Blumenberg
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Der Benz frisst sich Kilometer für Kilometer durch eine Allee aus v-förmig stehenden Apfelbäumen. Jan ist auf dem Weg zu einem Café in K. Dort will er sich mit einem gewissen Leftien treffen. Er kennt den Mann nicht, weiß nur, dass er vor Kurzem mit einem kleinen Speditionsgeschäft pleitegegangen ist und nun ein Grundstück mit guter Anbindung verkaufen muss. Eigentlich nicht sein Geschäftsfeld, er ist auf Wohnimmobilien im gehobenen Preissegment spezialisiert. Aber Jan hat leicht verdientes Geld gewittert und sich ins Auto gesetzt. Wenn er es vernünftig anstellt, sind bei der Sache zwanzigtausend für ihn drin. Außerdem ist er neugierig, was aus dem Kaff geworden ist. Er ist in K. aufgewachsen, aber seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
Jan stellt sein Cabrio auf einen verlassenen Parkplatz am Rad der Altstadt und geht die letzten Meter zu Fuß. Hier ist wirklich der Hund begraben. Im Ortskern das historische Rathaus, dessen zu DDR-Zeiten bereits anberaumte Sprengung Gründe verhindert haben, die heute im Dunkeln liegen. Davor der weitläufige Platz, die gotische Kirche mit den markanten Spitzbogenfenstern, zwei Cafés, ein Italiener und ein paar Geschäfte rundherum. Alles adretter als damals, in den Blumenkästen blühen die Farben des Stadtwappens. Aber je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto schäbiger werden die Häuser.
Zu dieser Uhrzeit hat sich nur eine kleine Gruppe Touristen auf den Platz verirrt. Die Sonne brennt und die Gruppe drängt sich schwitzend im Schatten des Kirchenportals um einen als Nachtwächter verkleideten Fremdenführer. Warum man in seiner Freizeit ausgerechnet hierherfährt? Jan setzt sich auf einen der Plastikstühle und bestellt Kaffee. Er hat K.´s kurze Boomphase erlebt, ein paar Jahre nach der Wende, als infrastrukturelle Anbindung das Zauberwort war und jede Gemeinde in der Nähe der Autobahn das große Geld witterte. K gönnte sich ein Gewerbegebiet und lukrativen Zugang zur pulsierenden Blutbahn des deutschen Industriewunders. Das wiedervereinigte Berlin war hungrig nach Konsumgütern und die Stadtverwaltung kam kaum mit der Auslobung von gewerblichem Bauland hinterher. Wie ein altes Judenviertel lag es abseits der Gemeinde, war der Ort, an dem das Geld verdient wurde, über den aber alle die Nase rümpften. Auch weil die entstehenden Betriebe meist einem Wessi gehörten. Trotzdem hatten die Leute das Gefühl, es ginge nach den Erdbeben des Mauerfalls und der Treuhand bergauf. Nach ein paar Jahren war der Markt gesättigt und in Bezug auf die Zukunft machte sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Von der zaghaften Hoffnung, den Lebensstandard von denen da drüben einzuholen, war bald nicht mehr viel übrig. Zum Glück war er dann zum BWL-Studium nach Mannheim gezogen.
Der aufgerufene Preis ist fair. Jan will das Ganze schnell hinter sich bringen. Für die zubetonierte Fläche und die beiden Hallen in der Nähe der Autobahn hat er bereits heute Morgen einen Vorvertrag mit einem Käufer aus Übersee geschlossen, aber das braucht der bankrotte Speditionsunternehmer nicht zu wissen. Ein schlechtes Gewissen hat Jan nicht. Er nutzt seinen Informationsvorteil, so funktioniert der Markt nun mal. Jan sieht auf die Uhr, schon kurz vor halb. Von Leftien ist noch nichts zu sehen, stattdessen steuert die Touristengruppe auf die Außenterrasse des Cafés zu und lässt sich schnatternd an einem Nachbartisch nieder. Das hat ihm gerade noch gefehlt.
„Halt dich gerade, Junge!“ herrscht ein Touri-Vater seinen Sohn an. Der Satz klingt vertraut, dringt durch den Gehörgang direkt in die Seele und bohrt sich wie eine kleine heiße Nadel hinein. Er hat ihn in seiner Kindheit oft gehört. Am Esstisch, vor und nach Schularbeiten, bei der Arbeit im Laden, sonntags wurde er bei Fußballspielen der SVK über den Platz geschrien. Am Grab seiner Mutter war er das Einzige, was dem zerbrochenen Vater über die Lippen kam. Der Satz ist immer mehr gewesen als der Hinweis auf eine anatomisch korrekte Position im Raum. In ihm kommt die Geisteshaltung zum Ausdruck, die, seit er denken kann, sein Elternhaus geprägt hat. Egal, was dir die Welt an den Kopf wirft, halt dich gerade und steh zu deinen Überzeugungen. Wehr dich! Gib Kontra!
