Das rosa Kleid

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Eremit

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Glinea ist eine große, aus Stein errichtete Stadt. Im Herbst durchflutete zäher Nebel die Kopfsteinpflaster-Straßen. Als Diko Filzhut seine Kanzlei nach einem anstrengenden Arbeitstag verließ, beschloss er den letzten Rest des Tageslichtes mit einem Spaziergang zu nutzen.
Er wählte eine kleine Gasse, die von der vielbefahrenen Hauptstraße mit ihrem Lärm und Schmutz abzweigte.
Die Luft roch nach dem Rauch, der aus unzähligen Kaminen quoll. Diko vermisste den Hauch des Meeres, der frisch und herb an windigen Tagen bis in die hintersten Stadtteile vordrang.
Die Aussicht auf den Winter war ohnehin bedrückend. Diko versuchte nicht daran zu denken, wie es sich anfühlte, morgens das Eis in der Waschschüssel zu zerschlagen.
Ganz in Gedanken versunken wäre er beinahe an dem Schaufenster eines Geschäftes vorbei gegangen, das neu sein musste.
Ein leuchtend rosarotes Kleid sprang ihm ins Auge. Erstaunt blieb er stehen. Noch nie zuvor hatte er so ein Kleid gesehen! Es schien nur aus Rüschen zu bestehen und schimmerte wie ein frisch geborenes Ferkel. Mit einem Schlag war der trübe Herbstabend vergessen. Dikos Augen leuchteten als er unter Glockengebimmel die Tür des Geschäftes öffnete.
Eine Stunde später drehte sich Dikos Gemahlin, Ria Filzhut, in dem rosaroten Traum stolz vor dem Spiegel hin und her.
"Das ist ein besonderes Kleid", sagte sie zu Diko. "In diesem Kleid muss eine Frau Gäste empfangen!"
"Ich werde meinen Kollegen und dessen Gattin..." begann Diko, aber seine Frau unterbrach ihn barsch.
"Nein doch nicht diese, verzeih den Ausdruck, Bürohengste. Gäste von Adel verlangt dieses Kleid, Prinzen, Prinzessinnen..."
"Donnerwetter", entfuhr es Diko. Auf diese Idee wäre er nicht im Traum gekommen.
Aber wie sollte ein kleiner Kanzleiangestellter wie er zu Prinzen, ja sogar Prinzessinnen kommen?
"Das werden wir ja sehen", sagte Ria auf einen dementsprechenden Einwand von ihm und raffte ihren herrlichen Rüschenrock.
Ehe er protestieren konnte, hatte sie eine Einladung an den Palast verfasst und machte sich persönlich auf den Weg, um sie abzugeben.
Diko ahnte nichts Gutes. Und tatsächlich genügte ein Blick auf die zerknirschte Miene seiner Gattin, als sie wenig später zurückkehrte, um zu erraten, was geschehen war.
"Ausgelacht haben sie mich", klagte Ria. "Der Wachsoldat nannte mich ein Marzipanschweinchen!"
Diko unterdrückte ein aufsteigendes Kichern und nahm seine Frau tröstend in die Arme.
"Für mich bist du die Allerschönste. Schöner als alle Prinzessinnen."
"Ist das auch wahr?"
"Sonst hätte ich dir doch das Kleid nicht gekauft", argumentierte Diko.
Sie tranken zusammen ein Gläschen von süßem Dessertwein und bald lachten sie beide über das Vorgefallene.
Als sich Ria später an ihren Mann schmiegte und die Augen schloss, hatte sie einen intensiven Traum.
Das neue Kleid erschien getragen von einer Lichtgestalt, die hell schimmerte.
"Dieses Kleid soll das Schicksal deiner Tochter bestimmen. Bewahre es für spätere Generationen", sprach das Lichtwesen.
Als Ria erwachte, war sie so aufgewühlt, dass sie aufstehen und ein Glas Wasser trinken musste.
Nachdenklich blickte sie auf das Rüschenkleid, das im Mondlicht über einem Stuhl hing.
Schließlich faltete sie es zusammen und legte es in eine Truhe. Merkwürdig erschien der Traum vor allem, weil ihre Ehe seit nunmehr zehn Jahren kinderlos geblieben war.
"Träume sind Schäume", murmelte sie kopfschüttelnd, bewahrte das Kleid jedoch trotzdem sorgfältig auf. Zwei Monate später wurde sie schwanger.
