Eine vertane Chance

Eine vertane Chance​
von Felix Blauwald

Sich in einen One-Night-Stand verlieben passiert nur ausgemachten Einfaltspinseln. Noch vor einer Woche hätte er drei Monatsgehälter darauf gewettet, jetzt saß er hier, sah mit melancholischem Lächeln aus dem Fenster des Theatercafés und verfluchte sich dafür, nur ein Handyfoto von Susanne zu besitzen. Nicht mal ihre Nummer hatte er notiert, vom Familiennamen ganz zu schweigen. Draußen war die Nacht heraufgezogen. Eine frische Brise trieb vereinzelte Blätter, die vom letzten Herbst übriggeblieben sein mochten, über den Platz. Ein paar Jugendliche saßen dick eingemummelt zu Füßen des Dichterdenkmals und spielten auf ihren Smartphones. Am Theater öffneten sich die Türen. Erst vereinzelt, dann in hellen Scharen drängten die Besucher heraus. Die Männer schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, zogen die Hüte tief ins Gesicht und drehten ihre Schultern gegen den Wind um ihren Frauen ein bisschen Schutz zu bieten. Hastigen Schrittes eilten sie über den Platz. Die ersten fluteten das Café, andere drängten nach. Schnell bildete sich eine Traube wartender Gäste vor dem schmalen Eingang, da sah er die Frau. Sie trug einen roten Wintermantel mit weißem Kragen und Kunstpelz an Ärmeln und Saum. Den Mund verhüllte ein dicker grüner Schal. Für einen kurzen Augenblick erschien sie auf der Eingangsstufe und sah in seine Richtung. Er erhaschte einen flüchtigen Blick ihrer Augen. Es war genau das Blau, nach dem zu suchen er fast aufgegeben hätte. Er stolperte beim Aufstehen und warf einen Zwanziger auf den Tisch. Er konnte sie nicht mehr sehen. Ein breitschultriger Mann hatte sich vor sie geschoben. Seine Silhouette füllte die ganze Eingangstür aus. Max geriet in Panik. Er riss seine Jacke vom Haken und stürmte verzweifelt gegen die Wand aus Menschen an, die sich ihm in den Weg stellte. Drängelnd und wild um sich boxend gelangte er endlich ins Freie. Er blickte die Schützengasse hinunter und konnte sie nicht entdecken. Er kämpfte sich durch den nicht versiegenden Strom aus Theaterbesuchern und späten Spaziergängern. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte er sie. Sie schritt zügig aus. Ihr langes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab und wehte ihr nach, wie der Schweif eines Kometen.
So laut er konnte, rief er ihren Namen, hoffend, dass sie ihn hören würde, aber der Wind trug seine Stimme davon und ihr blonder Schopf verschwand hinter der Ecke des Heka-Kaufhauses. Er rannte los. Als er am Heka ankam, glaubte er, sie verloren zu haben. Doch dann, weit hinten, schon fast auf Höhe der Post, entdeckte er eine Radfahrerin mit rotem Mantel, die in die Schwanseestraße einbog. Er lief, so schnell er konnte hinterher. Nach fünf Minuten begann die Lunge zu brennen, doch solange er sie im Blick behielt, war ihm alles andere egal. Im schnellen Dauerlauf querte er den Stadtring und glaubte sogar, ein Stückchen näher herangekommen zu sein, er mobilisierte seine letzten Reserven und hatte Erfolg. Ganz deutlich sah er den grünen Schal und die blonden Haare. Drehte sie nicht sogar den Kopf und sah zurück zu ihm? Ihm fehlte die Kraft, um nochmal ihren Namen zu rufen. Sein Puls raste und lästiges Seitenstechen setzte ein, aber was machte das schon, bald würde er sie einholen und dann war alles gut. Auf Höhe der Zufahrt zum Neubaugebiet verlor er sie einen Moment aus den Augen. War sie abgebogen oder in einem der Häuser verschwunden, die geradeaus, längs der Straße standen? Er entschied sich für rechts und lief die kleine Steigung hinauf, über die Bahnbrücke, dann blieb er abrupt stehen. Die Straße war leer. Sie war weg. Wahrscheinlich in das Meer gesichtsloser Straßen eingetaucht, deren Plattenbauten sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, sich nur in der Nummerierung ihrer Hauseingänge unterschieden. Benommen stand er da. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, dann verließ ihn die Kraft, er ging in die Knie, sank auf den Bürgersteig, nahm den Kopf in die Hände und versuchte Puls und Atem zu beruhigen. Er hasste sich dafür, dass er sie verloren hatte. Er trommelte mit geballten Fäusten auf den Asphalt. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte seine Wut heraus, dann trat er den Heimweg an. Es ging auf Mitternacht zu. Morgen früh würde er zurückkommen und das Viertel durchkämmen, Straße für Straße, Haus für Haus und wenn es sein musste, würde er an jeder Wohnung klingeln, bis er ihr gegenüberstand.
Zu allem entschlossen sprang er am Morgen aus dem Bett, frühstückte hastig und machte sich auf den Weg. Gestern, während dieser Sekunde, die er ihr in die Augen geblickt hatte, war es passiert. Die Zeit war zurückgesprungen. Der Klang ihrer Stimme schwebte wieder in jedem Raum, er schmeckte ihren Kuss auf seinen Lippen, hatte den Geruch ihrer Haut in der Nase, die Topografie ihres Körpers in den Fingerspitzen. Aber mit jedem Schritt, den er sich Weimar-West näherte, verblassten die Erinnerungen. Als er vor der schier endlosen Reihe der Plattenbauten ankam, die in Reih und Glied standen wie die Paradesoldaten auf dem Roten Platz, meldete sich ein Gefühl der Resignation. Er atmete kurz durch, dann drückte er den ersten Klingelknopf. Bis zum Mittag schaffte er acht Blocks. Ohne Ergebnis. Er spürte, dass sein Tempo nachließ, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, sich zu motivieren. Anfangs hatte er jede Klingel einzeln ausprobiert und einen kleinen Jubelschrei ausgestoßen, wenn der Summer ertönte und die Haustür aufsprang. Vom Erdgeschoss ausgehend arbeitete er sich systematisch nach oben, klopfte an jeder Tür, sagte seinen Spruch auf und zeigte das Foto vor. Später erkannte er, dass ganz unten die Alten wohnten, die ihren Aufgang gut kannten und beschränkte sich deshalb darauf, hier zu klingeln. Nur wenn niemand öffnete, versuchte er es weiter oben. Als die Sonne unterging lagen die Budapester, die Warschauer und die Prager Straße hinter ihm, vor ihm die Kaunaser. Die Haustür am ersten Aufgang stand offen und er trat ein. Im Erdgeschoss war niemand zuhause, deshalb versuchte er es in der 2. Etage. O. & P. Kaufmann war die Klingel beschriftet. Ein kleiner Junge öffnete die Tür einen Spaltbreit. Max fragte nach den Eltern.
„Papa ist nicht da!“ nuschelte der Kleine und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Er klingelte nochmals. Es dauerte einen Augenblick bis wieder geöffnet wurde. Zuerst sah er ihre Haare. Lang. Blond. Dann ihre Augen. Das Blau vom Theatercafé. Max hielt den Atem an. Im Moment des Erkennens stand die Zeit noch einmal für eine Sekunde still.
„Du?“
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr Gesicht. Ihm versagte die Stimme. Eiseskälte lief ihm über den Rücken.
„Ich …, ähm …, Entschuldigung …“ stammelte er.
Die Frau lächelte.
„Bist mir nachgelaufen, gestern Abend, stimmt’s?“
Der kleine Junge schielte neugierig um die Ecke.
„Wer is’n das, Mama?“
„Nur ein Bekannter. Geh wieder spielen. Mama kommt gleich.“
Der Junge trollte sich.
„Mein Sohn Dominique.“ sagte sie und es klang fast ein wenig entschuldigend. Er blickte dem Kleinen hinterher. Der Junge verschwand im Kinderzimmer. An der Flurgarderobe hingen der rote Mantel und der grüne Schal. Die Frau stand unentschlossen da, pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Max sah den dunklen Haaransatz am Scheitel, die fremde Nase, das unbekannte Kinn. Nicht mal der Mund hatte Ähnlichkeit mit Susanne. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Felix Blauwald, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Leicht spannende Geschichte mit überraschendem Ende! Hat mir gut gefallen. Bitte füge noch Absätze ein, das macht das Lesen sehr viel leichter.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
Eine vertane Chance​
von Felix Blauwald

