Das Leben der Ratten

JosephJoseph

Mitglied
Das Leben der Ratten

Erdgeschoss:

Hunderttausend kleine Füße Tip Tap über den kruden Asphalt, weiter über die Brücke in die Stadt hinein Tip Tap, in welcher der Dreck so süßlich riecht und das Glück auf der Straße liegt.

Tip Tap Hunderttausend kleine Füße laufen in die Stadt, Körper an Körper gedrängt, alle zusammen. Es ist warm, aber es muss weiter gehen Tip Tap immer weiter geradeaus, liebe Freunde.

Da kommen die Gebäude: Rechts und links stechen sie in die graue Luft hinauf bis zu den finsteren Wolken und vielleicht noch weiter. Überall leuchtet es in allen Farben: Reklamen, Schriften, Aufhänger, Poster und Leuchtstoffröhren auf den farblosen Wänden. Alles übertrieben, überall zu viel und alles will deine Aufmerksamkeit, will dir was verkaufen, etwas andrehen, komm doch, es wird dein Leben besserer machen, dich Glücklich machen im Alltag, Beruf und mit der Familie; du brauchst es, weil sonst geht es nicht.

Die kleinen, schwarzen Äuglein, wegen der vielen neuen, verstörenden Sinneseindrücke weit aufgerissen, reflektieren das Spektakel, werfen das Licht der pinken Neonröhren zurück. Und die Masse läuft weiter Tip Tap hunderttausend kleine Füße auf dem kruden Asphalt.

Erster Stock:

Irgendwie hat er es geschafft sich eine Wohnung zu mieten, so gar nicht so weiter weg vom Zentrum, wo die Preise eigentlich nicht schaffbar sind für ein einfaches Bürowesen wie ihn. Es ist eine nette Wohnung im siebenundvierzigsten Stock, mit großen Fenstern und dem Blick hinab auf die tiefen Häuserschlucht gefüllt mit phosphoreszierenden Farben. Er hat ein rotes kleines Sofa und einen Fernseher, der den ganzen Tag läuft und oh, sieh an, er hat eine hübsche kleine Freundin gefunden, da auf dem Sofa, siehst du sie nicht? Sie macht sich die Nägel weil sie heute mit den Freundinnen weggeht und hat sich einen neuen Choker gekauft, weil so einen hat gerade jede Frau und man muss mitgehen, muss mitlaufen Tip Tap wenn man nicht den Anschluss verlieren will, sonst fällt man zurück und dann ist man unwiderruflich verloren. Apropos mitlaufen, weitergehen, nicht den Anschluss verlieren, du musst zur Arbeit. jetzt. weil die Straßen sind überfüllt und die U-Bahnen auch und sonst wirst du zu spät kommen. Krawatte sitzt, Aktenkoffer zwischen den Pfoten los geht´s, mehr braucht man nicht im Büro, das Gehirn kannst du zu Hause lassen - Kein Problem ich hab´s eh schon abgegeben.

Dachgeschoss:

Es ist windig und vielleicht ist ihm auch ein wenig schwindlig da oben am Rand der Welt, am Rand von Allem. Die farbige Hölle unter ihm, leuchtend, pulsierend wie ein Herz, ist jetzt Matt und dumpf durch den Rauch darüber, den Smog, der die Atmenden bedeckt wie eine Decke den Schlafenden. Hier oben ist es ruhig, nur der Wind in den Ohren. Das ist der hundertunddritte Stock, das Dachgeschoss, drüber gibt es nichts mehr. Die Aufzugfahrt war lang, fast ewig; neben ihm solche wie er, emotionslose Masken, müde Augen, manche gähnen. Alle Krawatten, alle Aktenkoffer, alle gleich, nur er nicht. Diesmal nicht. Er geht nicht zur Arbeit, zum gleichen Tag ein Tag aus eintönigen Gruppenerlebnis, bei dem jeder doch nur für sich ist - Nein - er fährt bis ganz nach oben.

Jetzt ist er da, ganz oben angekommen, Glückwunsch. Er hat die Leiter erstiegen, jede Sprosse hart erkämpft und bei jeder hat er ein wenig mehr von sich selbst zurück gelassen. Jetzt, am Ende, ist ihm gar nichts mehr geblieben. Es ist nur ein kleiner Schritt für ihn, mehr nicht, und er fällt, fällt lange, immer weiter. Die Farben kommen zurück, der Lärm, die ganze Welt wie sie ist und war und immer sein wird. Aber das dauert nur kurz an, dann ist alles vorbei. Er schlägt auf, verspritzt Blut und Innereien auf dem harten Pflasterstein. Es kümmert niemanden. Die Ratten laufen weiter Tip Tap eng aneinander gedrängt, Körper an Körper, über ihn hinweg Tip Tap immer weiter durch Blut und Dreck; Hunderttausend kleine Füße Tip Tap.

Es muss weiter gehen liebe Freunde, muss weiter gehen.