"Vielleicht bin ich abergläubisch", gab sie Diko gegenüber zu, "aber irgendwie glaube ich, das rosa Kleid hat uns Glück gebracht."
"Weil ich es aus Liebe gekauft habe", bemerkte ihr Ehemann vergnügt. "Jetzt bekomme ich einen Stammhalter."
"Es wird ein Mädchen", erwiderte Ria, "und sie wird eines Tages mein Kleid tragen."
Sie sollte auf der ganzen Linie recht behalten.
Der Prinz von Glinea, Géduin von Wolfzahn, hatte in seinem zwanzigjährigen Leben schon viel erfahren. Zwei Internate der adeligen Elite hatten ihm beigebracht, was ein Edelmann wissen musste. Reisen in alle Teile des Kontinents sollten seine Erziehung vervollkommnen. Statt dessen hatten sie ihn zum Suff und in die Spielsucht getrieben. Er war schön, er war jung, er war reich und ganz und gar unglücklich.
Weil sich das herrschende Ehepaar von Glinea Sorgen um ihren Sohn machte, drängten sie ihn zur Heirat. Eine Frau, so versprachen sie sich, würde einen mäßigenden Einfluss auf den Prinzen haben.
Géduin blieb keine Wahl als eine Reihe unendlich langweiliger Bälle über sich ergehen zu lassen. Er lernte Damen und adelige Töchter kennen, die ebenso wohlerzogen wie graziös waren. Aber keiner gelang es, trotz der geschmackvollen Garderobe und dem mädchenhaften Augenaufschlag, sein Herz zu gewinnen. Im Gegenteil, er wurde immer abweisender und ruppiger und ertränkte seinen Frust in literweise Rotwein.
Als er nach einer solchen durch zechten Nacht erst zu Mittag mit grässlichen Kopfschmerzen erwachte, beschloss er auszureiten um seinen Kater mit frischer Luft zu vertreiben.
Er lenkte seinen Rappen durch die Straßen zum Stadttor, als er mitten in dem Menschengewühl etwas sah, was so rosarot war, dass seine Augen schmerzten. Erstaunt stoppte er das Pferd. Ein solches Kleid hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Es war so voller Rüschen, dass die junge Frau, die darin steckte, in einer rosafarbenen Wolke schweben zu schien. Ein Gelächter stieg in ihm auf, doch auf dem Weg zum Mund blieb es stecken. Es lag an der tiefen und stolzen Würde, mit der das Mädchen ihr Kleid trug, während sich die Passanten kichernd nach ihr umdrehten. Sie war so von sich überzeugt, dass ihr rundes, hübsches Gesicht plötzlich für Géduin das Schönste war, was er je gesehen hatte.
Er sprang aus dem Sattel, zerrte sein Pferd durch das Gewühl und rief laut: “Du! Bleib stehen! Ja, du in dem rosa Kleid.”
Das Mädchen folgte seinem Befehl und sah mit einem kleinen, süßen Doppelkinn zu ihm auf.
“Wie ist dein Name?”
“Atlana.”
“Und wie noch?”
“Atlana Filzhut”, antwortete sie trotzig. Eine Weile blickte sich das ungleiche Paar in die Augen.
Und dann spürte Géduin ein völlig neues Gefühl in sich aufsteigen, eine tiefe, beglückende Wärme.
Er lächelte auf das Mädchen hinab, es war ein Lächeln, für das dutzende Prinzessinnen ihren linken Arm gegeben hätten. Aber keine von ihnen bekam es, sondern Atlana Filzhut, Tochter eines einfachen Kanzleiangestellten.
Sie hatte kaum Zeit sich zu wundern, über den schönen jungen Mann mit den dunklen Augen und dem schiefen Lächeln, das eine tiefe Unruhe in ihr auslöste.
Géduin hatte sie gefunden, und für den Rest seines Lebens sorgte er dafür, dass Atlana nicht mehr fort ging. Sie wurde trotz der Proteste von Géduins Eltern die Königin von Glinea.
Was das Mädchen aus dem Volk in dieser Position erlebte, ist eine weitere Geschichte.
 

flammarion

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Hallo Eremit, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

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Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


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