Die Tränen der Sterne

Imanka

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Wenn wir in einer klaren Nacht den Himmel betrachten, sehen wir abertausende blinkende Sterne, die selbst den dunkelsten Nächten ein wenig Licht verleihen. Doch auch wenn dieser Anblick allein schon faszinierend genug ist, ist dies nicht alles, was Sterne ausmacht. Denn sie sind viel mehr als nur brodelnd heiße Gaskugeln, viel mehr als ein helles Augenzwinkern am Horizont – sie sind die Heimat der Sternenkinder.
Die Sternenkinder sind so alt wie die Sterne selbst, sie werden mit ihnen geboren und sterben mit ihnen. Früher konnte jeder von uns sogar darauf hoffen, sie selbst einmal zu Gesicht zu bekommen, doch diese Zeiten sind längst vergangen.
Seit vielen Jahren ist keines der Sternenkinder mehr gesehen worden. In der Nacht ist kein Poltern oder leises Kichern mehr zu hören – die Sternenkinder haben der Erde den Rücken gekehrt.

Einst haben sie ihre Tage damit verbracht, auf den Sternen zu spielen und zu toben. Wie bei uns wachsen dort allerlei Pflanzen; teilweise sind riesige Flächen von ganzen Wäldern mannshoher Blumen bedeckt, die so golden funkeln, dass es ein Wunder ist, sie nicht von der Erde mit bloßem Auge sehen zu können.
Die Sternenkinder stehen ihrer Umwelt an Schönheit in nichts nach. Blonde Locken umrahmen ihre strahlenden Gesichter, ihre Augen sind selbst wie leuchtende Sterne und ihre ganze Gestalt scheint ähnlich wie die Blumen zu funkeln.
Doch noch einnehmender als ihr Aussehen ist ihr Wesen – kaum jemand ist vergnügter, und die Sternenkinder waren lange Zeit so glücklich, dass sie selbst nicht glaubten, überhaupt weinen zu können.
Damals kümmerten sie sich noch liebevoll um die Tiere und Pflanzen, die ebenfalls auf den Sternen lebten. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie dabei den Zauberblumen, die nur ganz selten, aber dafür umso wertvoller waren. Ihre Pflege bedurfte besonders viel Liebe, welche die Sternenkinder ihnen mit Hingabe zukommen ließen.
Sie steckten deshalb so viel Energie in die Zauberblumen, weil aus diesen ein ganz besonderes Mittel gewonnen werden konnte. Wenn man in einer Vollmondnacht die Blumen an dem dritten Blatt von unten kräftig kitzelte, mussten diese so sehr lachen, dass sie sich heftig schüttelten und mit ihrer Blüte hin und her wackelten. Dabei fielen immer ein paar Körnchen Blütenstaub zu Boden, die die Sternenkinder in großen Beuteln auffingen. Es dauerte viele Nächte, bis sie einen Beutel voll hatten, aber ihnen war es die Mühe wert und nie beschwerte sich eines von ihnen über die anstrengende Arbeit. Denn so leicht wie es klingt, war das gar nicht. Die Sternenkinder waren nur zarte Geschöpfe, während die Zauberblumen groß und kräftig gewachsen waren. Oft taten den Sternenkindern noch Tage später ihre Finger vom Kitzeln weh.
Natürlich machte es den Sternenkindern auch sehr viel Spaß, die Zauberblumen zu kitzeln und mit ihnen zu lachen, doch das war nicht der einzige Grund, warum sie dies auf sich nahmen. Sie sammelten den Blütenstaub nämlich nicht einfach nur so, sondern wegen seiner besonderen Eigenschaften.
Der Blütenstaub war deshalb so wertvoll, weil er einem jede Angst, die man jemals im Leben verspürt hat, nehmen und stattdessen Hoffnung und Zuversicht verbreiten konnte. Die Sternenkinder hatten dafür keine Verwendung, denn schließlich kannten sie so etwas wie Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit nicht, und in ihrem Leben gab es auch nichts, was sie fürchten mussten. Deshalb sammelten sie den Blütenstaub auch nicht für sich, sondern für die Menschen.
