Der Liebhaber

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Charon

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S. stürmte ins Haus, verschloss eilig die Tür und hielt sich erschöpft am Treppengeländer fest. Hastig schnappte er nach Luft, während sich Schweiß in feinen Perlen auf seiner Stirn bildete. Es war dunkel im Haus und nur die Straßenlaternen außerhalb spendeten spärliches, durch die Fenster einfallendes, Licht. Eine beunruhigende, ja geradezu beängstigende Ruhe lastete auf dem Grundstück und S. fühlte sich dem Tode so nahe wie noch nie zuvor. Seine Lungen brannten bei jedem Atemzug wie Feuer.
Die Fremden hatten ihm in seinem Garten aufgelauert. Er war ihnen ausgewichen und um das Haus geflohen, doch wo immer er auch hinrannte, warteten sie dort bereits auf ihn. Sie waren einfach zu zahlreich und hatten das Haus umzingelt, womit sie wohl auf Nummer sicher gehen wollten, ihn auch wirklich zu erwischen und anschließend zur Strecke zu bringen. Mit mehr Glück als Verstand hatte er es jedoch irgendwie geschafft ihren Fängen zu entwischen und ins Haus zu gelangen.
S. war panisch. Seine Beine fühlten sich schwach an und er hatte Mühe standhaft zu bleiben. Er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Immerhin war er nur ein ganz normaler Bürger, der sich keinerlei Schuld zuzuschreiben hatte. Und trotzdem hatten sie ihn überfallen und wollten nun seinen Kopf. In Scharen waren sie gekommen und forderten sein Blut, aber S. war noch nicht bereit zu sterben.
Bereits vor einigen Tagen hatte er die Eindringlinge bemerkt. Sie hatten in seinem Garten gestanden und ihn mit unbewegten Augen angestarrt, wartend, jederzeit bereit zuzuschlagen. Er wusste weder, woher sie gekommen waren, noch wer sie eigentlich waren. Plötzlich waren sie da gewesen und hatten ihn bedrängt. Und das in seinem eigenen Heim.
Es musste etwas geschehen. Sie waren dort draußen und er hier drin. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Haus stürmen und ihn seiner menschlichen Existenz berauben würden. Und er konnte und wollte nicht einfach nur tatenlos darauf warten bis seine Henker kamen, um ihn zur Schlachtbank zu führen.
Noch etwas zittrig vor Erschöpfung, aber dennoch gezielt, stapfte er in die Kammer, öffnete mit seiner Geheimkombination den Sicherheitsschrank und schnappte sich sein Gewehr, das alte Jagdgewehr seines Vaters.
Zusammen mit einem ganzen Satz Patronen begab er sich in das erste Obergeschoss. Im Schlafzimmer angekommen öffnete er das Fenster und stieg auf die Überdachung der Veranda.
Und da sah er sie wieder. In Massen standen sie in seinem weitläufigen Garten verstreut. Einige waren ihm direkt zugewandt, andere wiederum schienen ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.
Er wurde einfach nicht schlau aus diesen Männern. Doch eines wusste er mit Gewissheit, sie wollten ihn tot sehen. Allerdings würde er sich ihnen sicherlich nicht kampflos ausliefern. S. nahm sein Gewehr, lud eine Patrone und gab einen Schuss in die Luft.
„Okay, ihr könnt jetzt verschwinden! Verschwindet und lasst mich in Ruhe!“, brüllte er in die Reihen der Feinde. “Geht nach Hause und keinem wird etwas geschehen. Ich habe hier genügend Munition, um jeden von euch zweimal zu erschießen“, behauptete er kühn.
Natürlich stimmte seine letzte Aussage nicht, aber woher sollten die das denn wissen. Entgegen seiner Erwartung geschah jedoch gar nichts. Die Angreifer standen einfach da und starrten zu ihm hinauf. Keiner floh und keiner stürmte auf das Haus los. Es war zum Verrücktwerden.