Jan versucht vergeblich, Leftien zu erreichen. Dessen Handy ist abgeschaltet. Was treibt der Kerl? Er hat nur noch fünf Prozent Akku, muss vergessen haben, es aufzuladen. Er winkt dem Kellner und zahlt. Ausgerechnet jetzt ruft auch noch sein Vater an. Wie üblich mitten in seinem Arbeitstag. Ob er wittert, dass Jan in der Stadt ist? Er lässt es klingeln. Als der Alte endlich aufgibt, telefoniert er mit seiner Assistentin und trägt ihr auf, so lange bei Leftien anzurufen, bis der rangeht.
Jan schlendert die Ladengeschäfte entlang und biegt an der Schlegelstraße unvermittelt ab. Zwei Gehminuten später steht er vor dem Gebäude, in dessen Erdgeschoss bis vor ein paar Jahren der Modellbauladen seines Vaters lag. Heute ist dort eine Physiotherapiepraxis. Die mitgenommene Fassade, für deren Renovierung immer nichts über war, ist neu verputzt und gestrichen. Das Schaufenster ist einer Milchglasscheibe gewichen und die neue Pächterin hat einen Hortensienbusch im Kübel neben die Treppe gestellt. Wenigstens sind die ausgetretenen Stufen noch da. Das hat etwas Beruhigendes.
Es hatte seinen alten Herrn getroffen, dass er nach dem Studium nicht in den Laden einsteigen wollte. Das war immer sein Plan für Jan gewesen, seit ihm ein Onkel, der rübergemacht hat, nach der Wiedervereinigung das Startkapital geliehen hatte. Endlich was Eigenes aufbauen und was hinterlassen, das der Junge fortführen kann. Sein Vater hatte nach dem Mauerfall eine dicke Akte in der Unterlagenbehörde vorgefunden, die als häufigste Ausdrücke die Begriffe ideologisch verbohrt und unbelehrbar enthielt. Immer gerade! Das bekam einem nicht. Kein Wunder, dass er, obwohl Bauingenieur und Parteimitglied, im Sozialismus nie vorangekommen war. Man lobte seine Arbeit, befördert wurde aber immer einer mit ideologisch gefestigterer Persönlichkeit. Der Witz ist, er hatte brav seinen Marx gelesen und glaubt bis heute an den Kommunismus. Im Studium hatte Jan schnell festgestellt, dass der Laden nicht seine Zukunft sein würde. Einzelhandel in Zeiten von Amazon und Ebay. Deren Preise kannst du nie mitgehen wegen der steigenden Skalenerträge. Außerdem war der Modellbau tot. „Schau nur auf die Messen, du hast doch Augen im Kopf“, hatte Jan um Verständnis geworben. „Lauter alte Männer. Das macht niemand mehr unter Fünfzig.“ Sein Vater kannte seine Bücher. Der sah doch, was jeden Monat reinkam, und wusste selbst, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte, nur zugeben konnte er es nicht. Und selbst wenn: Jan war das ohnehin zu klein gewesen. Nach oben ist das Leben offen. Eisern in ihrer Überzeugung waren nur Heilige und die waren in der Regel tot. Was lebt, muss flexibel sein, sich an veränderte Bedingungen anpassen können, sonst stirbt es. Seit dem Zerwürfnis war Jan nicht mehr hier gewesen, immerhin telefonierten sie seit einem Jahr wieder.
Schon eine Stunde Verzögerung. Wenn das noch lange dauert, kommt er erst morgen wieder nach Hause. Eine Nacht in der Provinz, noch dazu in einer Stadt, die voll ist mit beiseitegeschobenen Erinnerungen, hat ihm gerade noch gefehlt. Jan kramt sein Handy hervor. Zwei Prozent. Er wählt noch einmal Leftiens Nummer. Wieder nichts. „Leftien, ich komme bei Ihnen vorbei“, bellt Jan auf die Mailbox. Anschließend sagt er seiner Sekretärin, für den Fall, dass sich der Spediteur bei ihr meldet, Bescheid, wo er hinwill. „Der Akku ist leer. Versuchen Sie´s weiter …“ Dann ist der Bildschirm schwarz und das kleine Wunderding nur noch ein hübsch geformter Klumpen aus Metall, Glas und Plastik.