Die Sternenkinder liebten es nämlich, des Nachts auf Sternschnuppen zur Erde zu reiten und dort den Blütenstaub zu verteilen. Dabei gingen sie sehr umsichtig vor – bereits Monate vorher wählten sie die Menschen aus, über deren Häuser sie den Blütenstaub verteilen und denen sie damit ihre Ängste nehmen wollten. Nur diejenigen, die ein gutes Herz und es wirklich verdient hatten, sollten von ihrem Blütenstaub profitieren. So nahmen die Sternenkinder vielen Menschen ihre größten Ängste und erfüllten ihre Herzen dafür mit Freude und Zuversicht.
Natürlich mussten die Sternenkinder sehr vorsichtig sein, denn sie durften nicht von den Menschen gesehen werden. Manche von ihnen kamen mit dieser Regel sehr gut zurecht und warteten immer, bis eine dicke Wolke den Mond verdeckte und so das Land verdunkelte, bevor sie aus ihrem Versteck kamen und den funkelnden Staub über die Häuser verteilten.
Doch andere konnten die ihnen angeborene Neugierde nicht ganz so gut im Zaum halten. So kam es immer wieder vor, dass eins von ihnen von Menschen gesehen wurde, und für die nächste Zeit mussten sie dann die betreffende Gegend meiden, falls sich die Leute bewusst auf die Lauer legen würden. Dies war eine reine Vorsichtsmaßnahme, denn wer wusste schon, wie die Menschen reagieren würden, wenn sie von ihrer Existenz und der Wirkung des Blütenstaubs erfuhren? Vielleicht würden sie dann mit ihren Raketen nicht nur auf den Mond, sondern auch zu den Sternen fliegen und ihre wunderschönen Blumenwälder zerstören.
Doch trotz der Vorsichtsmaßnahmen kam es, wie es kommen musste, und ein großes Unglück suchte die Sternenkinder heim.
Es traf eines ihrer jüngsten Mitglieder, ein besonders lebhaftes und neugieriges kleines Mädchen, das die Menschen so faszinierend fand, dass es sich nicht davon abhalten konnte, ab und an durch Fenster und Türen zu spähen, wenn gerade keines der älteren Sternenkinder hinsah. Dadurch war das Sternenkind sehr viel länger der Gefahr ausgesetzt, von zufällig Vorbeikommenden entdeckt zu werden, als seine Geschwister, die sofort, nachdem sie den Blütenstaub verteilt hatten, wieder von der Dunkelheit der Nacht verschluckt wurden.
Lange Zeit ging dies gut, das Sternenkind wurde zwar öfter als die anderen von Menschen entdeckt, aber die meisten taten diese Erscheinung als Traum oder eine Folge von zu viel Alkohol ab, denn sie schüttelten nur erstaunt den Kopf und legten sich wieder ins Bett, als wären sie dort vor den Mysterien der Welt sicher. Das Sternenkind mied in der Folge die besagte Gegend, sodass seine Geschwister keinen Anlass sahen, es mehr als nur leicht tadelnd zu ermahnen.
Doch eines Nachts hatte das Sternenkind nicht so viel Glück.
Es befand sich mit seinen Geschwistern in einem kleinen Ort an der Küste und hüpfte übermütig von einem Dach zum nächsten, als es plötzlich Blicke in seinem Rücken spürte. Die anderen Sternenkinder hatten den Beobachter schon früher bemerkt und waren längst in Baumkronen, Gebüschen oder hinter Hausecken verschwunden, doch das Sternenkind fühlte sich geradezu herausgefordert. Statt wie seine Geschwister möglichst schnell die Flucht anzutreten, drehte es sich keck um und sah seinem Entdecker furchtlos in die Augen.
