Ein Weihnachtserlebnis

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Akono

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Ein Weihnachtserlebnis

Moskau im Dezember 1998 - Sergeij lag in einer Seitengasse der belebten Einkaufsstraße und suchte verzweifelt nach etwas Essbarem oder Wärmenden oder , wenn es die Vorsehung gut mit ihm meinen sollte , auch nach Beidem . Sergeij gehörte zu den unzähligen obdachlosen Kindern die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in jeder russischen Großstadt zum Straßenbild gehören wie die Türme der orthodoxen Kirchen . Er war gerade einmal 8 Jahre
alt , hatte in seiner nun schon 2 Jahre anhaltenden Straßenkarriere aber schon mehr schlimme Dinge gesehen und erlebt als es einem durchschnittlichem westlichen Kind normalerweise in seinem gesamten Leben widerfahren würde . Die Gasse , in der er herumstrolchte , führte über weitere Nebengässchen in die Hinterhöfe von Geschäften in denen nur die hauchdünne , neureiche Oberschicht der Moskauer einkaufen konnte , selbst solch angesehenen Leuten wie Universitätsprofessoren , Ingenieuren oder Armeeoffizieren war es nicht möglich dort zu verkehren . Das hatte allerdings wiederum einen unschlagbaren Vorteil für Straßenkinder wie Sergeij . In diesen Geschäften gab es zum einen die leckersten und besten Dinge in hoher Stückzahl , zum anderen mussten die Inhaber sehr auf die Qualität ihrer Ware achten , was der Neigung leicht angeschlagene Waren auszusortieren sehr förderlich war . Allerdings verschoben die Kaufleute einen Großteil der Waren unter der Hand an weniger wohlhabende Kundschaft zu sogenannten Vorzugspreisen . Dies war ihr zweiter Markt , wie es die Kaufleute untereinander gerne bezeichneten .
Gerade schlich Sergeij durch einen schmutzigen Hinterhof und entdeckte neben der Tür des Hauses etwas Dunkles , was dort anscheinend auf einem Nagel oder Haken aufgehängt war . Beim Nähertreten stellte er fest , daß es sich um einen alten Pelz handelte den der Besitzer wohl während der Arbeiten im Hinterhof trug . Schwups hatte Sergeij den Pelz an sich genommen und mit einem Bindfaden zu einem Bündel verschnürt . Der Pelz , für einen Erwachsenen gefertigt und nicht für einen halbverhungerten Achtjährigen , würde ihm in den eisigen Moskauer Nächten mit Sicherheit gute Dienste leisten . Um modische Erfolge machte sich Sergeij eh keine Gedanken ! Ihm war wichtiger daß der Pelz mehrmals um seinen ausgezehrten Leib gewickelt werden konnte , als der Umstand daß er im Pelz kaum noch zu sehen sein und der Saum durch den Straßendreck schleifen würde ! Eiligst schlüpfte er aus dem Hof , um nicht im letzten Moment doch noch vom Besitzer gefasst zu werden . Im nächsten Hof stieß er auf einen Eimer mit in der Kälte dampfendem , heißem Wasser
darinnen , in dem noch die Reste der Fische schwammen die in dem Sud gereinigt und ausgenommen worden waren . Auch diesen hatte er sich in Windeseile geschnappt um ihn nach essbaren Fischresten zu untersuchen . Erst einmal verschwand er mit dem Eimer aber in Richtung der Gasse von der er gekommen war . Sollte einer der vorherigen Besitzer seiner Fundstücke etwa auftauchen während er im heißen Wasser nach Fischresten angelte , und wütend sein Eigentum zurückfordern , so hatte er in dieser Gasse einfach die besseren Fluchtmöglichkeiten . Das Gässchen war allerdings nicht mehr einsam und verlassen wie es noch zu Beginn von Sergeijs Streifzug in die verwinkelten Hinterhöfe gewesen war . Ein zerlumpter Mann war vielmehr gerade im Begriff einer etwa 30 jährigen Frau durch Drohung mit einem Messer ihr Eigentum abzunehmen . Eine der ersten Lektionen die jeder auf der Straße lernte war , \" Kümmere dich niemals um anderer Leute Leid , denn bereits deines ist größer als du es gebrauchen kannst !\"Also beobachtete Sergeij zwar die Handlungen der Beiden , mischte sich jedoch nicht ein sondern verzog sich zwischen Müllkübel und Unrat in eine stille Ecke und begann stattdessen in dem heißen Wasser nach verdaulichem Fischabfall zu suchen . Es war ihm allerdings nicht lange vergönnt die Rolle des Unbeteiligten zu spielen ! Denn schon hob der Räuber seine rechte Hand , in der er das Messer hielt , an , um der nun bis auf Hose und Pullover vollends ihrer Sachen beraubten Frau einen tödlichen Stich zu
versetzen . Es war mehr Eingebung und Instinkt als Überlegung und Abwägung die Sergeij zu seiner nun folgenden Tat verleiteten , vielleicht hätte er ansonsten anders gehandelt . So aber goss er kurzerhand den Fischeimer über dem Übeltäter aus , ergriff die Hand der Frau und zog die noch immer Schreckensstarre so schnell es ging in Richtung der belebten Einkaufsstraße davon . Wie ein Schlag mit einem Knüppel traf den Räuber das heiße Wasser ! Die Wärme brannte auf seiner unterkühlten Haut , stinkendes Wasser brannte in seinen Augen und in seiner Nase während ihm Fischsud mit ekligem Geschmack in seinen vor Erschrecken offenstehenden Mund eindrang ! „ Kommen Sie endlich Lady ! Schnell , schnell weg von
hier !\" brüllte Sergeij noch immer und zerrte weiter an der Fassungslosen . Warum er ausgerechnet diesen englischen Ausdruck verwendete den er in vergangenen , besseren Tagen einmal in einem Fernsehfilm gehört hatte musste wohl unter den unerklärlichen Begebenheiten des Lebens verbucht werden . Im Moment aber mussten sie sich erst einmal vor dem Killer in Sicherheit bringen . Endlich kamen Menschen , aufmerksam geworden durch Sergeijs Geschrei , herbei um zu helfen . Zu seinem grenzenlosen Entsetzen schienen sie aber ihn für den Übeltäter zu halten , denn schon griffen die ersten von ihnen mit wutverzerrten Gesichtern nach ihm während sie ihm fortwährend die übelsten Verwünschungen entgegenhielten . Eiligst wandte sich der verschreckte kleine Held zur Flucht . In all der Aufregung verlor er zu allem Unglücke auch noch sein Bündel in dem sich all seine Besitztümer befanden ! Dieser Umstand würde seinem Fortkommen auf der Straße sicherlich nicht dienlich sein . War das der Lohn der guten Tat ?