Der Weg ist nicht weit. Obwohl Jan langsam geht, kommt er in der Sonne ins Schwitzen und muss sich immer wieder mit einem Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken wischen. Seit er auf die Vierzig zugeht, ist er aus der Form geraten. Letztes Jahr hat er sich deshalb eine Rudermaschine in den Keller gestellt. Die sollte er häufiger benutzen. Ein Rettungswagen mit Blaulicht scheucht ihn auf, dicht gefolgt von einem Löschzug und zwei Polizeiautos. Schmerzhaft hämmert das Stakkato der Sirenen gegen seine Trommelfelle, während die Kolonne über die Kreuzung donnert. Sonst ist kein Auto zu sehen. Die hätten auch einfach durchfahren können. Während er der Kolonne nachsieht, die grob in Richtung Autobahn davonrast, fällt ihm wieder einmal auf, wie sehr er das pulsierende Leben Münchens schätzt.
Zehn Minuten später steht Jan vor der Tür eines beige verputzten Reihenhauses aus den Sechzigern und läutet. Es dauert ein wenig, bis eine Bewegung hinter dem Fenster der Eingangstür verrät, dass jemand zu Hause ist. Der hat doch nicht etwa kalte Füße bekommen oder das Grundstück anderweitig weggegeben? Jan ist verärgert. Als eine blonde Frau in den Vierzigern öffnet, sieht er sie ebenso fragend an wie sie ihn.
„Ja, bidde?“
„Entschuldigung, ich war mit Herrn Leftien verabredet ...“ Jan tritt von einem Bein auf das andere. Das unerwartete Gegenüber hat ihn aus dem Konzept gebracht. „Vielleicht habe ich mich auch im Haus geirrt“, murmelt er entschuldigend und will schon kehrtmachen.
„Des is meen Vader. Um was geht´s denn?“ Sie sieht Jan an, zieht dann eine Augenbraue hoch und verschränkt die Arme vor der Brust. Jan kennt die abwehrende Körperhaltung nur zu gut. Die hier hat in der Spannung des Körpers, dem vorgereckten Kinn außerdem etwas Aufmüpfiges. „Sie sind der Immobilienfritze, ne?“
„Stimmt, mein Name ist Forster. Es geht um das Grundstück, das ihr Vater verkaufen möchte. Wir waren verabredet, um die Details zu besprechen und den Kaufvertrag aufzusetzen. Leider ist er nicht gekommen und ich erreiche ihn telefonisch nicht.“
„Komm´se rein, isch ruf ihn an. Aber zieh´n se de Schuhe aus.“
Ein schmaler Flur führt gerade auf das Wohnzimmer zu, rechts geht die Küche ab, links die Treppe ins erste Geschoss. Jan blickt an sich hinab, auf die grauen Socken. Zu allem Überfluss wird er nach einem Schuhlöffel fragen müssen, um hier wieder wegzukommen. An der Wand hängt eine stattliche Geweihsammlung. Schon im Angesicht des Jägerzauns hat er den Kleinbürgermief gerochen, den er nur zu gut kennt.
„Die hat er geschossen“, erklärt die Blonde, als sie seinen Blick bemerkt.
„Was auch sonst“, entgegnet Jan und geht an ihr vorbei ins Wohnzimmer durch. Er setzt sich auf die Couch und sieht der Frau dabei zu, wie sie mit dem Handy herumhantiert. In der Ecke tickt eine Zapfenstanduhr aus dem Erzgebirge. Jan langweilt sich. Sein Blick schweift umher, bis er auf die rosa lackierten Zehen fällt. Die Farbe passt gut zu den schlanken, gebräunten Füßen und so gar nicht in diese biedere Umgebung. Solche Zehen gehören ans Ufer der Isar oder auf eine Wiese im Englischen Garten, aber nicht in eine sächsische Piefstadt.
„Nur de Mailbox. Tut mir leid, des passt so gar nischt zu ihm. Wissen se, des Ganze hat ihn ziemlisch mitgenommen.“
Jan blickt schnell wieder nach oben. Die Frau sieht besorgt aus und er hat nichts Besseres zu tun als unverhohlen ihre bloßen Füße anzustarren. Er schämt sich ein wenig und sagt erst einmal nichts.