Sich in einen One-Night-Stand verlieben passiert nur ausgemachten Einfaltspinseln. Noch vor einer Woche hätte er drei Monatsgehälter darauf gewettet, jetzt saß er hier, sah mit melancholischem Lächeln aus dem Fenster des Theatercafés und verfluchte sich dafür, nur ein Handyfoto von Susanne zu besitzen. Nicht mal ihre Nummer hatte er notiert, vom Familiennamen ganz zu schweigen. Draußen war die Nacht heraufgezogen. Eine frische Brise trieb vereinzelte Blätter, die vom letzten Herbst übriggeblieben sein mochten, über den Platz. Ein paar Jugendliche saßen dick eingemummelt zu Füßen des Dichterdenkmals und spielten auf ihren Smartphones.

Am Theater öffneten sich die Türen. Erst vereinzelt, dann in hellen Scharen drängten die Besucher heraus. Die Männer schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, zogen die Hüte tief ins Gesicht und drehten ihre Schultern gegen den Wind um ihren Frauen ein bisschen Schutz zu bieten. Hastigen Schrittes eilten sie über den Platz. Die ersten fluteten das Café, andere drängten nach. Schnell bildete sich eine Traube wartender Gäste vor dem schmalen Eingang, da sah er die Frau. Sie trug einen roten Wintermantel mit weißem Kragen und Kunstpelz an Ärmeln und Saum. Den Mund verhüllte ein dicker grüner Schal. Für einen kurzen Augenblick erschien sie auf der Eingangsstufe und sah in seine Richtung. Er erhaschte einen flüchtigen Blick ihrer Augen. Es war genau das Blau, nach dem zu suchen er fast aufgegeben hätte. Er stolperte beim Aufstehen und warf einen Zwanziger auf den Tisch. Er konnte sie nicht mehr sehen. Ein breitschultriger Mann hatte sich vor sie geschoben. Seine Silhouette füllte die ganze Eingangstür aus.

