Der andere Keks

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Maria Braig

Mitglied
Ich heiße Jan.
An manchen Tagen nenne ich mich Janno, an anderen Janna, aber eigentlich heiße ich Jan und eigentlich bin ich auch Jan.
Es ist nämlich so: Ich bin kein Junge und ich bin kein Mädchen oder man könnte auch sagen, ich bin beides. Das ist nicht immer einfach und es ist nicht immer schön, deshalb gibt es eben auch diese Zeiten, in denen ich Janno sein oder mich als Janna fühlen will. Aber so richtig passt das nie, denn Janna ist nur ein Teil von mir so wie auch Janno ein Teil von mir ist. Alles zusammen ist einfach Jan und nur Jan fühlt sich komplett und ist es auch.
Heute bin ich 13 Jahre alt geworden, heute Nachmittag ist große Geburtstagsparty mit all meinen Freunden und Freundinnen, aber jetzt sitze ich an meinem Lieblingsplatz auf der Siegessäule und sehe hinunter auf das Gewusel von Berlin. Hier ist es fast so gut wie auf dem Fernsehturm, eigentlich besser, denn da man zu Fuß 285 Stufen hochklettern muss, ist es hier meist ganz übersichtlich. Ich habe genug Platz, um direkt am vergoldeten Gitter zu sitzen und die Beine über Berlin baumeln zu lassen. Einmal sind wir mit dem Aufzug auf den Fernsehturm gefahren, ganz nach oben, meine Eltern und ich, um etwas zu essen und währenddessen auf die Stadt unter uns zu schauen. „Das muss man einmal gesehen haben“, hatte mein Vater gemeint. Und er hatte recht. Das muss man einmal gesehen haben. Vor allem jemand wie ich muss das mal gesehen haben, so hatte er es wohl eigentlich gemeint, als er mir, damals war ich gerade fünf geworden, die vielen Menschen unten auf dem Alex zeigte, die klein wie Ameisen durcheinander wuselten. Und die vielen Häuser von Berlin, von denen wir nur die Dächer sehen konnten und uns ausmalten, wer da wohl alles wohnte. Leute, von denen die Nachbarn alles wussten, aber auch Leute, die nichts von sich preisgaben und ganz versteckt bleiben wollten, weil sie anders waren. So erklärte mir das mein Vater. „Aber was heißt anders und was ist daran so schlimm, dass sie sich verstecken müssen?“, fragte er mehr sich als mich. Und meine Mutter sprach dann weiter. Das hatten die beiden sich wohl irgendwann einmal so angewöhnt, dass sie immer, wenn es um was Wichtiges ging, und das war dann in den meisten Fällen eben ich, abwechselnd sprachen. Manchmal fand ich das komisch als ich klein war, aber jetzt, seit ich einigermaßen vernünftig denken kann und eigentlich doch schon so gut wie erwachsen bin, auch wenn das die Erwachsenen immer abstreiten, jetzt wurde mir klar, dass sie mir damit auch gezeigt haben, dass das was sie sagen ihre gemeinsame Meinung ist, dass sie beide so denken und mir damit beide auch immer einen starken Rückhalt gaben in meinem bisherigen Leben. Also, nicht dass sie immer das Gleiche daher plappern wie zwei Papageien, sie ziehen sich ja auch verschieden an und mögen unterschiedliche Dinge. Mein Vater isst zum Beispiel liebend gerne Rosenkohl, den meine Mutter überhaupt nicht leiden kann, und meine Mutter fährt gern schnelle Motorräder, während mein Vater ein eingefleischter Fahrradfahrer ist – was hin und wieder schon etwas problematisch war, wenn es um unsere Ferienplanung ging. Aber was mich betraf, waren sie immer eine Einheit. Eigentlich – und das fällt mir erst jetzt auf, genau jetzt, heute an meinem dreizehnten Geburtstag: Eigentlich sind sie wie ich, nur eben aufgespalten in zwei einzelne Menschen. Aber gemeinsam sind sie eine Einheit, eine Einheit, zu der auch ich gehöre, und das haben sie mir immer gezeigt, so dass ich mich auch nie wirklich anders oder einsam gefühlt habe. Ein paar Tränen drückten sich jetzt durch meine Augen ins Freie, als mir das so schlagartig bewusst wurde. Dabei war heulen uncool, für Janna genauso wie für Janno und erst recht für Jan, aber neulich hatte mein bester Freund Charly mal gesagt: „Man kann auch heulen und cool sein“. Einfach so, ohne Anlass, als wäre ihm da eben die große Erkenntnis gekommen. Ich hatte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte und schnell ein anderes Thema gefunden. Aber jetzt, hier hoch oben über Berlin, an meinem 13. Geburtstag, da entschied ich, dass er recht hatte. Ich bin cool und ich ließ jetzt einfach trotzdem noch ein paar Tränen mehr ins Freie.
Also, meine Mutter hat dann weitergemacht, damals, vor ungefähr acht Jahren, und mir versucht, das Wort „anders“ zu erklären. Irgendwie muss es ihr ganz gut gelungen sein, ich kann mich nicht mehr erinnern, was sie gesagt hat damals, aber in mir war ein gutes Gefühl hängen geblieben. Anders war einfach ganz sich selbst zu sein und sich nicht anzupassen an das, was andere von einem wollten. Sich nicht in eine bestimmte Form pressen zu lassen, wie ein Weihnachtskeks zum Beispiel, sondern einfach so zu sein und zu werden, wie man eben ist. Ich stellte mir das immer ein bisschen so vor wie der letzte Rest Teig, der nicht mehr zu einem Tannenbaum, einem Stern oder einem Rentier geformt werden konnte, weil zu wenig übriggeblieben war für das Förmchen, und der sich dann frei auf dem Backblech einfach in die Richtung entwickelte, in die er wollte. Der „andere Keks“, so nannte ich ihn immer und ich bestand jedes Mal darauf, dass mehr „andere Kekse“ aufs Backblech kamen, als nötig gewesen wären, um den Rest vom Teig unterzubringen. Und jeder von ihnen sah anders aus, wenn wir das Blech aus dem Ofen zogen und alle zusammen waren sie meine Lieblingskekse.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Maria Braig, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 
Hallo Maria,
eine hübsche und nachdenkenswerte Metapher, gut und flüssig vorgetragen. Dein Einstand macht Lust auf mehr.
Dass die eine oder andere Redewendung oder Vokabel nicht so recht zu einer Dreizehnjährigen passt, lässt sich wahrscheinlich kaum vermeiden, wenn man einen lesbaren Text vorlegen will.
Eine Kleinigkeit noch: Absätze werden bei der LL-Formatierung bisweilen verschluckt. Um für den Leser hilfreiche Strukur ins Textbild zu bekommen, hab ich mir angewöhnt, Leerzeilen einzufügen.
Viele Grüße
GH
 

petrasmiles

Mitglied
Vielleicht ist es ein Text, den ein Teenager in Jans Situation nie so schreiben würde, vielleicht stimmen selbst die Gedanken nicht mit denen eines Teenagers überein, aber wenn dem Leser nur der Hauch einer Idee kommt, wie sich die geschlechtliche Uneindeutigkeit anfühlt, ist er authentisch. Für mich ist er das.
'Der andere Keks' ist ein hübsches Bild.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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