„Solang der Preis stimmt, kümmert Se des wahrscheinlisch nischt sonderlisch, nehm isch an.“ Sie winkt ab, als er antworten will. „Lassen Se, isch versuch´s in der Firma.“
Bevor Jan etwas sagen kann, ist sie in der Küche verschwunden. Vielleicht hat sie sogar Recht. Ihm war die persönliche Seite seiner Klienten nur insoweit wichtig, wie sie für eine professionelle Abwicklung seiner beruflichen Tätigkeit notwendig war. Er hält sich trotzdem nicht für einen schlechten Menschen. Wie ein Arzt, der einen naturwissenschaftlichen Blick auf den Körper haben muss und deshalb persönliche Anteilname ausblendet, hatte er einen ökonomischen auf Scheidungen, Todesfälle und Insolvenzen. Letztlich geht es um Zahlen und in diesem Segment ließen sich häufig gute Geschäfte machen.
Als sie zurückkommt, entschuldigt er sich und versichert ihr, dass es ihm immer auch darum ginge, dass der Verkäufer einen guten Preis bekommt.
„Geht doch eh alles an de Gläubiger. Oleg, seen Vorarbeider, sagt, er is vor über ner Stunde weg. Hat getobt und des ganze Büro verwüstet, bevor er mit´m Auto los is. Heut früh war er noch ganz ruhisch. Isch versteh des einfach nischt. Und immer geht sofort de Mailbox ran.“
Die Frau steckt ihn an mit ihrer Nervosität. Irgendwas stimmt hier nicht. Sie starrt immer wieder auf ihr Handy, wählt, versucht es nochmal und nochmal. Als ob das irgendetwas ändern würde. Dazu das nervtötende Ticken. Ihm wird das Ganze zu viel. „Wissen Sie was, ich lasse Ihnen einfach meine Karte da und Sie sagen Ihrem Vater, er soll sich melden.“ Er hat sich schon halb von der Couch erhoben, als die Türglocke geht.
„Des is er bestimmt“, versichert ihm die blonde Frau und hastet Richtung Tür. Jan steht auf, um einen Blick auf den Spediteur zu werfen, der ihn schon so viele Nerven gekostet hat. Er sieht, wie eine Hand die Polizeimütze vom Kopf zieht und eine kurz rasierte Halbglatze zum Vorschein kommt, deren polierte Kopfhaut das Blaulicht im Hintergrund spiegelt. Jan fällt die Kolonne wieder ein und er hat plötzlich ein ganz mieses Gefühl. Nicht wieder so was wie nach der Zwangsversteigerung in Brandenburg.
Damals war es auch ein Jäger. Ein alter Gutshof. Traumhafte Lage, natürlich renovierungsbedürftig, ein Liebhaberstück. Der Vorbesitzer hatte ihm, als er mit dem Räumkommando in den Hof fuhr, noch freundlich zugewunken und sich dann mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Das ging so schnell, Jan hatte es nicht einmal geschafft, wegzusehen. Darauf hatte ihn niemand vorbereitet. Lauter grauenerregende Einzelbilder, die sich, wie er sie auch zu arrangieren versuchte, einfach nicht zu etwas zusammensetzen ließen, das einen Sinn ergab. Danach hatte er die Zwangsversteigerungen aufgegeben, hatte sich selbst eingeredet, dass die für einen aufstrebenden Makler zu halbseiden sind.
Leftiens Tochter kommt mit zwei Polizisten ins Wohnzimmer. Im Augenblick wünscht er sich nichts sehnlicher, als wieder in seinem Benz zu sitzen. Unschlüssig steht er da, blickt auf seine lächerlichen Socken. Keine Chance, ihm bleibt nichts, als sich ins Unvermeidliche zu fügen. Er setzt eine ernste Miene auf, von der er hofft, dass sie angemessener ist als sein Aussetzer vorhin.
Sie glotzt ihn an. „Isch…Isch weß gar nischt, was isch sagen soll, Herr Forster.“ Dabei wirkt sie erstaunlich gefasst. Nur die Oberlippe zittert ein bisschen. Vielleicht hat Leftien ja Glück gehabt. Eher nein, dafür schauen die zwei Uniformierten zu betreten auf den Boden. Was sagt man in so einer Situation? Wenn das Undenkbare durch bloßes Aussprechen endgültig in der Welt ist, sich nicht mehr zurücknehmen lässt. Ob sie ihm Vorwürfe machen wird? Wenn sie nur endlich weiterreden würde. Er will ihr sein Beileid aussprechen, ihr sagen, dass jetzt überhaupt kein angemessener Zeitpunkt für das Geschäft ist. Dass bei so einer Tragödie alles andere seine Bedeutung verliert. Dann …, ab nach draußen, ab in den Benz, ab nach Hause. Was brachte es schon, ein paar tausend mit so einem Elend zu realisieren, die, kaum waren sie verdient, wieder bei der Miete für sein Geschäft, drei Zimmer in einem Münchner Büroturm, seine Angestellte und die Steuer draufgingen?