Max geriet in Panik. Er riss seine Jacke vom Haken und stürmte verzweifelt gegen die Wand aus Menschen an, die sich ihm in den Weg stellte. Drängelnd und wild um sich boxend gelangte er endlich ins Freie. Er blickte die Schützengasse hinunter und konnte sie nicht entdecken. Er kämpfte sich durch den nicht versiegenden Strom aus Theaterbesuchern und späten Spaziergängern. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte er sie. Sie schritt zügig aus. Ihr langes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab und wehte ihr nach, wie der Schweif eines Kometen.

So laut er konnte, rief er ihren Namen, hoffend, dass sie ihn hören würde, aber der Wind trug seine Stimme davon und ihr blonder Schopf verschwand hinter der Ecke des Heka-Kaufhauses. Er rannte los. Als er am Heka ankam, glaubte er, sie verloren zu haben. Doch dann, weit hinten, schon fast auf Höhe der Post, entdeckte er eine Radfahrerin mit rotem Mantel, die in die Schwanseestraße einbog. Er lief, so schnell er konnte hinterher. Nach fünf Minuten begann die Lunge zu brennen, doch solange er sie im Blick behielt, war ihm alles andere egal. Im schnellen Dauerlauf querte er den Stadtring und glaubte sogar, ein Stückchen näher herangekommen zu sein, er mobilisierte seine letzten Reserven und hatte Erfolg.

Ganz deutlich sah er den grünen Schal und die blonden Haare. Drehte sie nicht sogar den Kopf und sah zurück zu ihm? Ihm fehlte die Kraft, um nochmal ihren Namen zu rufen. Sein Puls raste und lästiges Seitenstechen setzte ein, aber was machte das schon, bald würde er sie einholen und dann war alles gut. Auf Höhe der Zufahrt zum Neubaugebiet verlor er sie einen Moment aus den Augen. War sie abgebogen oder in einem der Häuser verschwunden, die geradeaus, längs der Straße standen? Er entschied sich für rechts und lief die kleine Steigung hinauf, über die Bahnbrücke, dann blieb er abrupt stehen. Die Straße war leer. Sie war weg. Wahrscheinlich in das Meer gesichtsloser Straßen eingetaucht, deren Plattenbauten sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, sich nur in der Nummerierung ihrer Hauseingänge unterschieden.

Benommen stand er da. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, dann verließ ihn die Kraft, er ging in die Knie, sank auf den Bürgersteig, nahm den Kopf in die Hände und versuchte Puls und Atem zu beruhigen. Er hasste sich dafür, dass er sie verloren hatte. Er trommelte mit geballten Fäusten auf den Asphalt. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte seine Wut heraus, dann trat er den Heimweg an. Es ging auf Mitternacht zu. Morgen früh würde er zurückkommen und das Viertel durchkämmen, Straße für Straße, Haus für Haus und wenn es sein musste, würde er an jeder Wohnung klingeln, bis er ihr gegenüberstand.

Zu allem entschlossen sprang er am Morgen aus dem Bett, frühstückte hastig und machte sich auf den Weg. Gestern, während dieser Sekunde, die er ihr in die Augen geblickt hatte, war es passiert. Die Zeit war zurückgesprungen. Der Klang ihrer Stimme schwebte wieder in jedem Raum, er schmeckte ihren Kuss auf seinen Lippen, hatte den Geruch ihrer Haut in der Nase, die Topografie ihres Körpers in den Fingerspitzen. Aber mit jedem Schritt, den er sich Weimar-West näherte, verblassten die Erinnerungen. Als er vor der schier endlosen Reihe der Plattenbauten ankam, die in Reih und Glied standen wie die Paradesoldaten auf dem Roten Platz, meldete sich ein Gefühl der Resignation. Er atmete kurz durch, dann drückte er den ersten Klingelknopf. Bis zum Mittag schaffte er acht Blocks. Ohne Ergebnis.

Er spürte, dass sein Tempo nachließ, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, sich zu motivieren. Anfangs hatte er jede Klingel einzeln ausprobiert und einen kleinen Jubelschrei ausgestoßen, wenn der Summer ertönte und die Haustür aufsprang. Vom Erdgeschoss ausgehend arbeitete er sich systematisch nach oben, klopfte an jeder Tür, sagte seinen Spruch auf und zeigte das Foto vor. Später erkannte er, dass ganz unten die Alten wohnten, die ihren Aufgang gut kannten und beschränkte sich deshalb darauf, hier zu klingeln. Nur wenn niemand öffnete, versuchte er es weiter oben. Als die Sonne unterging lagen die Budapester, die Warschauer und die Prager Straße hinter ihm, vor ihm die Kaunaser. Die Haustür am ersten Aufgang stand offen und er trat ein. Im Erdgeschoss war niemand zuhause, deshalb versuchte er es in der 2. Etage. O. & P. Kaufmann war die Klingel beschriftet.

