Das Ge'eimnis der Liebe

Nennt mich \'enri. Meine Eltern wollten es so. Geboren wurde ich in einem kleinen Vorort von Paris. Ich bin also sozusagen ein Landsmann Gottes und diese Vorliebe des Schöpfers für unsere nation ist vielleicht auch der Grund dafür, dass die Liebe in unserem Land eine besondere Rolle spielt. Sagen manche. Gesehen \'abe ich Gott, wie ich zugeben muss, aber noch nie. Und auch was die Liebe angeht, muss man sagen, dass die Franzosen in dieser \'insicht durchaus geteilter Meinung sind.

Da sind die einen, die an die Liebe glauben. Natürlich, sagen sie. Woran sollen wir sonst glauben? Kann man schließlich an etwas Schöneres und Edleres glauben als an die Liebe? Bon. Die anderen be\'aupten aber, das ist doch alles \'umbug. Die Liebe ist nichts weiter als eine Illusion. Ein Trick der Natur, dazu gemacht, Männlein und Weiblein zusammenzubringen zum Zwecke der Vermehrung. Sobald die Kinder geboren und ein paar Jahre vergangen sind, beginnt die Liebe abzukühlen und zu verwelken.

Die Liebe ist jedenfalls ein großes Rätsel. Man könnte meinen, dass wenigstens die Franzosen wissen, was das Ge\'eimnis der Liebe ist, aber die meisten \'aben keine Ahnung. Unter den Franzosen gibt es in der Liebe nicht seltener Enttäuschungen, Streit, Dramen, Scheidungen und Gerichtsprozesse als bei anderen Völkern auch und manchmal wird das, was als große Liebe begann, zu etwas, das von \'ass nicht mehr weit entfernt ist.

Nur wenige wissen, was das Große der Liebe wirklich ausmacht. Ich ge\'öre zu den wenigen Auserwählten. Ich \'abe es \'erausgefunden. Wie ich das gemacht \'abe? Ganz einfach. Indem ich mich dumm angestellt \'abe. Ich bin durch Versuch und Irrtum darauf gekommen. Ich \'abe versagt. Jetzt bin ich klüger, aber unglücklich.

Vermutlich \'ätte ich es nie erfahren, \'ätte mich mein beruflicher Weg nicht ins Ausland geführt, wo ich Rhea kennen lernte. Sie war ein wenig undefinierbar, könnte man sagen, aber sie \'at mich vom ersten Augenblick an fasziniert – schon wegen ihrer braunen Locken, die jedoch von der Farbe \'er nicht ein\'eitlich waren, sondern verschiedene Brauntöne aufwiesen, die unregelmäßig über ihren \'aarschopf verteilt waren. Sie färbte ihre \'aare, aber sie machte es so geschickt, dass es über\'aupt nicht künstlich aussah, sondern wie eine Laune der Natur.

Sie \'atte diese kreative Energie, die Fä\'igkeit, sich etwas Neues auszudenken und in die Tat umzusetzen. Des\'alb war sie auch Modedesignerin geworden. Aber sie entwarf nicht das nutzlose Zeug, das man so \'äufig in den Läden findet, sondern Klamotten, die praktisch brauchbar und trotzdem nicht ohne Stil waren.

Gemeinsam \'atten wir einen wunderbaren Sohn, den wir auf den Namen Bernard getauft \'atten. Mon dieu. Ich war sehr stolz auf Bernard. Er war ein cleveres Kerlchen, das muss man sagen. Manchmal vielleicht sogar ein wenig zu clever für meinen Geschmack. Eines Abends saßen wir drei in der Küche beim Essen beisammen, als Bernard mich fragte:

„Papa, was sind eigentlich Gene?“.

Alors“, sagte der Papa, „die Gene, das sind unsere Erbanlagen. Sie bestimmen, was wir für Eigenschaften \'aben, also wie wir aussehen, was wir für Begabungen besitzen, zum Teil vermutlich auch, was wir für einen Charakter \'aben. Und so weiter.“

„Und ich \'abe meine Erbanlagen also von euch?“, bohrte Bernard weiter.

„Na klar“, sage ich.

„Aber Papa“, meint Bernard, „wieso \'abe ich dann gar keine Ähnlichkeit mit dir?“.

„Das kommt noch“, sage ich. „Du bist ja noch ein Kind, da kannst du schließlich nicht ausse\'en wie ein Erwachsener. Wenn du erst groß bist, wirst du sicher so ähnlich ausse\'en wie ich jetzt.“

Damit gab er sich vorläufig zufrieden. Allerdings war er, wie ich zugeben muss, nicht der Erste, der mir diese Frage gestellt \'atte. Um ganz ehrlich zu sein, \'atte eigentlich noch nie jemand be\'auptet, Bernard würde mir wie aus dem Gesicht geschnitten se\'en. Dazu kam vielleicht noch, dass bei ihm wirklich eine Laune der Natur zugeschlagen \'atte. Weder Rhea noch ich \'atten von Natur aus blonde \'aare – Bernard dagegen schon. Nicht, dass ich mir darüber viele Gedanken machte. Immer\'in \'atte es unter meinen Vorfahren einige blonde Personen gegeben, außerdem \'atte man mir gesagt, dass es ganz normal wäre, wenn ein Kind mit blonden \'aaren zur Welt käme. Sie würden mit der Zeit vermutlich ganz von selbst dunkler werden.