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Natascha lag daheim auf ihrem Sofa . Ihre Augen waren rotgeweint , ihr Körper wurde immer wieder von übermächtigen Zitteranfällen befallen , an Schlaf war nicht im Entferntesten zu denken obwohl ihr der Arzt bereits zwei Beruhigungsspritzen verabreicht hatte . Wieder und wieder wurde sie von den schlimmen Geschehnissen dieses Tages heimgesucht . Stunden - langen Verhören bei der Polizei hatten sich mindestens ebenso lange Beschwichtigungen an ihren besorgten Ehemann Anatol angeschlossen , nun war sie im wahrsten Sinne des Wortes erledigt . Doch jedes mal wenn sie die Augen schloss um ein wenig Schlaf zu bekommen stand der Räuber wieder vor ihr . Schlimmer aber verfolgte sie der ängstlich , besorgte Rehblick des verschmutzten Jungen der ihr unter Einsatz seines eigenen Lebens das Ihrige gerettet hatte und der sie mit dem englischen Begriff Lady angesprochen hatte ! Warum hatte er nur diesen Ausdruck verwandt ? War es aus Ehrfurcht vor ihrer Stellung in der Gesellschaft , die seiner eigenen so sehr überlegen war , oder passierte es einfach nur deshalb weil sie in die neueste Pariser Mode gekleidet war ? Würde sich dieses Rätsel je klären lassen ? Natascha war nicht , wie von Sergeij vermutet , Anfang 30 , sie war vielmehr bereits 39 ! Zahlreiche Aufenthalte auf Schönheitsfarmen hatten jedoch ihren Zweck nicht verfehlt . Anatol verdiente sein Geld an der gerade erblühenden Moskauer Börse , und das sehr erfolgreich , endlos glücklich waren sie beide trotzdem nicht . Sehnlichst wünschten sie sich ein Kind und hatten bereits unzählige Fachärzte wegen ihrer Kinderlosigkeit konsultiert ! Allerdings ohne Erfolg , Natascha würde nie eigene Kinder gebären können . Vielleicht war es ihr deshalb nicht schwer gefallen Anatol zu überreden den zerlumpten Retter seiner Natascha suchen zu lassen um ihm eventuell ein neues Heim bei den Zweien zu bieten ! Nun war es aber schon spät am Abend und ein Erfolg war immer noch nicht abzusehen . So sollte es auch in den kommenden Tagen bleiben . Es schien als wäre der kleine Sergeij unsichtbar aus Moskau entkommen !