Es war eine Frau. Ihre Nase war so krumm, dass die Nasenspitze zur Erde zeigte, und durch den Buckel und ihre gekrümmte Haltung wirkte sie selbst so klein wie ein Kind. Doch ihr von Falten überzogenes Gesicht zeigte ihr wirkliches Alter, und sie stützte sich so schwer auf einen krummen Besen, dass sie ohne ihn wahrscheinlich gar nicht mehr stehen konnte.
Das Sternenkind kannte die alte Frau, es hatte sie schon oft beobachtet und wusste deshalb, dass es sich um die böse Hexe handelte, die in einem Lebkuchenhaus tief im Wald wohnte. Als es der Hexe nun in die Augen sah, verspürte das Sternenkind zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Angst, auch wenn es das Gefühl nicht sofort zuordnen konnte.
Für einen langen Moment sahen sich die beiden schweigend an, dann begann das Sternenkind langsam, sich Schritt für Schritt von der Hexe weg zu bewegen und dem Ende des Dachs zu nähern. Nur noch ein paar Meter und es würde in einem Baum, der neben dem Haus wuchs, Zuflucht finden können.
Doch so wie das Sternenkind die böse Hexe kannte, wusste auch diese, wen sie vor sich hatte. In der Tat war es sogar so, dass sie schon lange Zeit die Sternenkinder beobachtete, wann immer diese in ihren Ort kamen, wobei insbesondere das neugierige Sternenkind ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Durch ihre Beobachtungen konnte sie sich, ohne von den Sternenkindern bemerkt zu werden, ein genaues Bild davon machen, wie diese vorgingen, sodass ihr nicht verborgen blieb, dass das neugierige Sternenkind viel übermütiger und vorwitziger war als seine Geschwister.
Ursprünglich hatte die böse Hexe die Sternenkinder eigentlich nur beobachtet, um einen Weg zu finden, an den Blütenstaub zu gelangen. Denn sie wusste von dessen magischen Kräften und wollte diese nutzen, um sich selbst noch mehr Zauberkraft zu verleihen.
Doch der Wunsch nach mehr Macht war nicht das einzige Streben, das die böse Hexe beseelte. Tief in ihrem Herzen war sie auch sehr einsam, obwohl sie sich das selbst eigentlich nicht eingestehen wollte.
Aber je öfter sie die Sternenkinder sah und deren glockenhelles Lachen durch die klare Nachtluft zu ihrem Beobachtungsposten herüber schallte, desto stärker wuchs in ihr der Wunsch, ein solches Sternenkind als ihr eigenes Kind mit nach Hause zu nehmen und aufzuziehen.
Es dauerte lange, aber irgendwann konnte sie sich selbst nichts mehr vormachen und musste sich diesen Wunsch widerwillig eingestehen. Ein bisschen Angst machte ihr das schon, denn schließlich gehörte dieses Begehren nach einem Kind zu den menschlichen Eigenschaften, die sie einst als schwach und töricht abgetan hatte. Aber sobald sie sich selbst ihren Wunsch eingestanden hatte, wurde der innere Drang nach einem Sternenkind noch größer, sodass sich bald ihr ganzes Tun und Denken um nichts anderes drehte. Vergessen waren die alten Feinde, die noch eines Racheakts bedurften, und auch ihr großer Kessel, in dem sie schon so manches Gift zusammengebraut hatte, stand verwaist und staubig in einer Ecke ihrer Hütte.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als die Hexe ihren wahren Herzenswunsch widerwillig akzeptierte, fiel ihr das neugierige Sternenkind ins Auge. Es war wohl unumgänglich, dass es sofort ihr innigster Wunsch wurde, genau dieses Sternenkind zu besitzen.
Lange musste sie auf eine passende Gelegenheit warten und so manches Mal war sie vor Verzweiflung kurz davor, ihr Vorhaben aufzugeben – auch ein Gedanke, der ihr früher niemals in den Sinn gekommen wäre –, doch in dieser schicksalhaften Nacht war die Erfüllung ihres größten Wunsches auf einmal zum Greifen nahe.