„Herr Forster … Ihr Vader is tot.“
„Bitte?“ Jan muss sich verhört haben.
„Sie waren nisch erreeschbar, also hat Ihre Assistendin die zwee hergeschickt. Es gab een Unfall auf der Landstraße. Ihr Vader is mit seenem Wagen von der Straße abgekommen und gegen een Baum geprallt. Man konnte leeder gar nischt mehr tun. Des tut mir furschtbar leid.“
Jan stellt sein Cabrio auf einen verlassenen Parkplatz am Rad der Altstadt und geht die letzten Meter zu Fuß. Hier ist wirklich der Hund begraben. Im Ortskern das historische Rathaus, dessen zu DDR-Zeiten bereits anberaumte Sprengung Gründe verhindert haben, die heute im Dunkeln liegen. Davor der weitläufige Platz, die gotische Kirche mit den markanten Spitzbogenfenstern, zwei Cafés, ein Italiener und ein paar Geschäfte rundherum. Alles adretter als damals, in den Blumenkästen blühen die Farben des Stadtwappens. Aber je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto schäbiger werden die Häuser.
Zu dieser Uhrzeit hat sich nur eine kleine Gruppe Touristen auf den Platz verirrt. Die Sonne brennt und die Gruppe drängt sich schwitzend im Schatten des Kirchenportals um einen als Nachtwächter verkleideten Fremdenführer. Warum man in seiner Freizeit ausgerechnet hierherfährt? Jan setzt sich auf einen der Plastikstühle und bestellt Kaffee. Er hat K.´s kurze Boomphase erlebt, ein paar Jahre nach der Wende, als infrastrukturelle Anbindung das Zauberwort war und jede Gemeinde in der Nähe der Autobahn das große Geld witterte. K gönnte sich ein Gewerbegebiet und lukrativen Zugang zur pulsierenden Blutbahn des deutschen Industriewunders. Das wiedervereinigte Berlin war hungrig nach Konsumgütern und die Stadtverwaltung kam kaum mit der Auslobung von gewerblichem Bauland hinterher. Wie ein altes Judenviertel lag es abseits der Gemeinde, war der Ort, an dem das Geld verdient wurde, über den aber alle die Nase rümpften. Auch weil die entstehenden Betriebe meist einem Wessi gehörten. Trotzdem hatten die Leute das Gefühl, es ginge nach den Erdbeben des Mauerfalls und der Treuhand bergauf. Nach ein paar Jahren war der Markt gesättigt und in Bezug auf die Zukunft machte sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Von der zaghaften Hoffnung, den Lebensstandard von denen da drüben einzuholen, war bald nicht mehr viel übrig. Zum Glück war er dann zum BWL-Studium nach Mannheim gezogen.
Der aufgerufene Preis ist fair. Jan will das Ganze schnell hinter sich bringen. Für die zubetonierte Fläche und die beiden Hallen in der Nähe der Autobahn hat er bereits heute Morgen einen Vorvertrag mit einem Käufer aus Übersee geschlossen, aber das braucht der bankrotte Speditionsunternehmer nicht zu wissen. Ein schlechtes Gewissen hat Jan nicht. Er nutzt seinen Informationsvorteil, so funktioniert der Markt nun mal. Jan sieht auf die Uhr, schon kurz vor halb. Von Leftien ist noch nichts zu sehen, stattdessen steuert die Touristengruppe auf die Außenterrasse des Cafés zu und lässt sich schnatternd an einem Nachbartisch nieder. Das hat ihm gerade noch gefehlt.
„Halt dich gerade, Junge!“ herrscht ein Touri-Vater seinen Sohn an. Der Satz klingt vertraut, dringt durch den Gehörgang direkt in die Seele und bohrt sich wie eine kleine heiße Nadel hinein. Er hat ihn in seiner Kindheit oft gehört. Am Esstisch, vor und nach Schularbeiten, bei der Arbeit im Laden, sonntags wurde er bei Fußballspielen der SVK über den Platz geschrien. Am Grab seiner Mutter war er das Einzige, was dem zerbrochenen Vater über die Lippen kam. Der Satz ist immer mehr gewesen als der Hinweis auf eine anatomisch korrekte Position im Raum. In ihm kommt die Geisteshaltung zum Ausdruck, die, seit er denken kann, sein Elternhaus geprägt hat. Egal, was dir die Welt an den Kopf wirft, halt dich gerade und steh zu deinen Überzeugungen. Wehr dich! Gib Kontra!