Allerdings wurden sie nicht dunkler und es gab in meinem Bekannten- und Kollegenkreis ein paar Leute, die sich einen Spaß daraus machten, \'inter meinem Rücken, aber durchaus in meiner Anwesen\'eit, Bemerkungen über die angeblich mangelnde Ähnlichkeit zwischen mir und meinem Sohn fallen zu lassen. Es wäre ja immer\'in möglich, dass Bernard nicht, wie man sagt, vom Storch, sondern vom Kuckuck gebracht worden wäre. Ich sagte ihnen, wenn sie derartige Befürchtungen \'ätten, dann sollten sie das gefälligst mit Rhea abmachen, die würde ihnen schon sagen, was sie von solchen Verdächtigungen \'ielt. Aber das taten sie natürlich nicht. Statt dessen stichelten und stichelten sie, vermutlich weil sie es nicht ertragen konnten, dass ich mir der Treue Rheas so verdammt sicher war.

Einmal, auf einer Betriebsfeier, als wir alle nicht mehr ganz nüchtern waren, sagte jemand, wenn ich mit solcher Sicher\'eit wüsste, dass Bernard mein eigener Sohn sei, dann bräuchte ich ja keine Angst davor zu \'aben, einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Sie sagten, wenn ich tatsächlich Bernards Vater wäre, dann würden sie zusammenlegen und ich bräuchte keinen einzigen Cent für den Test zu bezahlen. Wenn ich dagegen nicht der Vater wäre, dann sollte ich selbst für die Kosten aufkommen.

Nun war es leider verboten, einen solchen Test \'eimlich und ohne die Zustimmung seines Kindes durchführen zu lassen. Aber wie es der Teufel wollte, \'atte einer von den Kollegen einen Bekannten, der in einem solchen Labor arbeitete und gegen ein angemessenes Bestechungsgeld solche Tests auch \'eimlich durchführte. Und da ich \'ier die Chance \'atte, meinen Kollegen eins auszuwischen und sie dafür auch noch bezahlen zu lassen, stimmte ich schließlich zu.

Als ich abends nach \'ause kam, ging ich zu Bernard, der bereits im Bett lag und noch ein Buch las, und bat ihn, mir bei Gelegen\'eit einige seiner \'aare zu überlassen, die ich angeblich für einen Talisman benötigte. Ich bräuchte die \'aare aber vollständig mit ihren Wurzeln, weil sonst der Talisman wirkungslos wäre.

Rhea war nicht begeistert, als ich ihr erzählte, was ich besoffen verzapft \'atte, aber ich konnte nun nicht mehr zurück und sie sagte schließlich, mit dem Test wären dann wohl endgültig alle Spekulationen vorüber, also \'ätte die Sache auch ihr Gutes.

Am nächsten Tag brachte Bernard mir die versprochenen \'aare. Anstatt aber einen Talisman daraus zu machen, stopfte ich sie in ein steriles Glasröhrchen und übergab es persönlich an den Mann, der den Test durchführte. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich den Umschlag mit dem Ergebnis in Rheas Gegenwart mit betonter Gleichgültigkeit öffnete.

Wir wohnten in einem alten \'aus, das Rhea so gut gefallen \'atte und das viel schöner war als die modernen \'äuser von \'eute. Das \'aus \'atte uns zwar die Feindschaft einer grünen Nachbarin eingebracht, die ein paar \'äuser weiter wohnte, weil wir noch Kohle\'eizung \'atten, weil die Fenster nicht isoliert waren und das \'aus auch sonst eine umwelttechnische Katastrophe war, aber dafür wurden wir nie krank und \'atten als Untermieter Spinnen, Vögel, Fledermäuse und andere nützliche Tiere, die die Insekten wegfingen. Rhea lag im Garten, den sie selbst angelegt \'atte und an dem manchmal Passanten ste\'en blieben und sich über ihn wunderten, denn er war voller bunter Blumen und \'o\'er Gräser und Sträucher und genau wie bei ihren \'aaren konnte man nicht sagen, ob die Blumen von Natur aus so gewachsen oder ob sie absichtlich dort gepflanzt worden waren.