Während das Sternenkind noch zaghaft und vorsichtig an das Ende des Daches trippelte, schwang sich die Hexe entschlossen auf ihren Besen und flog zu ihm. Das Sternenkind hatte nur einen kurzen Moment Zeit, erschrocken die Augen aufzureißen, da hatte die Hexe es schon gepackt und hinter sich auf ihren Besen gezogen. Nur einen Wimpernschlag später waren die beiden in die Tiefe der Nacht entschwunden.

Die anderen Sternenkinder waren darüber so traurig und entsetzt, dass sie sofort auf ihre Sterne zurückkehrten und nie wieder zur Erde kamen.
Vorbei waren die Zeiten, in denen sie sich um die Zauberblumen kümmerten und ihre Tage mit Spielen und Lachen verbrachten. Die Zauberblumen wurden selbst immer trauriger, weil sie einsam waren und niemand mehr für sie sorgte und mit ihnen spielte. Allmählich verkümmerten sie, bis sie schließlich vollständig verschwanden und nie wieder gesehen wurden.
Seitdem gibt es kein Heilmittel mehr für die Ängste der Menschen und deren Welt ist dunkel und trostlos geworden.
Die Sterne selbst verloren ihren Glanz. Nie wieder konnte man das helle Lachen der Sternenkinder hören, nie wieder das übermütige Getrappel ihrer Füße, wenn sie fangen spielten. Die Sternenkinder mussten feststellen, dass sie alles andere als vor der Traurigkeit der Welt gefeit waren. Fast hatte es den Anschein, als müssten sie nun all die Verzweiflung, die ihnen und den Generationen vor ihnen erspart geblieben war, auf einen Schlag durchleben. Ihre Fröhlichkeit war dahin – das einzige, was die Sternenkinder noch taten, war traurig auf dem Boden zu sitzen und um ihre verlorene Schwester zu weinen. Und in diesen Tränen befand sich all das Glück, das sie früher empfunden hatten, weil nun in ihren Herzen dafür kein Platz mehr war.
Manchmal, wenn der Himmel klar war und von keiner Wolke bedeckt wurde, konnte man ein leichtes Flimmern am Firmament wahrnehmen – so flüchtig, dass man sich nie sicher sein konnte, ob man es sich nicht nur eingebildet hatte. Dies waren die Tränen der Sternenkinder, die Schneeflocken gleich auf die Erde fielen.
Obwohl die Sternenkinder so traurig waren, dass es ihnen fast das Herz zerriss, und sie die Menschen und die Erde verfluchten, weil sie ihnen die Schuld an dem Schicksal ihrer Schwester gaben, waren ihre Tränen für die Erdbewohner dennoch ein rettender Anker in dem Meer der Verzweiflung, in das sie durch das Verschwinden des Blütenstaubs gefallen waren.
Denn weil in den Tränen all das Glück und die Freude, die die Sternenkinder früher empfunden hatten, steckten, besaßen auch sie magische Kräfte. Wenn ein Mensch, der tief in seinem Herzen einen starken Wunsch hegte, ein paar der Tränen fand, so erfüllte sich sein Traum, sobald er die Tränen auf dem Boden verstreute.
So kamen die Tränen der Sternenkinder den Menschen doch noch zu Gute – ganz entgegen des Willens derjeniger, die sie Nacht um Nacht und Tag für Tag verschütteten.

Das neugierige Sternenkind aber war zu Anfang längst nicht so verzweifelt und traurig wie seine Geschwister. Vielleicht lag das an seinem Naturell – seine Freude brannte wie eine lodernde Flamme in seinem Herzen und war durch nichts zum Erlöschen zu bringen.
