Der Unglückselige

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Der Unglückselige

Sie war schon wieder gewählt worden, die Karte des Unglückseligen. Seufzend legte sie sie vor sich hin und betrachtete nachdenklich die Reihe, die sich vor ihr mittlerweile ergeben hatte. Sie verstand ihr Handwerk, weckte die Neugierde, würzte ihre Vorhersagen mit einer Prise Geheimnistuerei.

Der Mann, der ihr gegenüber sass, wirkte nervös. Verstand er auch die nähere Bedeutung der Karten nicht, so sah er doch die Furcht und das Entsetzen, welches sich im Gesicht des Unglückseligen spiegelte. Sie brauchte nie lange um den Zustand, in dem sich die bei ihr Rat suchenden Menschen jeweils befanden, zu erfassen. Das war eine Sache von nur wenigen Minuten. In all den Jahren in denen sie ihr Metier betrieb, hatte sie gelernt die Zeichen der Furcht in den kleinsten Regungen auszumachen. Auf Furcht liess sich immer aufbauen. Und keiner der zu ihr kam war frei davon.

Die Sonne blinzelte durch die gelb-orange-rot gestreiften Vorhänge. Sie hatte sie absichtlich lichtdurchlässig gewählt, obwohl man so bei Sonnenschein den Staub in der Luft tanzen sehen konnte. Oder vielleicht auch gerade weil das so war. Es verlieh dem Raum etwas Mystisches.

Der Mann räusperte sich. Es war wohl an der Zeit, dass sie sich zu den Karten äusserte. Schliesslich hatte sie einen Zeitplan einzuhalten. \"Ich sehe da... ...\", begann sie und machte eine deutungsvolle Pause, \"dass sie bald ein grosses Ereignis erwartet.\" Damit lag sie immer richtig. Ein jeder hatte irgendwas in seinem Leben das er als grosses Ereignis, das vor ihm lag, sehen konnte. Darauf kam es in ihrem Beruf an. Aussagen zu machen in denen sich alle Menschen wiederfinden konnten. Das war ihr ganzes Geheimnis. Auch sie konnte selbstverständlich nicht wirklich in die Zukunft schauen, aber sie hatte sich im Laufe der Zeit viel Menschenkenntnis erarbeitet. Und sie war geschickt im Umgang mit Worten. Das war alles worauf es ankam. Die Menschen, die sie aufsuchten, redeten, auch wenn ihre Lippen geschlossen blieben. Die Körperhaltung sprach Bände. Daher bemerkte sie auch sofort wie der Mann sich bei ihren Worten verkrampfte. Das irritierte sie. Meist erntete sie auf diese Worte einen neugierigen Blick.

\"Das ist es nicht was ich wissen will\", stiess er hervor. Verwundert hob sie ihren Blick der zuvor auf den Karten geruht hatte. Mit ihm schien es schwieriger zu werden als mit dem Grossteil ihrer Kunden. Der Mann sah sie aus eisblauen Augen an. Beinahe fröstelte sie unter seinem Blick. \"Was hat Sie denn zu mir geführt\", fragte sie mit ruhiger Stimme, \"wenn es nicht der Blick in die Zukunft ist, den ich Ihnen ermöglichen soll?\" Er senkte den Blick und deutete auf die Karte des Unglückseligen. \"Was bedeutet diese Karte?\", fragte er mit einem kaum merklichen Zittern in der Stimme. Er hielt die Reihenfolge nicht ein, liess sich nicht mit den gewohnten Phrasen leiten. \"Diese Karte\", begann sie zögerlich, \"stellt den Unglückseligen dar.\" Seine Furcht, die sie bei der Begrüssung wahrgenommen hatte, schien verflogen. \"Was sagt sie aus?\", fragte der Mann und in seiner Stimme schwang Neugierde mit. Er brachte sie aus dem Konzept. Sie konnte nicht mit dieser Karte beginnen, erst musste sie mehr über ihn erfahren. Das wovor er sich fürchtete eng eingrenzen. Sie ging über dünnes Eis. \"Er zeigt uns unsere geheimsten Ängste\", begann sie, \"und führt uns in die Abgründe unserer Seele\", fuhr sie fort. \"Über ihn will ich mehr erfahren\", erwiderte er, \"was bringt er mir in der Zukunft?\" Er machte es ihr nicht leicht. Also gut, dachte sie, dann eben das Schwierigste zuerst. \"Zeigen Sie mir bitte Ihre Hände\", antwortete Sie ihm. Damit konnte sie etwas Zeit gewinnen. Er reichte sie ihr bereitwillig. Sie beugte sich interessiert über sie und studierte die Linien seiner Handinnenseiten. \"Sie haben schon einige schwierige Situationen gemeistert\", murmelte sie. Die gesprächigeren ihrer Kunden stiegen meist darauf ein und erzählten bereitwillig aus ihrer Vergangenheit. Ihr Gegenüber schien zu der schweigsamen Sorte zu gehören. \"Also\", drängte er, \"was können Sie mir über den Unglückseligen sagen?\" \"Oh\", sagte sie, \"das ist sehr schwierig. Der Unglückselige hält sich bedeckt.\"