Sie lag dort also auf einer \'ängematte und schaukelte sachte vor sich \'in, die \'ände \'inter dem Kopf verschränkt. Sie \'atte ihre Bluse nicht zugeknöpft, sondern die Enden über dem Bauch zusammengeknotet, so dass man ihren Bauchnabelstern sah, der neben ihren Ohrringen fast ihr einziger Schmuck war. Er war aus Silber und auf jedem Strahl saß ein winziger bunter Edelstein, jeder von einer anderen Farbe. Die Farben bedeuteten etwas, aber ich \'atte nicht ganz verstanden, was es war. Als ich nun den Umschlag öffnete und das Ergebnis las, \'atte ich das Gefühl, eine kräftige Faust würde mir mitten in das Gesicht schlagen, denn dort stand, dass ich mit 99,99-prozentiger Sicher\'eit nicht Bernards Vater wäre.

Auch Rhea war bestürzt und versicherte mir, es müsse ein Irrtum vorliegen und es gebe ganz bestimmt nur einen Mann, der Bernards Vater sein könnte, es sei denn, der \'eilige Geist \'ätte auf ge\'eimnisvolle Weise eingegriffen. Natürlich ging ich zu dem Mann, der den Test durchgeführt \'atte und sagte ihm, er müsse einen Fehler gemacht \'aben, denn das Testergebnis war falsch. Der Mann war völlig verdattert und ich sah, dass er mir nichts vormachte. Er sagte, das Ergebnis könne nicht falsch sein, aber wenn ich wollte, könnte er den Test noch einmal durchführen. Ich musste ihn dann zwar noch einmal bezahlen, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich \'atte noch ein paar \'aare von Bernard übrig und der Test wurde noch einmal durchgeführt. Doch zu meinem Entsetzen war das Ergebnis wieder dasselbe. Ich war eindeutig nicht Bernards Vater.

Rhea versicherte mir nach wie vor, dass sie mich niemals betrogen \'atte, aber ich tat das, was ihr in dieser Situation vermutlich auch getan \'ättet. Ich sagte zur ihr: Ein Mensch kann lügen; ein wissenschaftlicher Test nicht, n\'est-ce pas? Dann packte ich das Nötigste zusammen und verließ meine wunderbare Lebensgefährtin ohne Abschiedsgruß.

Mit Bernard traf ich mich noch regelmäßig. Er war sicher nicht glücklich darüber, dass die intakte Familie, die wir bis\'er gewesen waren, auseinandergebrochen war, und ich war mir nicht sicher, ob er wirklich verstand, was gesche\'en war. Es blieb mir nichts weiter übrig, als ihm zu sagen, dass ich mich geirrt \'atte, und wenn er wissen wolle, wer sein wirklicher Vater war, müsse er sich an seine Mutter wenden.

Es dauerte ein Jahr, bis Bernard die Zusammen‘änge richtig verstanden \'atte, und dann dauerte es noch eine Weile, bis er sich traute, die Wahr\'eit zu sagen. Eines Tages bekam ich einen Brief von Rhea, in dem sie mir berichtete, dass die \'aare, die Bernard mir gegeben \'atte, gar nicht von ihm stammten, sondern von einem Freund, der zufällig auch blond war. Er \'atte ja geglaubt, ich bräuchte die \'aare für einen Talisman, und da er einen gut entwickelten \'umor \'atte, \'ielt er es offenbar für eine besonders lustige Idee, mir die \'aare eines anderen zu geben, um zu se\'en, ob ich einen Unterschied bemerken würde. Da war es natürlich kein Wunder, dass der Gentest meine Vaterschaft nicht bestätigen konnte.

Ich rief Bernard an und sagte ihm, dass ich ihm nicht böse wäre, schließlich war es ja meine Schuld, dass ich ihm, was den Verwendungszweck der \'aare anging, nicht die Wahr\'eit gesagt \'atte. Und ich fragte Rhea, ob sie mir noch einmal verzei\'en würde und wir wieder eine richtige Familie werden könnten. Aber sie verzieh mir nicht, sondern bezeichnete mich als Verräter, weil ich ihr nicht geglaubt \'atte. Schließlich \'atte der Gentest nur mit 99,99-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausgesagt, dass Bernard einen anderen Vater \'atte, sie aber \'ätte mit \'undertprozentiger Sicher\'eit gewusst, dass ich der Vater war. Und \'undert Prozent sind zweifellos mehr als 99,99 Prozent.

Und des\'alb: Wenn ihr einmal in einer ähnlichen Lage seid wie ich, dann glaubt nicht einem verdammten wissenschaftlichen Test, sondern dem Menschen, der euch liebt. Andernfalls \'abt ihr seine Liebe nicht verdient.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mark Sternwaldt, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Angene'm zu lesende Geschichte. :) Nach großer Spannung verpufft nur das Ende ein wenig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein weiteres reibungsloses Zusammenleben gibt. Vielleicht kannst Du das noch ein bisschen dramatisieren.

Für die Lesbarkeit wäre die Entfernung der Schrägstriche von Vorteil.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
Oben Unten