Außerdem war die böse Hexe, sobald sie das Sternenkind bei sich hatte, überhaupt nicht mehr böse. Sie liebte das Sternenkind von ganzem Herzen, als wäre es ihre eigene Tochter, und auch das Sternenkind lernte, hinter die furchteinflößende Fassade der Hexe zu blicken und deren gutes Herz zu erkennen.
Viele Jahre verbrachten die beiden so in Glückseligkeit und es wäre wahrscheinlich immer so geblieben, wenn nicht der kleine Hase eines Tages zu ihrem Lebkuchenhaus gekommen wäre.
Denn es gab eine Regel im Leben der Hexe, eine Regel, an die sich auch das Sternenkind halten musste, obwohl es sonst frei war, das zu tun, was es beliebte:
Niemals, absolut niemals, durfte man ein Stück vom Lebkuchenhaus essen.
Im Grunde wusste keiner mehr, warum es so war. Schon die Mutter der Hexe hatte diese Regel durchgesetzt und davor deren Mutter und davor deren Mutter und immer so weiter. Es war eines dieser Gesetze, die jeglicher Sinnhaftigkeit entbehrten, aber nichtsdestotrotz unerbittlich durchgesetzt wurden.
Weil die Hexe dies dem Sternenkind so eindringlich eingeschärft hatte, hatte es nie gewagt, auch nur daran zu denken, jemals etwas vom Lebkuchenhaus zu essen. Und auch die Tiere des Waldes wussten um die Gefahr und machten einen großen Bogen um die Hexe und deren Haus.
Der kleine Hase aber, der schließlich das Band zwischen der Hexe und dem Sternenkind zerstören sollte, wusste nicht von dieser Regel. Er und seine Familie waren erst vor kurzem in diese Gegend gekommen und hatten noch nicht davon gehört. Auch die anderen Tiere, mit denen sie bis dahin gesprochen hatten, hatten nicht daran gedacht, ihnen davon zu erzählen.

Eines Tages, ungefähr eine Woche nachdem der Hase mit seiner Familie in den Wald der Hexe gezogen war, verlief er sich beim Spielen. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, sich nicht zu weit von ihrer Höhle zu entfernen, aber der kleine Hase war neugierig und abenteuerlustig, deshalb war es nur eine Frage der Zeit, bis er diese Regel brechen würde.
Es war ein schöner Sommertag und der kleine Hase stellte sich vor, ein Entdecker zu sein, der fremde Gebiete erforschte und neue Welten entdeckte. Als er gerade die Tiefen eines Loches genauer untersuchte, sah er plötzlich einen bunt schillernden Schmetterling, der über seinen Kopf hinwegflog. Der kleine Hase hatte noch nie einen solch schönen Schmetterling gesehen und folgte diesem deshalb sofort, ohne auch nur einen Moment an das Verbot seiner Mutter zu denken. Sicherlich hatte er gerade eine neue Spezies entdeckt!
Es ging über Stock und Stein, über Baumwurzel nach Baumwurzel, und immer hatte der kleine Hase seinen Blick fest auf den Schmetterling geheftet, ohne auf den Weg zu achten.
Der Wald um ihn herum wurde allmählich dunkler, bis er schließlich kaum noch etwas erkennen konnte und auch der schöne Schmetterling vom Schlund der Nacht verschluckt worden war.
Mit einem Mal bemerkte der kleine Hase, wie weit er gelaufen war, und dass er diese Gegend des Waldes überhaupt nicht kannte. Er bekam Angst und wollte nur noch nach Hause, aber er wusste nicht einmal, in welche Richtung er gehen musste.
Überall um ihn herum erwachte die Nacht zum Leben und unheimliche Geräusche, die er nur aus Horrormärchen kannte, drangen an sein Ohr. Die einsamen Schreie von Eulen, die Rufe von Käuzchen, das Rascheln kleiner Tiere, die er nicht sehen konnte, von denen er sich aber vorstellte, hinter einem Baum zu lauern und ihn essen zu wollen.