Jan versucht vergeblich, Leftien zu erreichen. Dessen Handy ist abgeschaltet. Was treibt der Kerl? Er hat nur noch fünf Prozent Akku, muss vergessen haben, es aufzuladen. Er winkt dem Kellner und zahlt. Ausgerechnet jetzt ruft auch noch sein Vater an. Wie üblich mitten in seinem Arbeitstag. Ob er wittert, dass Jan in der Stadt ist? Er lässt es klingeln. Als der Alte endlich aufgibt, telefoniert er mit seiner Assistentin und trägt ihr auf, so lange bei Leftien anzurufen, bis der rangeht.
Jan schlendert die Ladengeschäfte entlang und biegt an der Schlegelstraße unvermittelt ab. Zwei Gehminuten später steht er vor dem Gebäude, in dessen Erdgeschoss bis vor ein paar Jahren der Modellbauladen seines Vaters lag. Heute ist dort eine Physiotherapiepraxis. Die mitgenommene Fassade, für deren Renovierung immer nichts über war, ist neu verputzt und gestrichen. Das Schaufenster ist einer Milchglasscheibe gewichen und die neue Pächterin hat einen Hortensienbusch im Kübel neben die Treppe gestellt. Wenigstens sind die ausgetretenen Stufen noch da. Das hat etwas Beruhigendes.
Es hatte seinen alten Herrn getroffen, dass er nach dem Studium nicht in den Laden einsteigen wollte. Das war immer sein Plan für Jan gewesen, seit ihm ein Onkel, der rübergemacht hat, nach der Wiedervereinigung das Startkapital geliehen hatte. Endlich was Eigenes aufbauen und was hinterlassen, das der Junge fortführen kann. Sein Vater hatte nach dem Mauerfall eine dicke Akte in der Unterlagenbehörde vorgefunden, die als häufigste Ausdrücke die Begriffe ideologisch verbohrt und unbelehrbar enthielt. Immer gerade! Das bekam einem nicht. Kein Wunder, dass er, obwohl Bauingenieur und Parteimitglied, im Sozialismus nie vorangekommen war. Man lobte seine Arbeit, befördert wurde aber immer einer mit ideologisch gefestigterer Persönlichkeit. Der Witz ist, er hatte brav seinen Marx gelesen und glaubt bis heute an den Kommunismus. Im Studium hatte Jan schnell festgestellt, dass der Laden nicht seine Zukunft sein würde. Einzelhandel in Zeiten von Amazon und Ebay. Deren Preise kannst du nie mitgehen wegen der steigenden Skalenerträge. Außerdem war der Modellbau tot. „Schau nur auf die Messen, du hast doch Augen im Kopf“, hatte Jan um Verständnis geworben. „Lauter alte Männer. Das macht niemand mehr unter Fünfzig.“ Sein Vater kannte seine Bücher. Der sah doch, was jeden Monat reinkam, und wusste selbst, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte, nur zugeben konnte er es nicht. Und selbst wenn: Jan war das ohnehin zu klein gewesen. Nach oben ist das Leben offen. Eisern in ihrer Überzeugung waren nur Heilige und die waren in der Regel tot. Was lebt, muss flexibel sein, sich an veränderte Bedingungen anpassen können, sonst stirbt es. Seit dem Zerwürfnis war Jan nicht mehr hier gewesen, immerhin telefonierten sie seit einem Jahr wieder.
Schon eine Stunde Verzögerung. Wenn das noch lange dauert, kommt er erst morgen wieder nach Hause. Eine Nacht in der Provinz, noch dazu in einer Stadt, die voll ist mit beiseitegeschobenen Erinnerungen, hat ihm gerade noch gefehlt. Jan kramt sein Handy hervor. Zwei Prozent. Er wählt noch einmal Leftiens Nummer. Wieder nichts. „Leftien, ich komme bei Ihnen vorbei“, bellt Jan auf die Mailbox. Anschließend sagt er seiner Sekretärin, für den Fall, dass sich der Spediteur bei ihr meldet, Bescheid, wo er hinwill. „Der Akku ist leer. Versuchen Sie´s weiter …“ Dann ist der Bildschirm schwarz und das kleine Wunderding nur noch ein hübsch geformter Klumpen aus Metall, Glas und Plastik.
Der Weg ist nicht weit. Obwohl Jan langsam geht, kommt er in der Sonne ins Schwitzen und muss sich immer wieder mit einem Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken wischen. Seit er auf die Vierzig zugeht, ist er aus der Form geraten. Letztes Jahr hat er sich deshalb eine Rudermaschine in den Keller gestellt. Die sollte er häufiger benutzen. Ein Rettungswagen mit Blaulicht scheucht ihn auf, dicht gefolgt von einem Löschzug und zwei Polizeiautos. Schmerzhaft hämmert das Stakkato der Sirenen gegen seine Trommelfelle, während die Kolonne über die Kreuzung donnert. Sonst ist kein Auto zu sehen. Die hätten auch einfach durchfahren können. Während er der Kolonne nachsieht, die grob in Richtung Autobahn davonrast, fällt ihm wieder einmal auf, wie sehr er das pulsierende Leben Münchens schätzt.
