Freund Hein

guadalajara

Mitglied
Freund Hein

Mein ganzes Leben lang waren wir schon auf der Flucht, auf der Flucht vor einem Fremden. Seit ich denken konnte reisten meine Mutter und ich ziellos von einem Ort zum nächsten.
Als ich noch recht jung war, erzählte sie mir immer, dass wir umziehen müssten. Als Grund dafür hatte sie immer nur Ausreden parat. Einmal war es ein neuer Job, den sie unbedingt brauchte, dann wieder eine bessere Schule für mich, und auch bei meiner Großmutter verbrachten wir einige Zeit damit diese, wie mir meine Mutter erklärte, nicht so einsam war.
Als Kind schienen all diese Gründe natürlich sehr glaubhaft für mich und ich stellte sie keine Sekunde lang in Frage. Ich hatte mich schon sehr früh mit den vielen Umzügen abgefunden, war gut darin, mich an neue Umgebungen anzupassen und fand sehr schnell neue Freunde.
Es gab aber auch eine Zeit, in der wir unser Zuhause lange nicht wechseln mussten, aus welchen Gründen auch immer.
Für mich war dies eine sehr glückliche Zeit. Seit fast drei Jahren wohnten wir nun schon in unserem kleinen Haus am Stadtrand. Ich hatte viele Freunde, besuchte eine gutes Gymnasium und war mit dem Leben, das ich führte äußerst zufrieden, seit ein paar Wochen hatte ich sogar meinen ersten festen Freund.
Damals dachte ich, dass ich hier meine ganze Jugend verbringen würde, bis ich schließlich erwachsen sein und auf eigenen Beinen stehen würde. Auch meine Mutter war zufrieden, sie verdiente gut in ihrem Job als Krankenschwester.
In den Sommerfeiern, bevor ich in die 8. Klasse kam, waren wir für 3 Wochen verreist. Wir waren mit dem Auto unterwegs und kamen erst spätabends wieder Zuhause an. Als wir bereits am Parkplatz standen und meine Mutter gerade den Motor abgestellt hatte, sah ich, dass Licht in unserem Haus brannte.
Zuerst dachte ich, wir hätten vergessen, es vor unserem Urlaub abzudrehen, doch dann konnte ich durchs Küchenfenster einen Mann erkennen. Obwohl ich sein Gesicht kaum sehen konnte, war es, als würde er mir direkt in die Augen starren, ich konnte seinen eiskalten Blick fühlen. So durchdringend als würde er direkt in meine Seele blicken. Tausend Gedanken schossen mir mit einem Mal durch den Kopf. Obwohl ich damals noch sehr jung war, erinnerte ich mich an alle Enttäuschungen, die ich jemals erlitten hatte, an all die schönen Momente mit meiner Mutter. Auf einmal schien mir alles so klar und leicht, ich wusste so genau wie noch nie, wer ich bin, was ich erreichen wollte, worum es wirklich ging.
Genau diese Gefühle und Gedanken hatte ich davor schon einmal gehabt. Ich erinnerte mich jetzt deutlicher. Es war vor einigen Jahren, als ich noch zur Grundschule ging. Den Mann aus unserem Haus hatte ich an diesem Tag schon einmal gesehen.
Damals beobachtete ich ihn von meinem Zimmer aus, als ich gerade dabei war, wieder einmal all meine Sachen für einen erneuten, überstürzten Umzug eizupacken. Schon damals durchdrang sein Blick meinen ganzen Körper. Das konnte kein Zufall sein.
Auch vor 2 Jahren, auf der Beerdigung meiner Großmutter, war er anwesend. Ich erinnerte mich, dass ich ihn damals an ihrem Grab vorbeihuschen sah, dass es aber derselbe Mann war, den ich auch schons vor unserer Wohnung beobachtet hatte, war mir nicht bewusst.
Warum war dieser Mann jetzt in unserem Haus? Und wie kam es, dass ich ihn schon so oft gesehen hatte und meine Mutter noch nie ein Wort über ihn verloren hatte?
Plötzlich ließ meine Mutter den Motor wieder an, stieg aufs Gas und fuhr davon. vermutlich war sie genau so erschrocken über den Mann in unserem Haus, wie ich.
\"Was machst du, wo fahren wir hin?\"
Meine Mutter Antwortete nicht. Bestimmt hatte sie den Mann in unserem Haus auch gesehen. Ob sie seinen Blick auch gespürt hat, weiß ich nicht, ich habe mich nie getraut, sie danach zu fragen.
Allmählich dämmerte mir, was hier los war. Wir waren auf der Flucht. Sie kannte den Mann in unserem Haus sehr wohl, und ich vermutete dass er all die Jahre der eigentliche Grund für unsere Aufbrüche war. Sie hatte wieder denselben angsterfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht, wie jedes mal, wenn sie mich nachts aufweckte und wir wieder weg mussten.
Schließlich bekam ich doch eine Antwort auf meine zuvor gestellte Frage. Nach reichlichem Überlegen sagte sie: \" Wir müssen ihm entkommen, meine Liebe, er darf uns nicht noch einmal so leicht finden.\"
Als hätte sie meinen Gedanken gelauscht und wüsste bereits, dass ich den wahren Grund unseres Aufbruchs erkannt hatte. Diesmal hatte sei keine Ausrede mehr. ich hatte also recht, wir waren noch nie einfach umgezogen, es war jedes Mal Flucht.
Wenige Jahre nach diesem Tag gestand mir meine Mutter, dass sie Krebs hatte, im Endstadium und dass die Ärzte nichts mehr tun konnten um ihr Leben zu retten.
Für mich war das der größte Schock meines Lebens, noch viel schlimmer, als das ewige umziehen, wie Nomaden.
Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war, war mir von vorn herein klar, dass ich bei ihr bleiben und sie in dieser schweren Zeit nicht alleine lassen würde. Ich bemerkte, dass wir, seit es ihr so schlecht ging, viel öfter die Stadt verlassen mussten, als würde ehr von ihrem Leid angezogen werden. Diese Aufbrüche häuften sich so sehr an, dass wir bald schon in Hotelzimmern wohnen mussten, weil wir mehrmals die Woche auf der Flucht waren. Meine Mutter aber versicherte mir, dass ich nicht mitkommen müsste, dass er nur hinter ihr her war, dass er mir nichts tun würde. Wer er war und warum er hinter ihr her war, konnte sie mir aber noch immer nicht sagen, oder wollte es mir einfach nicht sagen.
Sie sollte Recht behalten, mit ihren Vermutungen. Eines Morgens wachte sie nicht mehr auf. Mit diesem Tag endeten auch die Verfolgungsjagten, ich hatte mich niedergelassen, eine Wohnung und einen guten Job gefunden und fühlte mich ziemlich sicher.