Der kleine Hase zitterte so sehr, dass seine Schnurrhaare bebten, und er begann, bitterlich zu weinen und nach seiner Mutter zu rufen. Eine ganze Weile saß er so zusammengekauert auf dem Boden, bis ihm ein schwacher Lichtschein, der durch die Lücken zwischen den Baumstämmen zu ihm herüber strahlte, auffiel.
Ohne zu zögern – Licht war schließlich besser als Dunkelheit und er wollte im Moment nichts mehr, als aus dieser herauszukommen – folgte der kleine Hase dem Weg, den der Lichtschein ihm deutete. Er musste nicht lange gehen, bis er vor einem kleinen Haus stand, das nur aus Süßigkeiten zu bestehen schien. Vor Überraschung wurden die Augen des kleinen Hasen riesengroß und auf einen Schlag waren all die Angst und all der Schrecken, die er vor kurzem noch empfunden hatte, vergessen.
Stattdessen hatte das Herz des waghalsigen Entdeckers wieder zu schlagen begonnen.
Vorsichtig näherte er sich dem Haus, aus dessen Fenstern das Licht fiel. Im Inneren sah er ein kleines Mädchen, das noch mehr zu strahlen schien als das Feuer, das im hinteren Teil des Raumes brannte. Es lachte und sah so glücklich aus, als könnte es niemals traurig sein. Dies machte dem kleinen Hasen Mut – wenn hier ein so fröhliches Kind lebte, mussten die Bewohner des Hauses nette Menschen sein.
Der kleine Hase überlegte für einen Moment, ob er klopfen und um Einlass bitten sollte, aber dann hatte er wieder die Stimme seiner Mutter im Kopf, die ihm das Versprechen abnahm, niemals, wirklich niemals, zu fremden Leuten ins Haus zu gehen.
Er hatte an diesem Tag schon eine ihrer Regeln gebrochen, er wollte nicht noch eine zweite dazukommen lassen.
Allerdings hatte der kleine Hase seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und war so hungrig, dass sein Magen schon laut grummelte. Für einen Moment zögerte er noch, aber dann dachte er sich, dass es sicherlich nicht auffiele, wenn er ein kleines Stück vom Fensterladen abknabbern würde. Bei dieser Gelegenheit könnte er gleich erforschen, ob es sich bei ihm wirklich um ein Stück Nussschokolade handelte.
Vorsichtig hoppelte er näher zum Haus und hatte seine Ohren steil aufgerichtet, um bei dem kleinsten Geräusch aus dessen Inneren sofort die Flucht antreten zu können. Aber nichts rührte sich und er hörte lediglich das glockenhelle Lachen des Mädchens.
Behutsam hob der kleine Hase seinen Kopf und biss ein Stück vom Fensterladen ab – es war wirklich Schokolade! Vor Freude machte er einen kleinen Luftsprung und wollte gerade einen zweiten Bissen nehmen, als plötzlich die Haustür links neben ihm aufsprang, und er im Nacken gepackt wurde, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah.
Er wurde in den Raum getragen, den er von draußen gesehen hatte. Das glückliche Mädchen saß an einem Tisch, vor sich ein Brettspiel, und sah ihn aus großen, schreckgeweiteten Augen an.
Er konnte nicht erkennen, wer ihn trug, das einzige, das er sah, waren große Füße, die in abgewetzten Hausschuhen steckten und einen Stock, der bei jedem Schritt auf den Boden klopfte.
Die Füße führten durch den Raum, bis sie in die hintere Ecke kamen, die schlechter beleuchtet war. Dem kleinen Hasen hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen und er konnte nicht einmal fragen, was mit ihm passierte, bevor er in einen großen Kessel gesteckt wurde, der in der dunklen Ecke stand. Ehe er sich im Kessel aufrichten und sehen konnte, wer ihn gefangen genommen hatte, wurde schon ein großes Brett über die Öffnung des Kessels geschoben und der kleine Hase fand sich in tiefster Dunkelheit wieder.
