Freundschaften und Missverständnisse

anton

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Aus dem Leben einer Kriebelmücke

Die kleine Kriebelmücke legte ihren Kopf langsam auf den Tisch, bedeckte ihn mit ihren schmächtigen Armen und schloss die Augen. So saß sie eine Weile. Sie sah den schwarzen Punkten und Wellen und Kringeln zu, die hinter den Augenlidern kamen und gingen. ‚Am liebsten würde ich für immer so dasitzen. Mich nie mehr bewegen. Nichts mehr sehen und hören müssen, das wäre schön‘, dachte die Kriebelmücke und seufzte so innig, dass ein kleiner Speichelfaden aus ihrem zarten Mundwinkel herunterlief und sacht auf das linke spitze Knie tröpfelte. Unangenehm kalt fühlte sich das an.

Gestern war die Zuckmücke gegen zwei Uhr ganz spontan auf eine heiße Tasse Honigtau zu Besuch gekommen. Sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen, dass sie gar nicht mehr gewusst hatte, wie sie aussah. Groß war sie und die Fühler so behaart. Na ja, das musste man ja auch mögen. Kaum hatte sie ihre langen Beine unter die Spitzentischdecke geschoben, die die Kriebelmücke extra zur Feier des Tages aufgelegt hatte, fing der Überraschungsgast auch schon an, am ganzen Körper zu zucken. Die Tassen klirrten gegen die kleinen Löffel und der Kriebelmücke wäre beinahe das Grasnelkenkuchenstück von der Gabel gerutscht. ‚Entschuldigung, das alte Leiden, du weißt ja…‘, kam es aus dem Zuckmückenmund und mit heraus sprühte auch gleich ein feiner Grasnelkenkuchenregen auf die blütenzarte weiße Kuchentafeldecke. Die kleine Kriebelmücke winkte zwar großmütig ab, war aber doch ein klitzekleines bisschen unangenehm berührt.

Heimlich sah sie zum Fenster hinaus und hoffte, die Sonne würde bald hinter der großen Eibe untergehen, so dass sich die Zuckmücke bemüßigt fühlen würde, sich auf den Heimweg zu machen. Aber sie machte keine Anstalten. Als sie drei große Stücke von dem Grasnelkenkuchen gegessen hatte und dann auch noch in ihrem pelzigen Bauch Platz für vier von den Kümmelplätzchen - zur besseren Verdauung, wie sie entschuldigend sagte - gefunden hatte, schob sie den Teller beiseite und rieb wohlig die Flügelspitzen aneinander, dass es nur so zirrte und girrte.

Dann wurde es aber doch noch ein sehr schöner Nachmittag. Sie erinnerten sich an dies und das aus ihrer gemeinsamen Jugendzeit, tauschten sich über die verschiedenen Nektarplätze unten am Sichelteich aus und lachten so sehr über die Streiche, die sie den Himbeer-Glasflüglern gespielt hatten, dass der kleinen Kriebelmücke das stetig wiederkehrende Zucken und in der Folge das Tischwackeln gar nicht mehr auffallen wollte. Doch aus jedem Nachmittag entsteht unweigerlich, ob man nun will oder nicht, ein Abend, und so war es auch an diesem Tag. Der liebe Gast erhob sich und zog seine ovalen schmalen Flügel, die vom langen Sitzen ein wenig zerknittert waren, versonnen glatt. Dann knöpfte er seine Weste zu, schnürte die Stiefel und zog sich die Mütze tief über die Fühler.

Oh, beinahe hätte ich es vergessen!‘ sirrte die Zuckmücke und zog gemächlich das Lederband ihres Beutels auf. Sie holte vorsichtig ein kleines, in rotes Seidenpapier eingewickeltes Eckiges heraus und legte es auf den Tisch. ‚Nur ein kleines Weihnachtsgeschenk. Und ein Dankeschön für deine Gastfreundschaft‘, murmelte die Zuckmücke und verbeugte sich leicht. Die Kriebelmücke merkte gar nicht richtig, wie die Zuckmücke die Türe hinter sich zumachte und in den dämmernden Wolkenhimmel davonflog. Die Kriebelmücke war so beglückt, dass sich jedes einzelne Pelzhärchen hinter ihren Fühlern flirrend aufstellte. Wann hatte sie denn auch das letzte Mal etwas geschenkt bekommen! Sie erinnerte sich nur an das Blatt einer rosa Zwergbanane, das ihr Onkel von seiner Afrikasafari mitgebracht hatte. Sie hatte es auf das Schränkchen neben dem Bett gestellt und vor dem Schlafengehen an der Blattspitze genagt, aber nur ein ganz klein wenig. Was für eine Enttäuschung wartete am nächsten Morgen auf die Kriebelmücke! Das Blatt war ganz unansehnlich geworden: braun, wellig und die Blattspitze, dort wo sie ihre Eckzähne ausprobiert hatte, war ganz und gar verwelkt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den traurigen Rest verstohlen draußen hinter der Stechginsterhecke verschwinden zu lassen.