Kleine Schweissperlen traten ihr auf die Stirn. \"Welches Unglück wird mir geschehen?\", bohrte er nach. Sie wünschte sich das Ende der Sitzung herbei. \"Etwas das Sie sehr mögen, wird Ihnen verloren gehen\", sagte sie mit fester Stimme. Und um die Bedeutung etwas abzuschwächen fügte sie hinzu: \"Anstelle dessen wird aber bald etwas Neues in Ihr Leben treten.\" Er starrte sie an. \"Erinnern Sie sich nicht an mich?\", fragte er sie mit belegter Stimme. Verdutzt sah sie auf. \"Äh, nein, sollte ich das?\", erwiderte sie. Er lachte laut auf. Sie erschrak. Sein Lachen klang verrückt. \"Vor zehn Jahren haben Sie mir vorhergesagt, dass ich eine tolle Frau kennenlernen und einen gut bezahlten Job bekommen werde\", sagte er in sarkastischem Tonfall. \"Ich habe mich auf Ihr Wort verlassen, meine damalige Freundin sitzen lassen und meinen Job gekündigt\", fuhr er aufgebracht fort, \"und wissen Sie was mich erwartet hat? Einsamkeit und Arbeitslosigkeit!\" \"Nichts was ich hatte ist mir geblieben! Nichts!\", schrie er. \"Aber\", stotterte sie, \"ich hätte das nicht gesagt, wenn es die Karten nicht so prophezeit hätten.\" Vor zehn Jahren, das war ganz zu Beginn ihrer Karriere als Hellseherin gewesen. Es konnte durchaus sein, dass sie damals etwas zu dick aufgetragen hatte. Schliesslich war es die Erfahrung die einem lehrte.

Er lachte abermals laut auf. \"Die Karte des Unglückseligen haben Sie heute nicht für mich gelegt\", sagte er mit drohendem Unterton. \"Sie sind verrückt\", entfuhr es ihr. \"Gehen Sie!\" Nun war es ihre eigene Furcht die sie wahrnahm. Er stand auf und sie atmete erleichtert aus. \"Ich gebe Ihnen Ihr Geld zurück\", schlug sie ihm vor. Er lachte schallend. \"Das reicht mir nicht.\" Sie sah etwas Glänzendes in seiner rechten Hand. Und während er damit ausholte, wehte ein frischer Windstoss zum Fenster herein und legte die Karte des Sensenmannes frei.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Claudia Rainbow, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Deine Geschichte habe ich gern gelesen. Du führst den Leser auf eine falsche Fährte, sehr geschickt.
Überprüfe noch einmal die Rechtschreibung von ss/ß.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
Der Unglückselige

Sie war schon wieder gewählt worden, die Karte des Unglückseligen. Seufzend legte sie sie vor sich hin und betrachtete nachdenklich die Reihe, die sich vor ihr mittlerweile ergeben hatte. Sie verstand ihr Handwerk, weckte die Neugierde, würzte ihre Vorhersagen mit einer Prise Geheimnistuerei.

Der Mann, der ihr gegenüber sass, wirkte nervös. Verstand er auch die nähere Bedeutung der Karten nicht, so sah er doch die Furcht und das Entsetzen, welches sich im Gesicht des Unglückseligen spiegelte. Sie brauchte nie lange um den Zustand, in dem sich die bei ihr Rat suchenden Menschen jeweils befanden, zu erfassen. Das war eine Sache von nur wenigen Minuten. In all den Jahren in denen sie ihr Metier betrieb, hatte sie gelernt die Zeichen der Furcht in den kleinsten Regungen auszumachen. Auf Furcht liess sich immer aufbauen. Und keiner der zu ihr kam war frei davon.

Die Sonne blinzelte durch die gelb-orange-rot gestreiften Vorhänge. Sie hatte sie absichtlich lichtdurchlässig gewählt, obwohl man so bei Sonnenschein den Staub in der Luft tanzen sehen konnte. Oder vielleicht auch gerade weil das so war. Es verlieh dem Raum etwas Mystisches.

Der Mann räusperte sich. Es war wohl an der Zeit, dass sie sich zu den Karten äusserte. Schliesslich hatte sie einen Zeitplan einzuhalten. "Ich sehe da... ...", begann sie und machte eine deutungsvolle Pause, "dass sie bald ein grosses Ereignis erwartet." Damit lag sie immer richtig. Ein jeder hatte irgendwas in seinem Leben das er als grosses Ereignis, das vor ihm lag, sehen konnte. Darauf kam es in ihrem Beruf an. Aussagen zu machen in denen sich alle Menschen wiederfinden konnten. Das war ihr ganzes Geheimnis. Auch sie konnte selbstverständlich nicht wirklich in die Zukunft schauen, aber sie hatte sich im Laufe der Zeit viel Menschenkenntnis erarbeitet. Und sie war geschickt im Umgang mit Worten. Das war alles worauf es ankam. Die Menschen, die sie aufsuchten, redeten, auch wenn ihre Lippen geschlossen blieben. Die Körperhaltung sprach Bände. Daher bemerkte sie auch sofort wie der Mann sich bei ihren Worten verkrampfte. Das irritierte sie. Meist erntete sie auf diese Worte einen neugierigen Blick.