Zehn Minuten später steht Jan vor der Tür eines beige verputzten Reihenhauses aus den Sechzigern und läutet. Es dauert ein wenig, bis eine Bewegung hinter dem Fenster der Eingangstür verrät, dass jemand zu Hause ist. Der hat doch nicht etwa kalte Füße bekommen oder das Grundstück anderweitig weggegeben? Jan ist verärgert. Als eine blonde Frau in den Vierzigern öffnet, sieht er sie ebenso fragend an wie sie ihn.
„Ja, bidde?“
„Entschuldigung, ich war mit Herrn Leftien verabredet ...“ Jan tritt von einem Bein auf das andere. Das unerwartete Gegenüber hat ihn aus dem Konzept gebracht. „Vielleicht habe ich mich auch im Haus geirrt“, murmelt er entschuldigend und will schon kehrtmachen.
„Des is meen Vader. Um was geht´s denn?“ Sie sieht Jan an, zieht dann eine Augenbraue hoch und verschränkt die Arme vor der Brust. Jan kennt die abwehrende Körperhaltung nur zu gut. Die hier hat in der Spannung des Körpers, dem vorgereckten Kinn außerdem etwas Aufmüpfiges. „Sie sind der Immobilienfritze, ne?“
„Stimmt, mein Name ist Forster. Es geht um das Grundstück, das ihr Vater verkaufen möchte. Wir waren verabredet, um die Details zu besprechen und den Kaufvertrag aufzusetzen. Leider ist er nicht gekommen und ich erreiche ihn telefonisch nicht.“
„Komm´se rein, isch ruf ihn an. Aber zieh´n se de Schuhe aus.“
Ein schmaler Flur führt gerade auf das Wohnzimmer zu, rechts geht die Küche ab, links die Treppe ins erste Geschoss. Jan blickt an sich hinab, auf die grauen Socken. Zu allem Überfluss wird er nach einem Schuhlöffel fragen müssen, um hier wieder wegzukommen. An der Wand hängt eine stattliche Geweihsammlung. Schon im Angesicht des Jägerzauns hat er den Kleinbürgermief gerochen, den er nur zu gut kennt.
„Die hat er geschossen“, erklärt die Blonde, als sie seinen Blick bemerkt.
„Was auch sonst“, entgegnet Jan und geht an ihr vorbei ins Wohnzimmer durch. Er setzt sich auf die Couch und sieht der Frau dabei zu, wie sie mit dem Handy herumhantiert. In der Ecke tickt eine Zapfenstanduhr aus dem Erzgebirge. Jan langweilt sich. Sein Blick schweift umher, bis er auf die rosa lackierten Zehen fällt. Die Farbe passt gut zu den schlanken, gebräunten Füßen und so gar nicht in diese biedere Umgebung. Solche Zehen gehören ans Ufer der Isar oder auf eine Wiese im Englischen Garten, aber nicht in eine sächsische Piefstadt.
„Nur de Mailbox. Tut mir leid, des passt so gar nischt zu ihm. Wissen se, des Ganze hat ihn ziemlisch mitgenommen.“
Jan blickt schnell wieder nach oben. Die Frau sieht besorgt aus und er hat nichts Besseres zu tun als unverhohlen ihre bloßen Füße anzustarren. Er schämt sich ein wenig und sagt erst einmal nichts.
„Solang der Preis stimmt, kümmert Se des wahrscheinlisch nischt sonderlisch, nehm isch an.“ Sie winkt ab, als er antworten will. „Lassen Se, isch versuch´s in der Firma.“
Bevor Jan etwas sagen kann, ist sie in der Küche verschwunden. Vielleicht hat sie sogar Recht. Ihm war die persönliche Seite seiner Klienten nur insoweit wichtig, wie sie für eine professionelle Abwicklung seiner beruflichen Tätigkeit notwendig war. Er hält sich trotzdem nicht für einen schlechten Menschen. Wie ein Arzt, der einen naturwissenschaftlichen Blick auf den Körper haben muss und deshalb persönliche Anteilname ausblendet, hatte er einen ökonomischen auf Scheidungen, Todesfälle und Insolvenzen. Letztlich geht es um Zahlen und in diesem Segment ließen sich häufig gute Geschäfte machen.