Durch die dicken Wände des Kessels drang kein Geräusch aus dem Raum zu ihm, und das einzige, das er hören konnte, war das schnelle Schlagen seines Herzens, das wohl erkannte, dass es nicht mehr viele Schläge würde tun können.

Das Sternenkind war entsetzt. Es hatte Mitleid mit dem kleinen Hasen – offensichtlich hatte er die Regel nicht gekannt, denn alle anderen Tiere des Waldes hielten sich ohne Ausnahme daran. Niemand war so dumm, es mit der bösen Hexe aufzunehmen. Außerdem war der kleine Hase noch sehr jung, wahrscheinlich war er einfach nur neugierig oder sehr hungrig gewesen.
Die Hexe aber war unerbittlich.
Der Hase hatte die Regel gebrochen und musste deshalb dafür büßen, wie alle anderen vor ihm, die sich angemaßt hatten, von ihrem Haus zu essen.
Das Sternenkind flehte und tobte, es weinte und schrie, aber die Hexe ließ sich nicht abbringen. Dem kleinen Hasen würde das Fell abgezogen werden, anschließend würde sie ihn kochen und zum Mittagessen verspeisen.
Nichteinmal das Sternenkind konnte die Hexe umstimmen, obwohl es in den letzten Jahren immer seinen Willen bekommen hatte und positiv auf die Machenschaften der Hexe einwirken konnte.
Da erkannte es, dass das Herz der Hexe doch nicht so gut war, wie es eigentlich gedacht hatte und es wurde sehr, sehr traurig.
Hinter sich hörte es, wie der kleine Hase verzweifelt in dem Kessel herum krabbelte, und vor sich sah es, wie die böse Hexe bereits emsig und voller Vorfreude alles für das Festessen vorbereitete.
Dies war der Moment, an dem sich das Sternenkind zum ersten Mal zu seinen Geschwistern nach Hause zurücksehnte. Es wollte diese grausame Welt für immer verlassen und zurück in seine Heimat, wo man nett und rücksichtsvoll miteinander umging, und die Tage aus Lachen und Spielen bestanden.
In diesem Moment, als sich das Sternenkind gerade nichts sehnlicher wünschte, rollte eine Träne seine Wange herunter, und als diese langsam zu Boden fiel, hatte sie bei ihm die gleiche magische Wirkung wie bei den Menschen – sein Wunsch erfüllte sich.
Und bevor die Hexe oder das Sternenkind begriffen, was geschah, war es schon aus dem kleinen Lebkuchenhaus verschwunden.

Die anderen Sternenkinder waren außer sich vor Freude, als sie nach all diesen Jahren ihre Schwester zurückbekamen. Sie feierten ein großes Fest und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war wieder fröhliches Lachen auf den Sternen zu hören.
In der Folge fanden die Sternenkinder allmählich zu ihrem alten Leben zurück. Sie spielten in den Wäldern und kümmerten sich um die Pflanzen, die sich langsam von den Jahren der Vernachlässigung erholten, sodass die Sterne bald wieder in altem Glanz erstrahlten. Nur die Zauberblumen sind niemals wieder zurückgekehrt, und auch auf die Erde wollten die Sternenkinder nie wieder einen Fuß setzen.
Dennoch vergaßen sie schon die bald die dunkelsten ihrer Jahre, als hätte es diese nie gegeben, und sie wähnten sich aufs Neue für alle Ewigkeit glücklich.
Das neugierige Sternenkind aber suchte sich von Zeit zu Zeit eine ruhige Ecke, wo es nicht von den anderen gefunden werden konnte, und weinte. Denn auch wenn es froh war, wieder zu Hause zu sein und niemals den armen kleinen Hasen würde vergessen können, vermisste es insgeheim doch die Hexe, die wie eine Mutter gewesen war.
Und diese Tränen des Sternenkindes finden noch immer ihren Weg zur Erde, wo sie einem Menschen mit ein bisschen Glück seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen können.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Imanka, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von flammarion

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