Bis heutigen Tag. Ich blickte aus meinem Küchenfenster und konnte in von dort aus auf der anderen Straßenseite stehen sehen. Es war derselbe Blick wie damals. Ohne Zweifel erkannte ich ihn sofort wieder. Ich begann zu schwitzen, meine Hände zitterten. Warum war er hier, nach so langer Zeit? Seit über 10 Jahren hatte es nun keine Spur mehr von ihm gegeben, ich war fest der Meinung, er hätte sein Interesse verloren.
Wie angewurzelt stand ich da, wusste nicht, was zu tun war. Für gewöhnlich war es meine Mutter, die wusste wie wir entkommen konnten. Jetzt aber war ich ganz alleine, auf mich selbst gestellt. Ich konnte sehen, wie er immer näher ans Haus kam. Ich wusste, dass ich fliehen musste. Doch wie? Dafür war es bereits zu spät, ich konnte meine Wohnung nicht mehr verlassen, ohne ihm direkt in die Arme zu laufen.
Angsterfüllt rannte ich ins hinterste Zimmer. Nun konnte ich schon seine Schritte am Gang hören, ich hatte meine Wohnungstüre nicht einmal abgeschlossen. In einer Ecke kauernd lauschte ich seinen Schritten und hoffte, dass er mich nicht finden würde.
Mit einem lauten Knall sprang die Wohnungstüre aus dem Schloss, lauten Schrittes kam er immer näher.
Anscheinend wusste er ganz genau wo ich war. Hatte er mich etwa gesehen?
Mein Puls raste, ich hielt den Atem an. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde, was er mit mir anstellen würde. So nahe wie heute war er mir noch nie gekommen. Fest presste ich meine Augen zu, vor Angst. Als ich sie Sekunden später wieder öffnete, stand er bereits in der Tür, blickte mir direkt in die Augen. Zu meiner Verwunderung war er aber ganz gelassen, wirkte kein bisschen angespannt, als wäre er sich todsicher, dass ich ihm diesmal nicht entkommen könnte.
Langsam ging er auf mich zu. Unfähig mich zu bewegen, kauerte ich weiterhin in der Ecke.
Sein Gesicht werde ich nie vergessen. Die dunklen Augen, die mich durchwegs anstarrten, sein ausdrucksloser, leerer Blick, sein uralt aussehendes Gesicht, das trotzdem in jugendlichem Glanz erstrahlte und so gar nicht zu seiner unbeschwerten Haltung passte. Er schien gleichermaßen steinalt und doch wie neu geboren.
Mit einem Mal stand er direkt vor mir, packte mich an den Schultern um mich festzuhalten. In diesem Moment ergriff mich ein unglaublich starker Überlebenswille. Ich wusste, dass jetzt meine letzte Chance war, ihm zu entkommen. Ich stieß ihn beiseite und rannte so schnell ich konnte, rannte aus meiner Wohnung hinaus ins Treppenhaus.
Sichtlich überrascht von meiner Attacke war er kurz zur Seite getaumelt, heftete sich jedoch gleich wieder an meine Fersen. Ich nahm gleich mehrere Stufen auf einmal, rannte wahrlich um mein Leben.
Im letzten Stock stieß ich die Türe zum Dach des Gebäudes auf. Als ich die eiskalte Winterluft einatmete, wurde mir auf einmal klar, was geschehen würde.
Meine Mutter hatte am Abend vor ihrem Tod andauernd von Zitronen gesprochen, war ganz verrückt danach. Jetzt konnte auch ich ganz deutlich diesen Geschmack in meinem Mund spüren.
Behutsam drehte ich mich um, ich konnte seine Anwesenheit spüren. Und er stand tatsächlich direkt hinter mir. Er starrte mir so tief in die Augen wie noch nie. Ein kurzer Schmerz durchzog meinen Körper. Dutzende Raben flogen plötzlich um mich herum, wurden zu einem schwarzen Vogelmeer, alles begann sich zu drehen, ich hörte nur noch das laute Geschrei der Vögel, bis ich schließlich in der Finsternis versank und das Bewusstsein verlor.
Ich hatte dem Tod ins Auge geblickt.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo guadalajara, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Deine Geschichte liest sich spannend, Du sollest noch ein paar kleinere Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler verbessern. Den Titel würde ich ändern, weil er die Pointe zu früh vorwegnimmt.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
Oben Unten