Als sie zurückkommt, entschuldigt er sich und versichert ihr, dass es ihm immer auch darum ginge, dass der Verkäufer einen guten Preis bekommt.
„Geht doch eh alles an de Gläubiger. Oleg, seen Vorarbeider, sagt, er is vor über ner Stunde weg. Hat getobt und des ganze Büro verwüstet, bevor er mit´m Auto los is. Heut früh war er noch ganz ruhisch. Isch versteh des einfach nischt. Und immer geht sofort de Mailbox ran.“
Die Frau steckt ihn an mit ihrer Nervosität. Irgendwas stimmt hier nicht. Sie starrt immer wieder auf ihr Handy, wählt, versucht es nochmal und nochmal. Als ob das irgendetwas ändern würde. Dazu das nervtötende Ticken. Ihm wird das Ganze zu viel. „Wissen Sie was, ich lasse Ihnen einfach meine Karte da und Sie sagen Ihrem Vater, er soll sich melden.“ Er hat sich schon halb von der Couch erhoben, als die Türglocke geht.
„Des is er bestimmt“, versichert ihm die blonde Frau und hastet Richtung Tür. Jan steht auf, um einen Blick auf den Spediteur zu werfen, der ihn schon so viele Nerven gekostet hat. Er sieht, wie eine Hand die Polizeimütze vom Kopf zieht und eine kurz rasierte Halbglatze zum Vorschein kommt, deren polierte Kopfhaut das Blaulicht im Hintergrund spiegelt. Jan fällt die Kolonne wieder ein und er hat plötzlich ein ganz mieses Gefühl. Nicht wieder so was wie nach der Zwangsversteigerung in Brandenburg.
Damals war es auch ein Jäger. Ein alter Gutshof. Traumhafte Lage, natürlich renovierungsbedürftig, ein Liebhaberstück. Der Vorbesitzer hatte ihm, als er mit dem Räumkommando in den Hof fuhr, noch freundlich zugewunken und sich dann mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Das ging so schnell, Jan hatte es nicht einmal geschafft, wegzusehen. Darauf hatte ihn niemand vorbereitet. Lauter grauenerregende Einzelbilder, die sich, wie er sie auch zu arrangieren versuchte, einfach nicht zu etwas zusammensetzen ließen, das einen Sinn ergab. Danach hatte er die Zwangsversteigerungen aufgegeben, hatte sich selbst eingeredet, dass die für einen aufstrebenden Makler zu halbseiden sind.
Leftiens Tochter kommt mit zwei Polizisten ins Wohnzimmer. Im Augenblick wünscht er sich nichts sehnlicher, als wieder in seinem Benz zu sitzen. Unschlüssig steht er da, blickt auf seine lächerlichen Socken. Keine Chance, ihm bleibt nichts, als sich ins Unvermeidliche zu fügen. Er setzt eine ernste Miene auf, von der er hofft, dass sie angemessener ist als sein Aussetzer vorhin.
Sie glotzt ihn an. „Isch…Isch weß gar nischt, was isch sagen soll, Herr Forster.“ Dabei wirkt sie erstaunlich gefasst. Nur die Oberlippe zittert ein bisschen. Vielleicht hat Leftien ja Glück gehabt. Eher nein, dafür schauen die zwei Uniformierten zu betreten auf den Boden. Was sagt man in so einer Situation? Wenn das Undenkbare durch bloßes Aussprechen endgültig in der Welt ist, sich nicht mehr zurücknehmen lässt. Ob sie ihm Vorwürfe machen wird? Wenn sie nur endlich weiterreden würde. Er will ihr sein Beileid aussprechen, ihr sagen, dass jetzt überhaupt kein angemessener Zeitpunkt für das Geschäft ist. Dass bei so einer Tragödie alles andere seine Bedeutung verliert. Dann …, ab nach draußen, ab in den Benz, ab nach Hause. Was brachte es schon, ein paar tausend mit so einem Elend zu realisieren, die, kaum waren sie verdient, wieder bei der Miete für sein Geschäft, drei Zimmer in einem Münchner Büroturm, seine Angestellte und die Steuer draufgingen?
„Herr Forster … Ihr Vader is tot.“
„Bitte?“ Jan muss sich verhört haben.
„Sie waren nisch erreeschbar, also hat Ihre Assistendin die zwee hergeschickt. Es gab een Unfall auf der Landstraße. Ihr Vader is mit seenem Wagen von der Straße abgekommen und gegen een Baum geprallt. Man konnte leeder gar nischt mehr tun. Des tut mir furschtbar leid.“