Ein kleiner Junge öffnete die Tür einen Spaltbreit. Max fragte nach den Eltern.
„Papa ist nicht da!“ nuschelte der Kleine und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Er klingelte nochmals. Es dauerte einen Augenblick bis wieder geöffnet wurde. Zuerst sah er ihre Haare. Lang. Blond. Dann ihre Augen. Das Blau vom Theatercafé. Max hielt den Atem an. Im Moment des Erkennens stand die Zeit noch einmal für eine Sekunde still.
„Du?“
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr Gesicht. Ihm versagte die Stimme. Eiseskälte lief ihm über den Rücken.
„Ich …, ähm …, Entschuldigung …“ stammelte er.
Die Frau lächelte.
„Bist mir nachgelaufen, gestern Abend, stimmt’s?“
Der kleine Junge schielte neugierig um die Ecke.
„Wer is’n das, Mama?“
„Nur ein Bekannter. Geh wieder spielen. Mama kommt gleich.“
Der Junge trollte sich.
„Mein Sohn Dominique.“ sagte sie und es klang fast ein wenig entschuldigend. Er blickte dem Kleinen hinterher. Der Junge verschwand im Kinderzimmer. An der Flurgarderobe hingen der rote Mantel und der grüne Schal. Die Frau stand unentschlossen da, pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Max sah den dunklen Haaransatz am Scheitel, die fremde Nase, das unbekannte Kinn. Nicht mal der Mund hatte Ähnlichkeit mit Susanne. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen.
 
Eine vertane Chance​
von Felix Blauwald

Sich in einen One-Night-Stand verlieben passiert nur ausgemachten Einfaltspinseln. Noch vor einer Woche hätte er drei Monatsgehälter darauf gewettet, jetzt saß er hier, sah mit melancholischem Lächeln aus dem Fenster des Theatercafés und verfluchte sich dafür, nur ein Handyfoto von Susanne zu besitzen. Nicht mal ihre Nummer hatte er notiert, vom Familiennamen ganz zu schweigen. Draußen war die Nacht heraufgezogen. Eine frische Brise trieb vereinzelte Blätter, die vom letzten Herbst übriggeblieben sein mochten, über den Platz. Ein paar Jugendliche saßen dick eingemummelt zu Füßen des Dichterdenkmals und spielten auf ihren Smartphones.

Am Theater öffneten sich die Türen. Erst vereinzelt, dann in hellen Scharen drängten die Besucher heraus. Die Männer schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, zogen die Hüte tief ins Gesicht und drehten ihre Schultern gegen den Wind um ihren Frauen ein bisschen Schutz zu bieten. Hastigen Schrittes eilten sie über den Platz. Die ersten fluteten das Café, andere drängten nach. Schnell bildete sich eine Traube wartender Gäste vor dem schmalen Eingang, da sah er die Frau. Sie trug einen roten Wintermantel mit weißem Kragen und Kunstpelz an Ärmeln und Saum. Den Mund verhüllte ein dicker grüner Schal. Für einen kurzen Augenblick erschien sie auf der Eingangsstufe und sah in seine Richtung. Er erhaschte einen flüchtigen Blick ihrer Augen. Es war genau das Blau, nach dem zu suchen er fast aufgegeben hätte. Er stolperte beim Aufstehen und warf einen Zwanziger auf den Tisch. Er konnte sie nicht mehr sehen. Ein breitschultriger Mann hatte sich vor sie geschoben. Seine Silhouette füllte die ganze Eingangstür aus.

Max geriet in Panik. Er riss seine Jacke vom Haken und stürmte verzweifelt gegen die Wand aus Menschen an, die sich ihm in den Weg stellte. Drängelnd und wild um sich boxend gelangte er endlich ins Freie. Er blickte die Schützengasse hinunter und konnte sie nicht entdecken. Er kämpfte sich durch den nicht versiegenden Strom aus Theaterbesuchern und späten Spaziergängern. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte er sie. Sie schritt zügig aus. Ihr langes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab und wehte ihr nach, wie der Schweif eines Kometen.

So laut er konnte, rief er ihren Namen, hoffend, dass sie ihn hören würde, aber der Wind trug seine Stimme davon und ihr blonder Schopf verschwand hinter der Ecke des Heka-Kaufhauses. Er rannte los. Als er am Heka ankam, glaubte er, sie verloren zu haben. Doch dann, weit hinten, schon fast auf Höhe der Post, entdeckte er eine Radfahrerin mit rotem Mantel, die in die Schwanseestraße einbog. Er lief, so schnell er konnte hinterher. Nach fünf Minuten begann die Lunge zu brennen, doch solange er sie im Blick behielt, war ihm alles andere egal. Im schnellen Dauerlauf querte er den Stadtring und glaubte sogar, ein Stückchen näher herangekommen zu sein, er mobilisierte seine letzten Reserven und hatte Erfolg.

Ganz deutlich sah er den grünen Schal und die blonden Haare. Drehte sie nicht sogar den Kopf und sah zurück zu ihm? Ihm fehlte die Kraft, um nochmal ihren Namen zu rufen. Sein Puls raste und lästiges Seitenstechen setzte ein, aber was machte das schon, bald würde er sie einholen und dann war alles gut. Auf Höhe der Zufahrt zum Neubaugebiet verlor er sie einen Moment aus den Augen. War sie abgebogen oder in einem der Häuser verschwunden, die geradeaus, längs der Straße standen? Er entschied sich für rechts und lief die kleine Steigung hinauf, über die Bahnbrücke, dann blieb er abrupt stehen. Die Straße war leer. Sie war weg. Wahrscheinlich in das Meer gesichtsloser Straßen eingetaucht, deren Plattenbauten sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, sich nur in der Nummerierung ihrer Hauseingänge unterschieden.