„Na gut, wenn ihr nicht gehen wollt, dann werde ich wohl ernst machen. Ich möchte das nicht, aber lieber ihr als ich!“, rief S., womit er jedoch eher versuchte, sich selbst Mut zum Handeln zuzureden als den anderen wirklich Angst einzujagen.
Noch einmal lud er eine Patrone und setzte an, dann kam der Schuss. Knapp vor den Füßen eines Mannes spritzten Erdbrocken auf. Doch auch diesmal konnte S. keine Wirkung erzielen. Der Mann hatte nicht einmal gezuckt. Waren sie so darauf besessen, ihn zu fassen?
S. schüttelte ungläubig den Kopf und lief unruhig, wie ein Tiger im Käfig, einige Schritte auf und ab. Er blickte immer wieder herunter in den Garten und wurde sich nach und nach seiner verzweifelten Lage bewusst. Selbst wenn er einen nach dem anderen erschießen würde, so konnte er nicht alle erwischen. Es waren einfach zu viele. Sein Garten war geradezu übersäht mit diesen seltsamen Gestalten. Vermutlich gehörten sie alle zu einer Sekte oder ähnlichem und wollten mit ihm einen okkulten Opferritus durchführen. Das würde auch erklären, warum sie alle gleich gekleidet waren.
„Verschwindet!“, befahlt S. flehend mit aller Kraft in seiner Stimme, die er noch aufbringen konnte. Immerhin hatte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Ach, etwa seit einer Woche bekam er nachts kaum ein Auge mehr zu. Er war einsam, hatte keine Angehörigen und so gut wie keine Bekannte geschweige denn Freunde mehr, weswegen ihn vermutlich auch niemand vermissen würde, wenn er nicht mehr da wäre. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb sie gerade ihn aufsuchten?
Er setzte sich auf die Dielen und vergrub sein Gesicht tief in seinen Händen. Kleine Tränen schossen ihm in die Augen. Er wollte noch nicht sterben, denn er hatte in seinem Leben noch so wenig von dem geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Es war einfach nicht genug Zeit gewesen. Oder hatte er nur zu viel getrödelt? Keine Freunde, keine Frau, keine Kinder, ja nicht einmal ein Hund würde um ihn trauern.
Schweren Herzens fasste S. einen Beschluss, stand auf und lud sogleich die nächste Patrone nach. Abwägend blickte er auf seine Feinde herab. Sie waren wie ein wilder stiller Mob. Er fühlte sich ein wenig wie Frankensteins Monster. Mit Fackeln, Schaufeln, Karren und Mistgabeln waren sie gekommen, um ihn ins Jenseits zu befördern. Sie trugen sogar teilweise Laternen mit sich, so dass damit diesem mittelalterlichen Bild der letzte Schliff verpasst wurde.
S. setzte sein Gewehr an und zielte auf einen der Männer, die ihm am nächsten standen. Er atmete langsam aus und visierte sein Opfer sicher an. Der Schuss kam und der Mann wurde von seiner Wucht geradezu zerfetzt. Sein ganzer Torso wurde gesprengt, so dass Arme und Kopf frei von jeglicher Bindung zu Boden fielen.
S. lachte triumphierend auf. Er hatte einen Volltreffer gesetzt, das würde ihnen eine Lehre sein. Mit Verlusten hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Erneut blickte er langsam umher und stellte entsetzt fest, dass keiner, aber auch nicht ein Einziger von dem Kenntnis genommen hatte, was gerade passiert war. Oder war es ihnen einfach egal? Wie konnte man nur so grausam gleichgültig zu seinem Nebenmann sein?