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Das begehrte Ziel von Nataschas und Anatol`s Suche hatte sich auf der Flucht vor der keifenden Meute unterdessen ziellos durch die kalten Strassen gehetzt . Das die Frau die er errettet hatte versuchte die Menschen von ihm fernzuhalten bekam er längst nicht mehr mit . Schließlich langte er in einem der vielen Elendsvierteln von Moskau an . Seinem ohnehin ausgezehrten Körper hatte die überstürzte Flucht beinahe die letzten Lebensreserven gekostet . Nur mühsam konnte sich der Kleine auf seinen Streichholzbeinchen halten . Erschwerend kam hinzu , daß ihm auch sein Bündel schmerzlich fehlte . Nicht nur Wärmendes , nein auch einen verschimmelten Brotknust hätte er darin finden können der ihm wenigstens ein wenig der verbrauchten Energie zurückgegeben hätte . „ Selbst Schuld Sergeij !\" sprach er verbittert mit sich selbst . „ Hättest halt das Gelernte nicht missachten sollen ! Dann hättste jetzt noch Dein Bündel und zusätzlich einige Handvoll Fischflossen , Gräten und Heringsköpfe im Bauch !\" Entmutigt und erschöpft kroch er unter die Vortreppe eines der Häuser und schlief beinahe augenblicklich ein . Stunde um Stunde schlief er ohne auch nur für eine Sekunde zu erwachen ! Spät am folgenden Tag wurde er hier von spielenden Kindern der Nachbarschaft gefunden , die ein in der Nähe befindliches Auffanglager für streunende Kinder in Kenntnis setzten . Zu diesem Zeitpunkt war Sergeij aber bereits so gut wie erfroren ! Nur noch ganz schwach flackerte sein Lebenslichtlein !


