Der Zaun

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Ballfreund

Mitglied
„Es tut mir leid, aber in zwei Monaten gibt es keine Arbeit mehr. Hier ist deine Kündigung.“ So was bekommt man immer am Freitag nach der Arbeit gesagt. Da kocht in mir die Wut auf. Aber ich kann ja doch nichts dran ändern. Und der Chef kann ja eigentlich auch nichts dafür. Wie sage ich das bloß meiner Frau? Uns war klar, dass ich diese Stelle nicht lange haben würde, aber wir hatten doch auf drei Monate mehr gehofft.
Vater sagt, es habe ein Jahr gedauert den Zaun zu errichten. Und die Demontage hat jetzt nicht mal sechs Monate gedauert.

Warum klebt mir dieser VW so sehr auf der Stoßstange? Der sieht doch, dass ich nicht schneller fahren kann. Na ja, in zwei Stunden bin ich ja zu Hause. Und in 70 Kilometern habe ich auch wieder eine gute Netzabdeckung. Sage ich ihr das lieber zu Hause oder schon am Smartphone?

Vater sagt ja, heute sei alles besser als vor zwanzig Jahren. Vor zwanzig Jahren, da war ich gerade geboren. Und ich weiß nicht wie es damals war, als Boko Haram und der IS von Nigeria aus unser Land überfielen. Der Terror fing an, wie in allen anderen Ländern, unser Militär war überfordert, alle Menschen flohen und es kam uns niemand zu Hilfe. Und als es immer schlimmer wurde hatte Präsident Boni Yayi diese geniale Idee, sich einem Land der EU zu unterwerfen. Die Regierung entschied sich für Deutschland. Natürlich wollte die deutsche Regierung das nicht. Aber irgendwie hat Boni Yayi es geschafft, dass fast alle unsere Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen. Vater sagt, dass sei sogar ohne die berüchtigten Schlepperbanden und ganz legal zugegangen. Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen. Aber nach fünf Jahren Krieg wurde Benin notgedrungen von Deutschland als neues Bundesland akzeptiert. Und dann kamen uns Soldaten aus Deutschland, aus der EU und schließlich auch von der NATO gegen die Kämpfer des IS zu Hilfe. Sechs Monate später war der Krieg bei uns vorbei und viele Flüchtlinge kamen aus Deutschland zurück in ihre alte Heimat. Daran kann ich mich erinnern. Die größte Änderung durch den Deutschlandbeitritt war für mich, dass wir in der Schule nun auch die deutsche Sprache lernen mussten. Ich kann die ziemlich gut. Vater hat sie nie gelernt. Er hat auch nie das Deutschlandprogramm im Fernsehen geschaut. Deutsche Sendungen mit Untertiteln in unseren drei meistgesprochenen Sprachen. Das hat mir sehr viel geholfen.

Warum fahren die denn jetzt alle so langsam? Da ist doch eigentlich gar keine Baustelle. Eventuell ein Unfall? Nein, nur eine mobile Radarkontrolle. Wieder mal Glück gehabt. Wäre frei gewesen, hätten sie mich bestimmt geblitzt. Gleich kann ich dann ja auch zu Hause anrufen. Wie sage ich ihr das bloß mit dem Zaun? Sie macht sich immer sofort so schlimme Gedanken. Dabei hat sie mit dem Job auf der Baumwollfarm für uns doch ein Grundeinkommen. Zumindest seit auch bei ihr der Mindestlohn bezahlt wird. Und mit meinem Verdienst vom Zaun können wir uns endlich den neuen 4D-Fernseher leisten.

An den Bau des Zauns kann ich mich ebenfalls erinnern. Vater hat auch daran mitgebaut und war oft tagelang fort. Aber dafür gab es gutes Geld, das wir damals dringend brauchten. Wir waren nach dem Krieg die Außengrenze der EU und es kamen von überall her Flüchtlinge, die nun über Deutschland-Benin nach Europa wollten. Das war sicherer, als über die Schlepper-Routen. Es kam zu einer Regierungskrise in Deutschland, dann in der EU und schließlich einigte man sich darauf, dass wir den Zaun bauten. Dann war Ruhe und die nächsten Jahre waren geprägt von einer auflebenden Wirtschaft. Wir sind zwar weiterhin das ärmste Bundesland Deutschlands, aber Vater sagt, dass das kein Vergleich zu vorher ist. Inzwischen sind aber viele Freunde wieder nach Europa-Deutschland gegangen. Dort sind die Löhne besser. Im Geschichtsunterricht hatten wir die DDR und die Wiedervereinigung durchgenommen und alle hatten gehofft, dass Europa-Deutschland daraus gelernt hätte. Aber in den nächsten Jahren hat sich hier alles wiederholt: Landflucht, Arbeitslosigkeit, geringe Kaufkraft und so weiter. Ich würde ja auch gerne nach Europa-Deutschland, vielleicht nach Thüringen wo wir unseren Schüleraustausch hatten. Aber seit die Rechtsextremen im Bundestag mit drei Sitzen vertreten sind habe ich Angst vor der Stimmung in den alten Bundesländern. Ich habe sowieso zu viel Angst vor Veränderungen. Schwiegervater sagt, dass ich es so nie zu etwas bringen werde. Er hat trotzdem der Hochzeit zugestimmt. Er hat seinen Lebtag weniger verdient als Vater oder ich, aber er weiß immer, was man besser machen muss, und er hält mit seiner Meinung nicht zurück.

Rückblickend hat unser Modell Schule gemacht. Nigeria gehört seit drei Jahren zu Frankreich und die afrikanische EU-Außengrenze wurde weiter nach Osten verlegt. Dort musste auch ein Zaun gebaut werden. Allerdings mehr wegen Wirtschaftsflüchtlingen, als wegen Kriegsflüchtlingen. Und weil wir im europäischen Wirtschaftsraum zum Glück keine Grenzen haben kann ich unseren Zaun wieder abreißen, den Vater aufgebaut hat. Zumindest die nächsten zwei kurzen Monate noch. Mal sehen, ob ich nächste Woche einen Termin bei der Bundesagentur für Arbeit bekomme. Jetzt ist es Zeit anzurufen, sonst macht sie sich Sorgen. „Hallo Liebling, so wie der Verkehr läuft bin ich bald zu Hause. Was gibt es zum Abendessen?“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
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Hallo Ballfreund, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

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