Benommen stand er da. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, dann verließ ihn die Kraft, er ging in die Knie, sank auf den Bürgersteig, nahm den Kopf in die Hände und versuchte Puls und Atem zu beruhigen. Er hasste sich dafür, dass er sie verloren hatte. Er trommelte mit geballten Fäusten auf den Asphalt. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte seine Wut heraus, dann trat er den Heimweg an. Es ging auf Mitternacht zu. Morgen früh würde er zurückkommen und das Viertel durchkämmen, Straße für Straße, Haus für Haus und wenn es sein musste, würde er an jeder Wohnung klingeln, bis er ihr gegenüberstand.

Zu allem entschlossen sprang er am Morgen aus dem Bett, frühstückte hastig und machte sich auf den Weg. Gestern, während dieser Sekunde, die er ihr in die Augen geblickt hatte, war es passiert. Die Zeit war zurückgesprungen. Der Klang ihrer Stimme schwebte wieder in jedem Raum, er schmeckte ihren Kuss auf seinen Lippen, hatte den Geruch ihrer Haut in der Nase, die Topografie ihres Körpers in den Fingerspitzen. Aber mit jedem Schritt, den er sich Weimar-West näherte, verblassten die Erinnerungen. Als er vor der schier endlosen Reihe der Plattenbauten ankam, die in Reih und Glied standen wie die Paradesoldaten auf dem Roten Platz, meldete sich ein Gefühl der Resignation. Er atmete kurz durch, dann drückte er den ersten Klingelknopf. Bis zum Mittag schaffte er acht Blocks. Ohne Ergebnis.

Er spürte, dass sein Tempo nachließ, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, sich zu motivieren. Anfangs hatte er jede Klingel einzeln ausprobiert und einen kleinen Jubelschrei ausgestoßen, wenn der Summer ertönte und die Haustür aufsprang. Vom Erdgeschoss ausgehend arbeitete er sich systematisch nach oben, klopfte an jeder Tür, sagte seinen Spruch auf und zeigte das Foto vor. Später erkannte er, dass ganz unten die Alten wohnten, die ihren Aufgang gut kannten und beschränkte sich deshalb darauf, hier zu klingeln. Nur wenn niemand öffnete, versuchte er es weiter oben. Als die Sonne unterging lagen die Budapester, die Warschauer und die Prager Straße hinter ihm, vor ihm die Kaunaser. Die Haustür am ersten Aufgang stand offen und er trat ein. Im Erdgeschoss war niemand zuhause, deshalb versuchte er es in der 2. Etage. O. & P. Kaufmann war die Klingel beschriftet.

Ein kleiner Junge öffnete die Tür einen Spaltbreit. Max fragte nach den Eltern.
„Papa ist nicht da!“ nuschelte der Kleine und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Er klingelte nochmals. Es dauerte einen Augenblick bis wieder geöffnet wurde. Zuerst sah er ihre Haare. Lang. Blond. Dann ihre Augen. Das Blau vom Theatercafé. Max hielt den Atem an. Im Moment des Erkennens stand die Zeit noch einmal für eine Sekunde still.
„Du?“
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr Gesicht. Ihm versagte die Stimme. Eiseskälte lief ihm über den Rücken.
„Ich …, ähm …, Entschuldigung …“ stammelte er.
Die Frau lächelte.
„Bist mir nachgelaufen, gestern Abend, stimmt’s?“
Der kleine Junge schielte neugierig um die Ecke.
„Wer is’n das, Mama?“
„Nur ein Bekannter. Geh wieder spielen. Mama kommt gleich.“
Der Junge trollte sich.
„Mein Sohn Dominique.“ sagte sie und es klang fast ein wenig entschuldigend.

Er blickte dem Kleinen hinterher. Der Junge verschwand im Kinderzimmer. An der Flurgarderobe hingen der rote Mantel und der grüne Schal. Die Frau stand unentschlossen da, pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Max sah den dunklen Haaransatz am Scheitel, die fremde Nase, das unbekannte Kinn. Nicht mal der Mund hatte Ähnlichkeit mit Susanne. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen.
 
Eine vertane Chance​
von Felix Blauwald

Sich in einen One-Night-Stand verlieben passiert nur ausgemachten Einfaltspinseln. Noch vor einer Woche hätte er drei Monatsgehälter darauf gewettet, jetzt saß er hier, sah mit melancholischem Lächeln aus dem Fenster des Theatercafés und verfluchte sich dafür, nur ein Handyfoto von Susanne zu besitzen. Nicht mal ihre Nummer hatte er notiert, vom Familiennamen ganz zu schweigen. Draußen war die Nacht heraufgezogen. Eine frische Brise trieb vereinzelte Blätter, die vom letzten Herbst übriggeblieben sein mochten, über den Platz. Ein paar Jugendliche saßen dick eingemummelt zu Füßen des Dichterdenkmals und spielten auf ihren Smartphones.