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22 . 12 . 98 ! Natascha fand einfach keine Ruhe . Bereits seit gut zwei Wochen durchsuchten sie und ihr Mann mit unzähligen Helfern Moskau . In jedem bekannten Krankenhaus das Obdachlose aufnahm waren sie gewesen . Jedes Kinderheim , jede Polizeistelle , Wohlfahrts - organisation usw. usw. die ihnen einfiel hatten sie besucht ! Alles ohne Erfolg ! Nun waren sie am Ende der Suche angelangt ! Hier in Moskau wussten sie kein Loch mehr in dem sich ein Straßenkind verbergen konnte . Gedankenverloren stapfte Natascha vor sich hin . Dabei erreichte sie eine Gegend die ihr völlig unbekannt war , aber sie registrierte es nicht einmal . Viel war in der jüngsten Zeit in ihr vorgegangen , sie hatte sich in vielem verändert , war gereift ! Zwar trug sie auch heute Jeans und einen teuren Pullover sowie einen kostbaren Pelz . Pelz wurde in Russland aber beinahe von jedem getragen , und auch das kleinste Stück verruchter westlicher Modeüberflüssigkeiten war aus ihrer Bekleidung entschwunden . Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf zwei Jungen gelenkt die sich vor einem verfallenen Gebäude um einen Kanten Brot stritten . Was stand dort auf dem Schild hinter den Zweien ? Kinderasyl !? Daß es hier einen Hort für Straßenkinder gab war Natascha neu , aber ein Gefühl unbestimmter Glückseligkeit und drängender Ungeduld zog sie geradezu magisch zu dem Gebäude hin ! Nachdem sie die Eingangstür hinter sich gelassen hatte befand sie sich in einem langen Gang von dem unzählige Türen abgingen . Überall standen dichtgedrängt verschmutzte Betten herum in denen teilweise drei oder vier verwahrloste Kinder teilnahmslos herumlagen . Natascha war bestürzt ! Ein Mitarbeiter sprach sie an , und Natascha erklärte ihm was , oder besser wen sie suchte . Mutlos schüttelte der Mann den Kopf . Zu viele Kinder starben täglich auf Moskaus Strassen als das er ihr Hoffnung machen wollte ihren Schützling hier zu finden , wo doch nur ein winziger Bruchteil des russischen Strandgutes angespült wurde . Aber er führte sie trotzdem gerne durch sein schauriges Reich der vergessenen Kinder . Und er schien Recht zu behalten ! Sie waren bereits in der letzten der nach Urin , Kot und Erbrochenem stinkenden Kammern angekommen , von Sergeij jedoch keine Spur . Mutlos wollte sich Natascha abwenden , da wurde sie auf ein ersticktes Stöhnen aus einem der Betten aufmerksam . Eindringlich richtete sie ihren Blick auf den Haufen dreckiger Bettwäsche ! Da ! Tatsächlich , da lugte doch noch ein Haarschopf aus dem Gewusel hervor ! Tränen der Freude rannen Natascha über ihr hübsches Gesicht , als sie beim Zurückschlagen der Decke das ausgemergelte Gesicht ihres Lebensretters erblickte ! In Windeseile war alles Notwendige in die Wege geleitet und Sergeij wurde in einem modernen Krankenwagen ins Haus von Anatol transportiert , wo sich sofort die besten Ärzte um ihn kümmerten . Und diese konnten Anatol und Natascha recht bald die schönsten Nachrichten ihres Lebens überbringen ! Sergeij war zwar sehr schwach , würde aber bei angemessener Pflege bald schon wieder bei vollster Gesundheit sein . Nie vorher war den Beiden ein Weihnachtsfest so schön geschenkt worden , wie das des Jahres 1998 ! Und keines könnte in Zukunft je an dieses heranreichen ! Und auch das Heim das Sergeij in seiner Not erstes Obdach war profitierte von seiner guten Tat ! Von jenem Tage an schlief keines der dort lebenden Kinder mehr in schmutziger Wäsche , litt Hunger oder musste sonnstwelche Entbehrungen in Kauf nehmen . Allen wurde im Gegenteil sogar ein angemessener Schulbesuch finanziert , der das Leben auf der Straße bei den Kindern bald in Vergessenheit geraten ließ !

Irgendwo saß also doch ein Weihnachtsengel der das Gute im Menschen belohnte !!!!
 

Rainer

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hallo akono,

meine wertung deines textes ist zweigeteilt:
positiv - du verstehst es sehr gut, situationen und orte zu schildern und lebendig zu machen. deine sprache gefällt mir sehr gut.
negativ: laß es mich hart sagen - schwulst. die botschaft deines textes trieft vor sentimentalität. erinnert mich an jahrhunderwende-jugendromane (friedel starmatz etc.)
währenddessen mir die beschreibung der lebensumstände des jungen sehr gut gefallen haben (sehr real), versinkt der rest in einem märchen.
verstehe mich bitte nicht falsch, ich habe nichts gegen leute, die an das gute im menschen glauben, nur scheint mir dein text eher ein wunschtraum zu sein, ohne jeglichen ansatz zur veränderung hin. (der gute onkel/gott/fee wird es schon richten)
auf grund der ambivalenz werde ich auch nicht bewerten, ich will dich ja nicht für deine ideale bestrafen. :)

gruß

rainer
 

Akono

Mitglied
Hallo Rainer,
ich danke Dir für Deine lobenden Worte! Was den Inhalt der Geschichte betrifft gebe ich Dir insofern recht, dass er natürlich ein Wunschdenken an das Gute in der Welt und dem Menschen widerspiegelt! Aber das ist nicht ungewollt! Die Realität ist oft traurig genug, was soll ich dazu noch schreiben. Ist es da nicht schöner eine rosarot eingefärbte Realität darzustellen? Und unmöglich ist das Szenario ja auch in keinster Weise. Ist es nicht gerade das wahre Leben, dass uns Schreiber oft genug sagen lässt "Wenn ich das geschrieben hätte, dass glaubte mir niemand!", oder auch, "Das kann in kein Drehbuch geschrieben werden"! Ich bin Dir aber sehr dankbar für Deine kritischen Worte, nur so kann es voran gehen!
 



 
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