"Das ist es nicht was ich wissen will", stiess er hervor. Verwundert hob sie ihren Blick der zuvor auf den Karten geruht hatte. Mit ihm schien es schwieriger zu werden als mit dem Grossteil ihrer Kunden. Der Mann sah sie aus eisblauen Augen an. Beinahe fröstelte sie unter seinem Blick. "Was hat Sie denn zu mir geführt", fragte sie mit ruhiger Stimme, "wenn es nicht der Blick in die Zukunft ist, den ich Ihnen ermöglichen soll?" Er senkte den Blick und deutete auf die Karte des Unglückseligen. "Was bedeutet diese Karte?", fragte er mit einem kaum merklichen Zittern in der Stimme. Er hielt die Reihenfolge nicht ein, liess sich nicht mit den gewohnten Phrasen leiten. "Diese Karte", begann sie zögerlich, "stellt den Unglückseligen dar." Seine Furcht, die sie bei der Begrüssung wahrgenommen hatte, schien verflogen. "Was sagt sie aus?", fragte der Mann und in seiner Stimme schwang Neugierde mit. Er brachte sie aus dem Konzept. Sie konnte nicht mit dieser Karte beginnen, erst musste sie mehr über ihn erfahren. Das wovor er sich fürchtete eng eingrenzen. Sie ging über dünnes Eis. "Er zeigt uns unsere geheimsten Ängste", begann sie, "und führt uns in die Abgründe unserer Seele", fuhr sie fort. "Über ihn will ich mehr erfahren", erwiderte er, "was bringt er mir in der Zukunft?" Er machte es ihr nicht leicht. Also gut, dachte sie, dann eben das Schwierigste zuerst. "Zeigen Sie mir bitte Ihre Hände", antwortete Sie ihm. Damit konnte sie etwas Zeit gewinnen. Er reichte sie ihr bereitwillig. Sie beugte sich interessiert über sie und studierte die Linien seiner Handinnenseiten. "Sie haben schon einige schwierige Situationen gemeistert", murmelte sie. Die gesprächigeren ihrer Kunden stiegen meist darauf ein und erzählten bereitwillig aus ihrer Vergangenheit. Ihr Gegenüber schien zu der schweigsamen Sorte zu gehören. "Also", drängte er, "was können Sie mir über den Unglückseligen sagen?" "Oh", sagte sie, "das ist sehr schwierig. Der Unglückselige hält sich bedeckt."

Kleine Schweissperlen traten ihr auf die Stirn. "Welches Unglück wird mir geschehen?", bohrte er nach. Sie wünschte sich das Ende der Sitzung herbei. "Etwas das Sie sehr mögen, wird Ihnen verloren gehen", sagte sie mit fester Stimme. Und um die Bedeutung etwas abzuschwächen fügte sie hinzu: "Anstelle dessen wird aber bald etwas Neues in Ihr Leben treten." Er starrte sie an. "Erinnern Sie sich nicht an mich?", fragte er sie mit belegter Stimme. Verdutzt sah sie auf. "Äh, nein, sollte ich das?", erwiderte sie. Er lachte laut auf. Sie erschrak. Sein Lachen klang verrückt. "Vor zehn Jahren haben Sie mir vorhergesagt, dass ich eine tolle Frau kennenlernen und einen gut bezahlten Job bekommen werde", sagte er in sarkastischem Tonfall. "Ich habe mich auf Ihr Wort verlassen, meine damalige Freundin sitzen lassen und meinen Job gekündigt", fuhr er aufgebracht fort, "und wissen Sie was mich erwartet hat? Einsamkeit und Arbeitslosigkeit!" "Nichts was ich hatte ist mir geblieben! Nichts!", schrie er. "Aber", stotterte sie, "ich hätte das nicht gesagt, wenn es die Karten nicht so prophezeit hätten." Vor zehn Jahren, das war ganz zu Beginn ihrer Karriere als Hellseherin gewesen. Es konnte durchaus sein, dass sie damals etwas zu dick aufgetragen hatte. Schliesslich war es die Erfahrung die einem lehrte.

Er lachte abermals laut auf. "Die Karte des Unglückseligen haben Sie heute nicht für mich gelegt", sagte er mit drohendem Unterton. "Sie sind verrückt", entfuhr es ihr. "Gehen Sie!" Nun war es ihre eigene Furcht die sie wahrnahm. Er stand auf und sie atmete erleichtert aus. "Ich gebe Ihnen Ihr Geld zurück", schlug sie ihm vor. Er lachte schallend. "Das reicht mir nicht." Sie sah etwas Glänzendes in seiner rechten Hand. Und während er damit ausholte, wehte ein frischer Windstoss zum Fenster herein und legte die Karte des Sensenmannes frei.
 



 
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