Am Theater öffneten sich die Türen. Erst vereinzelt, dann in hellen Scharen drängten die Besucher heraus. Die Männer schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, zogen die Hüte tief ins Gesicht und drehten ihre Schultern gegen den Wind um ihren Frauen ein bisschen Schutz zu bieten. Hastigen Schrittes eilten sie über den Platz. Die ersten fluteten das Café, andere drängten nach. Schnell bildete sich eine Traube wartender Gäste vor dem schmalen Eingang, da sah er sie. Sie trug einen roten Wintermantel mit weißem Kragen und Kunstpelz an Ärmeln und Saum. Den Mund verhüllte ein dicker grüner Schal. Für einen kurzen Augenblick erschien sie auf der Eingangsstufe und sah in seine Richtung. Er erhaschte einen flüchtigen Blick ihrer Augen. Es war genau das Blau, nach dem zu suchen er fast aufgegeben hätte. Er stolperte beim Aufstehen und warf einen Zwanziger auf den Tisch. Er konnte sie nicht mehr sehen. Ein breitschultriger Mann hatte sich vor sie geschoben. Seine Silhouette füllte die ganze Eingangstür aus.

Max geriet in Panik. Er riss seine Jacke vom Haken und stürmte verzweifelt gegen die Wand aus Menschen an, die sich ihm in den Weg stellte. Drängelnd und wild um sich boxend gelangte er endlich ins Freie. Er blickte die Schützengasse hinunter und konnte sie nicht entdecken. Er kämpfte sich durch den nicht versiegenden Strom aus Theaterbesuchern und späten Spaziergängern. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte er sie. Sie schritt zügig aus. Ihr langes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab und wehte ihr nach, wie der Schweif eines Kometen.

So laut er konnte, rief er ihren Namen, hoffend, dass sie ihn hören würde, aber der Wind trug seine Stimme davon und ihr blonder Schopf verschwand hinter der Ecke des Heka-Kaufhauses. Er rannte los. Als er am Heka ankam, glaubte er, sie verloren zu haben. Doch dann, weit hinten, schon fast auf Höhe der Post, entdeckte er eine Radfahrerin mit rotem Mantel, die in die Schwanseestraße einbog. Er lief, so schnell er konnte hinterher. Nach fünf Minuten begann die Lunge zu brennen, doch solange er sie im Blick behielt, war ihm alles andere egal. Im schnellen Dauerlauf querte er den Stadtring und glaubte sogar, ein Stückchen näher herangekommen zu sein, er mobilisierte seine letzten Reserven und hatte Erfolg.

Ganz deutlich sah er den grünen Schal und die blonden Haare. Drehte sie nicht sogar den Kopf und sah zurück zu ihm? Ihm fehlte die Kraft, um nochmal ihren Namen zu rufen. Sein Puls raste und lästiges Seitenstechen setzte ein, aber was machte das schon, bald würde er sie einholen und dann war alles gut. Auf Höhe der Zufahrt zum Neubaugebiet verlor er sie einen Moment aus den Augen. War sie abgebogen oder in einem der Häuser verschwunden, die geradeaus, längs der Straße standen? Er entschied sich für rechts und lief die kleine Steigung hinauf, über die Bahnbrücke, dann blieb er abrupt stehen. Die Straße war leer. Sie war weg. Wahrscheinlich in das Meer gesichtsloser Straßen eingetaucht, deren Plattenbauten sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, sich nur in der Nummerierung ihrer Hauseingänge unterschieden.

Benommen stand er da. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, dann verließ ihn die Kraft, er ging in die Knie, sank auf den Bürgersteig, nahm den Kopf in die Hände und versuchte Puls und Atem zu beruhigen. Er hasste sich dafür, dass er sie verloren hatte. Er trommelte mit geballten Fäusten auf den Asphalt. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte seine Wut heraus, dann trat er den Heimweg an. Es ging auf Mitternacht zu. Morgen früh würde er zurückkommen und das Viertel durchkämmen, Straße für Straße, Haus für Haus und wenn es sein musste, würde er an jeder Wohnung klingeln, bis er ihr gegenüberstand.

Zu allem entschlossen sprang er am Morgen aus dem Bett, frühstückte hastig und machte sich auf den Weg. Gestern, während dieser Sekunde, die er ihr in die Augen geblickt hatte, war es passiert. Die Zeit war zurückgesprungen. Der Klang ihrer Stimme schwebte wieder in jedem Raum, er schmeckte ihren Kuss auf seinen Lippen, hatte den Geruch ihrer Haut in der Nase, die Topografie ihres Körpers in den Fingerspitzen. Aber mit jedem Schritt, den er sich Weimar-West näherte, verblassten die Erinnerungen. Als er vor der schier endlosen Reihe der Plattenbauten ankam, die in Reih und Glied standen wie die Paradesoldaten auf dem Roten Platz, meldete sich ein Gefühl der Resignation. Er atmete kurz durch, dann drückte er den ersten Klingelknopf. Bis zum Mittag schaffte er acht Blocks. Ohne Ergebnis.

