Die Vergebung
Auch heute bekam Herr Schmiedinger die gewohnte Post. Sie kam jeden Freitag, - ein Foto vom Mann im Rollstuhl und ein ausgeschnittenes Stück rotes Karton, das eine rote Ampel darstellen sollte. An anderen Tagen der Woche kam das Stück Karton ohne Foto. Herr Schiedinger heftete das Foto in ein dickes Album und legte das rote Papier in eine Schuhschachtel. Dann zählte er die Fotos: 1090 Freitage waren es, seit das Verfahren abgeschlossen wurde und er mit einer bedingten Strafe davonkam. Er betrachtete die Bilder – der Mann im Rollstuhl ist alt geworden… Wie die Zeit vergeht, tja… Dann las er eine Stunde lang in seinem Gerichtsakt und machte sich auf den Weg zum Tatort. Dies tat er auch schon seit Tausend und neunzig Freitagen, - immer zur gleichen Zeit. An anderen Tagen der Woche las er zwar im Gerichtsakt, unterließ jedoch den Gang zur Kreuzung, an der er zum Täter wurde. Die minutiöse Sorgfalt beim Einhalten des täglichen Rituals war es, die ihn am Leben hielt. Auch der Mann im Rollstuhl blieb seiner Rolle immer treu. Er unterließ es nie, seine Briefe abzuschicken und kam auch jeden Freitag an die Kreuzung, an der er zum Opfer wurde. Dort trafen sie sich schweigend, betrachteten einander wenige Minuten, sahen sich die Ampel an und gingen auseinander. Im Laufe der Jahre hat sich dieses Rendezvous verfestigt, obwohl sie kein Wort miteinander sprachen.
Die rote Ampel machte nur ein Teil des Verschuldens vom Herrn Schmiedinger aus. – Er hatte 2 Bier getrunken bevor er ins Auto stieg, und fuhr die Kreuzung auch viel zu schnell an für das neblige Wetter. Die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens sah er reumütig ein. Doch die Ampel, - die Ampel sollte auf seiner Seite sein. Er sah sie „Grün“. Die Ampel war grün, als er sich dem Zebrastreifen näherte. Ja, sie war grün! - Beim Heil seiner Seele, bei allem, was ihm lieb und teuer im Leben war, könnte er schwören: die Ampel war grün. Doch Zeugen gab es keine und das Opfer beharrte auf dem Gegenteil: auch der Mann im Rollstuhl wollte schwören, - beim Heil seiner Seele, bei allem, was ihm vom Leben übrig blieb…
Nach 21 Jahren verdrängte die zerschundene Psyche des Herrn Schmiedinger den Augenblick seiner Tat. Mit jeder neuen „roten Ampel“, die er in die Schuhschachtel einräumen musste, wuchsen seine Zweifel. Er erinnerte sich an sein eigenes verzweifeltes Schreien im Gerichtssaal, doch nicht mehr an die Farbe des Lichtleins, wie es damals aus dem dichten Nebel schimmerte. Dafür besuchte ihn immer wieder ein erlösender Traum: da kam er dem Mann im Rollstuhl entgegen und reichte ihm einen Stein. Dieser jedoch warf den Stein nicht auf den reuigen Sünder, sondern viel höher – über seinen Kopf – und zerschlug die verhasste, rot leuchtende Ampel.
Diesem Traum folgte er am heutigen Freitag, - genau eine Woche bevor es volle 21 Jahre werden sollten. Um 17:45 stand er an der ungeraden Seite der Straße und wartete. Der Mann im Rollstuhl kam wie gewohnt um 17:50 und starrte ihn von der anderen Seite an. Nach einundzwanzig Jahren ging Herr Schmiedinger über die Straße. Das Opfer betrachtete entsetzt den Pflasterstein in seiner Hand. Herr Schmiedinger ging vor dem Rollstuhl auf ein Knie und gab dem Mann im Rollstuhl den Stein. Er glaubte an die Vergebung so fest, wie man an Gott glaubt. Doch der Mann im Rollstuhl war nicht der Mann aus seinem Traum. Er holte aus und schlug ihm den Stein ins reuige, erwartungsvolle Gesicht.