Tip Tap Tip Tap Hunderttausend kleine Füße laufen durch die große Stadt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo JosephJoseph, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

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JosephJoseph

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Hunderttausend kleine Füße Tip Tap über den kruden Asphalt, weiter über die Brücke in die Stadt hinein Tip Tap, in welcher der Dreck so süßlich riecht und das Glück auf der Straße liegt.

Tip Tap Hunderttausend kleine Füße laufen in die Stadt, Körper an Körper gedrängt, alle zusammen. Es ist warm, aber es muss weiter gehen Tip Tap immer weiter geradeaus, liebe Freunde.

Da kommen die Gebäude: Rechts und links stechen sie in die graue Luft hinauf bis zu den finsteren Wolken und vielleicht noch weiter. Überall leuchtet es in allen Farben: Reklamen, Schriften, Aufhänger, Poster und Leuchtstoffröhren auf den farblosen Wänden. Alles übertrieben, überall zu viel und alles will deine Aufmerksamkeit, will dir was verkaufen, etwas andrehen, komm doch, es wird dein Leben besserer machen, dich Glücklich machen in Alltag, Familie und Beruf; du brauchst es, weil sonst geht es nicht.

Die kleinen, schwarzen Äuglein, wegen der vielen neuen, verstörenden Sinneseindrücke weit aufgerissen, reflektieren das Spektakel, werfen das Flimmern der Lichter zurück. Und die Masse läuft weiter Tip Tap hunderttausend kleine Füße auf dem kruden Asphalt.


Erster Stock:

Irgendwie hat er es geschafft sich eine Wohnung zu mieten, so gar nicht so weit weg vom Zentrum; dort sind sie nicht leistbar für ein einfaches Bürowesen wie ihn. Es ist eine nette Wohnung im siebenundvierzigsten Stock, mit großen Fenstern und dem Blick hinab in die tiefe Häuserschlucht, gefüllt mit phosphoreszierenden Farben. Er hat ein blaues kleines Sofa und einen Fernseher, der den ganzen Tag läuft und oh, sieh an, er hat eine hübsche kleine Freundin gefunden, da auf dem Sofa, siehst du sie nicht? Sie macht sich die Nägel weil sie heute mit den Freundinnen weggeht und hat sich einen neuen Choker gekauft, weil so einen hat gerade jede Frau und man muss mitgehen, muss mitlaufen Tip Tap wenn man nicht den Anschluss verlieren will, sonst fällt man zurück und dann ist man unwiderruflich verloren. Apropos mitlaufen, weitergehen, nicht den Anschluss verlieren, du musst zur Arbeit - Jetzt - weil die Straßen sind überfüllt und die U-Bahnen auch und sonst wirst du zu spät kommen. Krawatte sitzt, Aktenkoffer zwischen die Pfoten los geht´s, mehr braucht man nicht im Büro, das Gehirn kannst du zu Hause lassen - Kein Problem ich hab´s eh schon abgegeben.


Dachgeschoss:

Es ist windig und vielleicht ist ihm auch ein wenig schwindlig da oben am Rand der Welt, am Rand von Allem. Die farbige Hölle unter ihm, leuchtend, pulsierend wie ein Herz, ist jetzt matt und dumpf durch den Rauch darüber, den Smog, der die Atmenden bedeckt wie eine Decke den Schlafenden. Hier oben ist es ruhig, nur der Wind in den Ohren. Das ist der hundertunddritte Stock, das Dachgeschoss, drüber gibt es nichts mehr. Die Aufzugfahrt war lang, fast ewig; neben ihm solche wie er, emotionslose Masken, müde Augen, manche gähnen. Alle Krawatten, alle Aktenkoffer, alle gleich, nur er nicht. Diesmal nicht. Er geht nicht zur Arbeit, zum gleichen Tag ein Tag aus eintönigen Gruppenerlebnis, bei dem jeder doch nur für sich ist - Nein - er fährt bis ganz nach oben.

Jetzt ist er da, ganz oben angekommen, Glückwunsch. Er hat die Leiter erstiegen, jede Sprosse hart erkämpft und bei jeder hat er ein wenig mehr von sich selbst zurück gelassen. Jetzt, am Ende, ist ihm gar nichts mehr geblieben. Es ist nur ein kleiner Schritt für ihn, mehr nicht, und er fällt, fällt lange, immer weiter. Die Farben kommen zurück, der Lärm, die ganze Welt wie sie ist und war und immer sein wird. Aber das dauert nur kurz an, dann ist alles vorbei. Er schlägt auf, platzt, wie ein Ballon, spritzt Blut und Innereien auf den harten Pflasterstein. Es kümmert niemanden. Die Ratten laufen weiter Tip Tap eng aneinander gedrängt, Körper an Körper, über ihn hinweg Tip Tap immer weiter durch Blut und Dreck; Hunderttausend kleine Füße Tip Tap.

Es muss weiter gehen liebe Freunde, muss weiter gehen.

Tip Tap Tip Tap Hunderttausend kleine Füße laufen durch die große Stadt.
 



 
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