S. wurde allmählich hysterisch. Er begann zu zittern und setzte sich erneut auf das Dach. Das war Wahnsinn. Es hätte sie nicht weniger interessieren können, dass ein Mann an ihrer Seite erschossen worden war. Das waren keine Menschen mehr, eher gehirnmanipulierte Sklaven eines rachsüchtigen Wissenschaftlers, der sich schlicht und einfach in der Adresse geirrt hatte. Immerhin war S. ja unschuldig und hatte nichts getan, um absichtlich den Zorn anderer auf sich zu ziehen. Vielleicht war hier aber auch irgendeine andere Macht am Werk. Es könnte sich genauso gut um gefühllose Killerroboter handeln. Oder gar um Außerirdische, die boshafte Experimente mit ihm durchführen wollten.
„Verschwindet und lasst mich in Ruhe, habe ich gesagt! Ich erschieße euch! Euch alle!“, jammerte S. eher als es zu befehlen und versuchte mit nervösen Fingern, eine neue Patrone zu laden. In seiner Hast ließ er sie jedoch zunächst fallen und konnte erst nach seinem zweiten Versuch zum Zielen ansetzen. Der Schuss fiel und ein weiterer Mann wurde in seine Einzelteile zerlegt.
Ohne Triumph und ohne Pause lud S. die nächste Patrone und feuerte, diesmal ohne zu zielen. Diesen Vorgang wiederholte er noch einige Male, wobei er nicht mehr darauf achtete, ob seine Schüsse einen Feind niederrissen oder nicht.
Schließlich sackte S. in sich zusammen. Er hatte seine Grenzen erreicht. Das war ein Nervenkrieg, den er nicht gewinnen konnte. Sie hatten gesiegt und er war der Schmach der Niederlage ergeben. Mühselig stützte er sich mit seinem Gewehr.
Regungslos und ohne jegliche Emotion starrten sie ihn weiter an. Sie forderten ihn mit stummen Worten dazu auf, sich dem Ganzen zu ergeben, dem Trauerspiel ein Ende zu setzen. S. erkannte sein Schicksal und akzeptierte, dass er keine andere Wahl mehr hatte. Dies war der letzte Schritt.
Langsam, immer noch geradezu zaghaft, lud S. die letzte Patrone an diesem Abend. Um ihre starren Blick nicht mehr weiter ertragen zu müssen, kniete er sich mit dem Rücken zu den Feinden hin und öffnete den Mund. Das kalte Eisen stieß gegen seine Zähne und glitt über seine Zunge. Ein leises Klickgeräusch kündigte die Vollendung an und nach dem folgenden Knall stürzte S. Körper auf die Überdachung. Seine leblose Hülle prallte knapp vor dem Abgrund auf die dunklen Dielen. Er lag auf dem Rücken mit den Füßen zur Hauswand. Sein zerfetzter Schädel ragte rücklings über den Rand des Daches und eine grausame Spur aus Blut und Gehirnmasse ergoss sich auf die Veranda. Seine offenen und reglosen Augen starrten nun zurück auf die Fremdlinge. Auf all die Fremdlinge. In seinem Garten. Mit ihren roten Zipfelmützen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Charon, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Deine Geschichte liest sich spannend und hat ein überraschendes Ende - mir hat sie gefallen. Ich würde nur vielleicht einen realen Namen anstatt "S" einsetzen. Der Titel führt vollkommen in die Irre - Absicht?

Bestimmte Gartengesellen sehe ich nun mit anderen Augen. :)


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Charon

Mitglied
Hallo DocSchneider,

danke für die nette Begrüßung und schön, dass es Dir gefallen hat. Das mit der Abkürzung ist mir recht spontan gekommen. Es sollte vor allem dazu dienen, keine eigenen Erinnerungen oder Erfahrungen mit dem Namen zu assoziieren. S. sollte als ein einigermaßen unbeschriebenes Blatt auftreten und auch wieder gehen.

Das mit dem Titel war so eine Sache. :D
Er sollte nichts über Inhalt direkt verraten können, und er sollte das Ende einfacher interpretierbar machen.
Es standen mehrere ähnliche Optionen zu Auswahl. Ich habe mich letztenendes dafür entschieden.

Viele Grüße

Charon
 



 
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