Auch heute bekam Herr Schmiedinger die gewohnte Post. Sie kam jeden Freitag, - ein Foto vom Mann im Rollstuhl und ein ausgeschnittenes Stück rotes Karton, das eine rote Ampel darstellen sollte. An anderen Tagen der Woche kam das Stück Karton ohne Foto. Herr Schiedinger heftete das Foto in ein dickes Album und legte das rote Papier in eine Schuhschachtel. Dann zählte er die Fotos: 1090 Freitage waren es, seit das Verfahren abgeschlossen wurde und er mit einer bedingten Strafe davonkam. Er betrachtete die Bilder – der Mann im Rollstuhl ist alt geworden… Wie die Zeit vergeht, tja… Dann las er eine Stunde lang in seinem Gerichtsakt und machte sich auf den Weg zum Tatort. Dies tat er auch schon seit Tausend und neunzig Freitagen, - immer zur gleichen Zeit. An anderen Tagen der Woche las er zwar im Gerichtsakt, unterließ jedoch den Gang zur Kreuzung, an der er zum Täter wurde. Die minutiöse Sorgfalt beim Einhalten des täglichen Rituals war es, die ihn am Leben hielt. Auch der Mann im Rollstuhl blieb seiner Rolle immer treu. Er unterließ es nie, seine Briefe abzuschicken und kam auch jeden Freitag an die Kreuzung, an der er zum Opfer wurde. Dort trafen sie sich schweigend, betrachteten einander wenige Minuten, sahen sich die Ampel an und gingen auseinander. Im Laufe der Jahre hat sich dieses Rendezvous verfestigt, obwohl sie kein Wort miteinander sprachen.
Die rote Ampel machte nur ein Teil des Verschuldens vom Herrn Schmiedinger aus. – Er hatte 2 Bier getrunken bevor er ins Auto stieg, und fuhr die Kreuzung auch viel zu schnell an für das neblige Wetter. Die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens sah er reumütig ein. Doch die Ampel, - die Ampel sollte auf seiner Seite sein. Er sah sie „Grün“. Die Ampel war grün, als er sich dem Zebrastreifen näherte. Ja, sie war grün! - Beim Heil seiner Seele, bei allem, was ihm lieb und teuer im Leben war, könnte er schwören: die Ampel war grün. Doch Zeugen gab es keine und das Opfer beharrte auf dem Gegenteil: auch der Mann im Rollstuhl wollte schwören, - beim Heil seiner Seele, bei allem, was ihm vom Leben übrig blieb…
Nach 21 Jahren verdrängte die zerschundene Psyche des Herrn Schmiedinger den Augenblick seiner Tat. Mit jeder neuen „roten Ampel“, die er in die Schuhschachtel einräumen musste, wuchsen seine Zweifel. Er erinnerte sich an sein eigenes verzweifeltes Schreien im Gerichtssaal, doch nicht mehr an die Farbe des Lichtleins, wie es damals aus dem dichten Nebel schimmerte. Dafür besuchte ihn immer wieder ein erlösender Traum: da kam er dem Mann im Rollstuhl entgegen und reichte ihm einen Stein. Dieser jedoch warf den Stein nicht auf den reuigen Sünder, sondern viel höher – über seinen Kopf – und zerschlug die verhasste, rot leuchtende Ampel.
Diesem Traum folgte er am heutigen Freitag, - genau eine Woche bevor es volle 21 Jahre werden sollten. Um 17:45 stand er an der ungeraden Seite der Straße und wartete. Der Mann im Rollstuhl kam wie gewohnt um 17:50 und starrte ihn von der anderen Seite an. Nach einundzwanzig Jahren ging Herr Schmiedinger über die Straße. Das Opfer betrachtete entsetzt den Pflasterstein in seiner Hand. Herr Schmiedinger ging vor dem Rollstuhl auf ein Knie und gab dem Mann im Rollstuhl den Stein. Er glaubte an die Vergebung so fest, wie man an Gott glaubt. Doch der Mann im Rollstuhl war nicht der Mann aus seinem Traum. Er holte aus und schlug ihm den Stein ins reuige, erwartungsvolle Gesicht.