Er spürte, dass sein Tempo nachließ, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, sich zu motivieren. Anfangs hatte er jede Klingel einzeln ausprobiert und einen kleinen Jubelschrei ausgestoßen, wenn der Summer ertönte und die Haustür aufsprang. Vom Erdgeschoss ausgehend arbeitete er sich systematisch nach oben, klopfte an jeder Tür, sagte seinen Spruch auf und zeigte das Foto vor. Später erkannte er, dass ganz unten die Alten wohnten, die ihren Aufgang gut kannten und beschränkte sich deshalb darauf, hier zu klingeln. Nur wenn niemand öffnete, versuchte er es weiter oben. Als die Sonne unterging lagen die Budapester, die Warschauer und die Prager Straße hinter ihm, vor ihm die Kaunaser. Die Haustür am ersten Aufgang stand offen und er trat ein. Im Erdgeschoss war niemand zuhause, deshalb versuchte er es in der 2. Etage. O. & P. Kaufmann war die Klingel beschriftet.

Ein kleiner Junge öffnete die Tür einen Spaltbreit. Max fragte nach den Eltern.
„Papa ist nicht da!“ nuschelte der Kleine und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Er klingelte nochmals. Es dauerte einen Augenblick bis wieder geöffnet wurde. Zuerst sah er ihre Haare. Lang. Blond. Dann ihre Augen. Das Blau vom Theatercafé. Max hielt den Atem an. Im Moment des Erkennens stand die Zeit noch einmal für eine Sekunde still.
„Du?“
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr Gesicht. Ihm versagte die Stimme. Eiseskälte lief ihm über den Rücken.
„Ich …, ähm …, Entschuldigung …“ stammelte er.
Die Frau lächelte.
„Bist mir nachgelaufen, gestern Abend, stimmt’s?“
Der kleine Junge schielte neugierig um die Ecke.
„Wer is’n das, Mama?“
„Nur ein Bekannter. Geh wieder spielen. Mama kommt gleich.“
Der Junge trollte sich.
„Mein Sohn Dominique.“ sagte sie und es klang fast ein wenig entschuldigend.

Er blickte dem Kleinen hinterher. Der Junge verschwand im Kinderzimmer. An der Flurgarderobe hingen der rote Mantel und der grüne Schal. Die Frau stand unentschlossen da, pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Max sah den dunklen Haaransatz am Scheitel, die fremde Nase, das unbekannte Kinn. Nicht mal der Mund hatte Ähnlichkeit mit Susanne. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen.
 
Eine vertane Chance​
von Felix Blauwald

Sich in einen One-Night-Stand verlieben passiert nur ausgemachten Einfaltspinseln. Noch vor einer Woche hätte er drei Monatsgehälter darauf gewettet, jetzt saß er hier, sah mit melancholischem Lächeln aus dem Fenster des Theatercafés und verfluchte sich dafür, nur ein Handyfoto von Susanne zu besitzen. Sie war so überraschend aufgebrochen, dass er weder ihre Nummer hatte, noch Familiennamen und Adresse kannte. Ihm war nichts anderes geblieben, als Abend für Abend die Straßen und Kneipen der Stadt zu durchkämmen, um nach ihr Ausschau zu halten. Doch er hatte kein Glück gehabt.

Draußen war die Nacht heraufgezogen. Eine frische Brise trieb vereinzelte Blätter, die vom letzten Herbst übriggeblieben sein mochten, über den Platz. Am Theater öffneten sich die Türen. Erst vereinzelt, dann in hellen Scharen drängten die Besucher heraus. Die ersten fluteten das Café, andere drängten nach. Schnell bildete sich eine Traube wartender Gäste vor dem schmalen Eingang, da sah er sie. Sie trug einen roten Wintermantel mit weißem Kragen und Kunstpelz an Ärmeln und Saum. Den Mund verhüllte ein dicker grüner Schal. Für einen kurzen Augenblick erschien sie auf der Eingangsstufe und sah in seine Richtung. Er erhaschte einen flüchtigen Blick ihrer Augen. Es war genau das Blau, nach dem zu suchen er fast aufgegeben hätte. Er stolperte beim Aufstehen und warf einen Zwanziger auf den Tisch. Er konnte sie nicht mehr sehen. Ein breitschultriger Mann hatte sich vor sie geschoben.

Max geriet in Panik. Er riss seine Jacke vom Haken und stürmte verzweifelt gegen die Wand an, die sich ihm in den Weg stellte. Drängelnd und wild um sich boxend gelangte er endlich ins Freie. Er blickte die Schützengasse hinunter und konnte sie nicht entdecken. Er kämpfte sich durch den nicht versiegenden Strom aus Theaterbesuchern und späten Spaziergängern. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte er sie. Sie schritt zügig aus. Ihr langes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab und wehte ihr nach, wie der Schweif eines Kometen.

So laut er konnte, rief er ihren Namen, hoffend, dass sie ihn hören würde, aber der Wind trug seine Stimme davon und ihr blonder Schopf verschwand hinter der Ecke des Heka-Kaufhauses. Er rannte los. Als er am Heka ankam, glaubte er, sie verloren zu haben. Doch dann, weit hinten, schon fast auf Höhe der Post, entdeckte er eine Radfahrerin mit rotem Mantel, die in die Schwanseestraße einbog. Er lief, so schnell er konnte hinterher. Nach fünf Minuten begann die Lunge zu brennen, doch solange er sie im Blick behielt, war ihm alles andere egal. Im schnellen Dauerlauf querte er den Stadtring und glaubte sogar, ein Stückchen näher herangekommen zu sein, er mobilisierte seine letzten Reserven und hatte Erfolg.