Der Bindfaden löste sich ganz leicht und schon klappte das rote Seidenpapier ganz von selbst auseinander. Die Kriebelmücke beugte sich gespannt darüber und sah auf ein Bild in einem schön geschwungenen Hanfflechtrahmen – und sah auf sich selbst. ‚Ein Bild von mir‘, flüsterte die Kriebelmücke hingerissen und drückte das Bild gegen ihre heiße Wange. Dann legte sie es wieder vor sich auf den Tisch, um auch die Schrift am unteren Rand zu entziffern. ‚Simulium reptans L., die gemeine Kriebelmücke‘, buchstabierte sie langsam, ‚die gemeine Kriebelmücke‘, wiederholte sie und ihre Fühler sanken langsam auf den Tisch herab und versanken stillschweigend in der Teetasse, ‚gemeine‘.

So saß sie nun schon eine ganze Weile im Dunkeln, das Feuer im Ofen war heruntergebrannt, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie hatte sie sich nur so in der Zuckmücke täuschen können. Und dabei waren sie sogar verwandt, Großkusinen vierten Grades, soweit sie sich erinnerte. Aber das wusste man ja, die Verwandten waren die schlimmsten. Hinterhältig, grausam, ja. Sie richtete ihre kalten Glieder auf und wischte verloren über ihre fröstelnden Knie. Die Welt war kein Ort für zarte, harmlose Kriebelmücken. Voller Feinde, Neider, Intriganten. Sie rieb die teenassen Fühler mit dem Geschirrtuch trocken, holte den Kamm aus der Schublade und bürstete resigniert die verbliebenen Kuchenkrümel aus dem Bauchpelz.

Sie zog das Bild über die Tischdecke wieder heran und las noch einmal die anderen Wörter ‚Simulium reptans L.‘. Bestimmt war das auch eine Beleidigung. Vielleicht sogar noch viel schlimmer. Sie stand so schwerfällig auf, als ob sich zehn Libellen auf ihrem Rücken niedergelassen hätten. Sie verschränkte halbherzig die Flügel und tappte eine Runde um die andere um den Tisch herum, bis sie vor der Tür zur Schlafkammer stehenblieb. Sie musste es einfach wissen. Sie schlurfte zum Bett und zog müde an der großen Universalenzyklopädie der Mückenwelt im Bücherregal. Beim Zurückgehen angelte sie in der Küche die Lesebrille, die sich mit einem Bügel im Siruptopf verfangen hatte. Die Kriebelmücke leckte gedankenverloren an dem Bügel, setzte die Brille auf und blätterte zum Buchstaben S. ‚Simulium reptans L. ist der lateinische Name für die gemeine Kriebelmücke…‘. ‚Die gemeine Kriebelmücke‘, da stand es. Schwarz auf weiß. Eine Träne tropfte auf das Papier. ‚Die gemeine Kriebelmücke gehört zur Familie der Zweiflügler und ist eine Stechmückenart.‘ Beschämt wandte sie die Augen ab. ‚Ja, das musste sie leider zugeben, Stechen war ihr liebster Zeitvertreib – und sie hatte ja auch den passenden Rüssel dafür - obwohl sie beteuern konnte, dass sie sehr selten davon Gebrauch machte. Sehr selten. War sie aber deswegen gleich gemein? Nein, nein, das war nicht gerecht.‘ Tapfer las sie weiter. ‚Die Schwestern der Simuliae reptans sind die gemeinen Gnitzen und die gemeine Zuckmücke.‘ Die Kriebelmücke schob die Brille über die Fühler und lehnte sich verwundert zurück. Die Zuckmücke war auch gemein und die beschränkten Gnitzen auch? Wie konnte das sein? Sie blätterte zum Buchstaben G zurück. Sie schabte mit der kleinen Nase fast an der Seite entlang, so nah hielt sie das Buch vor die Augen. Ganz unten rechts, in der vorletzten Zeile fand sie, was sie gesucht hatte. ‚gemein bedeutet niederträchtig, unverschämt oder auch keine besonderen Merkmale habend, allgemein.‘

Langsam ließ sie das Buch auf die Tischkante sinken und schaukelte mit dem Stuhl hin und her. Ein zaghaftes Lächeln, das alle ihre spitzen, kleinen Zähne sehen ließ, weil es von einem Ohr zum anderen ging, zeigte sich und ließ ihr schmales Kriebelmückengesicht zu einem strahlenden Kirschkern erstrahlen. Sie war gar nicht schlecht und böse, sie hatte nur keine besonderen Merkmale. Und darüber war sie sehr erleichtert. Sie wollte gar nicht so besonders sein wie die sibirische Sandameise, die sich so groß tat mit ihrer Emsigkeit. Oder womöglich die Plattbauchlibelle, die sich ungeheuer viel auf ihre Rückwärtsflugkunst einbildete. Das musste auch einmal deutlich ausgesprochen werden. Freundschaft konnte man mit diesen Biestern sowieso nicht schließen, das wusste sie aus leidvoller Erfahrung.

Froh, dass dieser wechselvolle Tag nun doch noch ein so schönes Ende genommen hatte, zog sie die Vorhänge zu, blies die Lichter aus, schlüpfte in ihren gehäkelten Pyjama und träumte selig von Zuckmücken und sonstigen Zweiflüglern.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo anton, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Schöner Text über das Wort "gemein". Regt zum Nachdenken an!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Sebahoma

Mitglied
Hallo Anton,

auch von mir ein herzliches Willkommen bei der Leselupe!

Ich habe deinen Text sehr gerne gelesen. Mit der Kriebelmücke konnte ich gut mitfühlen und das Ende hat mich auch gefreut.

Viele Grüße,
Sebahoma
 



 
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