm seine Kontrolle raubte. Eine Besessenheit, die dazu bestimmt war, sich ewig in James\' Kopf festzusetzen.
Schon etliche Male krallte sie sich mit aller Kraft an ihn und James war unfähig sie abzuschütteln. Er war nicht stark genug und besaß nicht den Mut, sich anderen anzuvertrauen.
Sein Herz raste immer schneller und ein Druck bildete sich in seinen Armen aus. Er war nervös. Das letzte Mal erschien sein Verlangen vor zwei Tagen. Seitdem kehrte die innere Unruhe Stück für Stück zurück und mit ihr der Drang.
Erneut lockte ihn die Stimme im Inneren sich ihr hinzugeben und versuchte, James davon zu überzeugen, dass es ihm gut täte und einen Moment begann James\' Widerstand sich zurückzuziehen. Sein Verstand benebelte sich und durch sein Verlangen fragte er sich, warum er sich wehrte. Er besaß nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnte und er hatte niemanden, der sich um ihn sorgen würde. Warum also dagegen ankämpfen?
Zitternd trat er zu seinem Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade und betrachtete mit heftig schlagendem Herzen und schwitzenden Händen die große Ansammlung an Büroklammern, Reißnägeln, Scheren sowie Rasierklingen. Allein vom Anblick entspannte sich James, doch es reichte nicht aus, um sich zu beruhigen.
Erregt griff seine Hand nach einer noch nicht verwendeten Rasierklinge. Die innere Stimme redete ihm währenddessen weiter zu, dass es richtig sei und er sich besser fühlen würde.
Sie hatte Recht. Immer.
Sie wusste, was gut für ihn war, sie kannte die Lösung, um seine Leiden zu vermindern und James begann ihr wieder zu vertrauen. Er ließ sich von der Stimme überzeugen, dass der Schmerz sein Elend endgültig verjagen würde. Er wusste, dass die Bemühungen zuvor seine Qual nur für einen kurzen Augenblick verscheucht hatten, und dennoch klammerte er sich verzweifelt an die Hoffnung, der körperliche Schmerz würde seine seelischen Leiden irgendwann beenden.
James ließ sich auf sein Bett nieder und starrte auf seinen linken Arm, welcher von den alten Narben gezeichnet war. Er hatte schon etliche Kratzer ausgehalten und würde es auch weiterhin durchstehen.
Unruhig setzte er die Klinge an. Seine innere Stimme ermutigte ihn weiterhin dazu und erklärte, es sei der einzige Weg, um für einen Moment zu flüchten, doch irgendwo, tief verborgen in James, wusste er, dass es nicht helfen würde und es nichts gab, dass die Besessenheit besiegen konnte…
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Xuscha, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

nananuk

Mitglied
Hallo Xuscha,

ich finde die Gefühle des Prot deiner Geschichte sehr real geschildert, wie aus dem wahren Leben gegriffen. Wenn sie auf einem, eventuell selbst erlebten, wahren Kern beruht, hilft sie mir sehr, manche Mitmenschen besser verstehen zu können.

Lieben Gruß, nananuk
 



 
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