Ganz deutlich sah er den grünen Schal und die blonden Haare. Drehte sie nicht gar den Kopf und sah zurück zu ihm? Ihm fehlte die Kraft, um nochmal ihren Namen zu rufen. Sein Puls raste und lästiges Seitenstechen setzte ein, aber was machte das schon, bald würde er sie einholen und dann war alles gut. Auf Höhe der Zufahrt zum Neubaugebiet verlor er sie einen Moment aus den Augen. War sie abgebogen oder in einem der Häuser verschwunden, die geradeaus, längs der Straße standen? Er entschied sich für rechts und lief die kleine Steigung hinauf, über die Bahnbrücke, dann blieb er abrupt stehen. Die Straße war leer. Sie war weg. Wahrscheinlich in das Meer gesichtsloser Straßen eingetaucht, deren Plattenbauten sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, sich nur in der Nummerierung ihrer Hauseingänge unterschieden.

Benommen stand er da. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, dann verließ ihn die Kraft, er ging in die Knie, sank auf den Bürgersteig, nahm den Kopf in die Hände und versuchte Puls und Atem zu beruhigen. Er hasste sich dafür, dass er sie verloren hatte. Er trommelte mit geballten Fäusten auf den Asphalt. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte seine Wut heraus, dann trat er den Heimweg an. Es ging auf Mitternacht zu. Morgen früh würde er zurückkommen und das Viertel durchkämmen, Straße für Straße, Haus für Haus und wenn es sein musste, würde er an jeder Wohnung klingeln, bis er ihr gegenüberstand.

Zu allem entschlossen sprang er am Morgen aus dem Bett, frühstückte hastig und machte sich auf den Weg. Gestern, während dieser Sekunde, die er ihr in die Augen geblickt hatte, war es passiert. Die Zeit war zurückgesprungen. Der Klang ihrer Stimme schwebte wieder in jedem Raum, er schmeckte ihren Kuss auf seinen Lippen, hatte den Geruch ihrer Haut in der Nase, die Topografie ihres Körpers in den Fingerspitzen. Aber mit jedem Schritt, den er sich Weimar-West näherte, verblassten die Erinnerungen. Als er vor der schier endlosen Reihe der Plattenbauten ankam, die in Reih und Glied standen wie die Paradesoldaten auf dem Roten Platz, meldete sich ein Gefühl der Resignation. Er atmete kurz durch, dann drückte er den ersten Klingelknopf. Bis zum Mittag schaffte er acht Blocks. Ohne Ergebnis.

Er spürte, dass sein Tempo nachließ, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, sich zu motivieren. Anfangs hatte er jede Klingel einzeln ausprobiert und einen kleinen Jubelschrei ausgestoßen, wenn der Summer ertönte und die Haustür aufsprang. Vom Erdgeschoss ausgehend arbeitete er sich systematisch nach oben, klopfte an jeder Tür, sagte seinen Spruch auf und zeigte das Foto vor. Später erkannte er, dass ganz unten die Alten wohnten, die ihren Aufgang gut kannten und beschränkte sich deshalb darauf, hier zu klingeln. Nur wenn niemand öffnete, versuchte er es weiter oben. Als die Sonne unterging lagen die Budapester, die Warschauer und die Prager Straße hinter ihm, vor ihm die Kaunaser. Die Haustür am ersten Aufgang stand offen und er trat ein. Im Erdgeschoss war niemand zuhause, deshalb versuchte er es in der 2. Etage. O. & P. Kaufmann war die Klingel beschriftet.

Ein kleiner Junge öffnete die Tür einen Spaltbreit. Max fragte nach den Eltern.
„Papa ist nicht da!“ nuschelte der Kleine und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Er klingelte nochmals. Es dauerte einen Augenblick bis wieder geöffnet wurde. Zuerst sah er ihre Haare. Lang. Blond. Dann ihre Augen. Das Blau vom Theatercafé. Max hielt den Atem an. Im Moment des Erkennens stand die Zeit noch einmal für eine Sekunde still.
„Du?“
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr Gesicht. Ihm versagte die Stimme. Eiseskälte lief ihm über den Rücken.
„Ich …, ähm …, Entschuldigung …“ stammelte er.
Die Frau lächelte.
„Bist mir nachgelaufen, gestern Abend, stimmt’s?“
Der kleine Junge schielte neugierig um die Ecke.
„Wer is’n das, Mama?“
„Nur ein Bekannter. Geh wieder spielen. Mama kommt gleich.“
Der Junge trollte sich.
„Mein Sohn Dominique.“ sagte sie und es klang fast ein wenig entschuldigend.

Er blickte dem Kleinen hinterher. Der Junge verschwand im Kinderzimmer. An der Flurgarderobe hingen der rote Mantel und der grüne Schal. Die Frau stand unentschlossen da, pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Max sah den dunklen Haaransatz am Scheitel, die fremde Nase, das unbekannte Kinn. Nicht mal der Mund hatte Ähnlichkeit mit Susanne. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen.
 



 
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