Hans war gestürzt. Seit vorgestern Abend lag er zwischen Couchtisch und Wandschrank inmitten seines Wohnzimmers. Hans war alt, schon über achtzig. Lange schon plagten ihn Gicht und Rheuma, lange schon brauchte er einen Rollator. Hans war gebrechlich. Die paar Stufen zu seiner Eingangstür kroch er hoch wie eine Schildkröte im aufrechten Gang, und oft schoss ihm die Sorge durch den Kopf: „Was, wenn ich daheim falle?“
Es schmerzte furchtbar! Sicher war sein Handgelenk gebrochen, ebenso ein Hüftkochen. Hans würde niemals alleine aufstehen können; er brauchte Hilfe. „Schrei!“, dachte Hans, „schrei so laut du kannst!“. Wenn Hans doch bloß gekonnt hätte! Jahrzehnte hatte er in der Lackiererei gearbeitet, hatte giftige Dämpfe eingeatmet. Arbeitsschutz gab es damals nicht. Nun waren seine Lungen hin, nur flach konnte er noch atmen. Hans schrie nicht, er wimmerte. Niemand würde ihn hören. Die halb taube Nachbarin Hildebrandt merkte nichtmal das Getöse der Bagger und Presslufthämmer nebenan. Der Kanal wurde ausgeschachtet, doch seit vorgestern war es still. „Ungewöhnlich“, dachte Hans. Auch die anderen Nachbarn würden ihn nicht hören, die wohnten im Nebengebäude. Er wusste: seine Klopfzeichen verhallten unbemerkt, sein Ende naht.
„Was wird nur aus dir, Paule?“, sorgte sich Hans. Sein Kater saß neben ihm und maunzte. Einen Arm konnte Hans ja noch bewegen, und Paule schnurrte, schmiegte sich an ihn und ließ sich kraulen. Der arme Kerl hungerte sicher. Hans hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen; und Zeit zum Nachdenken. Schon bald fragte er sich, was Paule machen wird, wenn sein Herrchen erst gestorben ist. Wird Paule ihn vor lauter Hunger anfressen? Jeden Tag ein bisschen, eine Futterschale voll Hans, bis sein Kadaver so stinkt, dass selbst die alte Hildebrandt die Lage kapiert?
Hans lag bereits in seinem Urin und Schlimmeren. Der Kater konnte trinken wie er wollte, der Klodeckel stand offen. Aber er, er hatte Durst, so großen Durst. Der Hunger ging noch, in seinem Alter aß man nicht mehr viel. „Aber Wasser, mein Gott, Wasser!“, flehte Hans. Seine Zunge war Schleifpapier. Er hätte aus dem Klo gesoffen! Auf dem Couchtisch stand eine Wasserflasche, zu weit. Daneben lag Hans, ein Haufen aus krummen Gliedern, fossiliengleich. Das alte Männlein weinte. Es stirbt sich nicht leicht, und der Durst lag wie Blei auf seinem Körper.
Die Zeiger gingen, und Hans ging mit. „Es kann nicht mehr lange dauern, bald hab ichs geschafft“, wusste er. Dann würde er sie wiedersehen, Martha, seine liebe Frau. Lange vor ihm war sie gestorben. „Schon komisch, wie das Leben so spielt“, dachte er. „Hier ward ich geboren, hier sollt ich sterben.“ Sein ganzes Leben hatte er hier gewohnt, in seinem Elternhaus, seinem Geburtshaus, seinem Sterbenshaus. Als Junge tollte er mit Heinrich durch die Gärten, und was hatten sie für Flausen im Kopf! Durch dick und dünn sind sie gegangen und hatten sich sogar das Versprechen der Apachen gegeben, besiegelt mit Blut. Doch als die Bomber der Alliierten kamen, konnte Hans seinem besten Freund nicht helfen. In den Kellern ihrer Elternhäuser hatten sie sich versteckt, jeder in seinem. Als Hans sich wieder vor die Tür gewagt hatte, klaffte zwischen seinem Haus und der Straße ein dunkles, zylindriges Loch. Als Hans nach Heinrich schauen gegangen war, klaffte ein Krater, wo vorher sein Freund gewohnt hatte. Trümmer überall.
Noch einmal wachte Hans auf. Er fühlte kaum noch Schmerz, fühlte kaum noch die Luft beim Atmen. Alles dröhnte und drehte sich, von weit her kam ein dumpfes Rauschen; Hans fiel wieder in tiefen Schlaf und lag, als wolle er sich nie mehr regen...
Von weitem her kam ein dumpfes Rauschen, alles dröhnte und drehte sich. Hans fühlte den Kampf des Einatmens, und es schmerzte. Er wachte auf. Irgendwann nahm er eine Silhouette wahr, dann Konturen, und schließlich merkte Hans, dass er an Apparaten hing. Eine Krankenschwester war im Begriffe, ihn ins Diesseits zurück zu sprechen. Hans lebte! Er liege im Krankenhaus und hätte nur noch wenige Stunden gehabt, erklärte ihm die Schwester.
Schon bald ging es ihm besser, er konnte sogar etwas frühstücken. Beim Tee blätterte er in der Wochenzeitung, doch im Lokalteil blieb er abrupt stehen. Hans las dort von seiner Wohnung, seinen Nachbarn, die alle evakuiert werden mussten wegen des Blindgängers, einer Fliegerbombe. Man habe sie bei Kanalarbeiten entdeckt, direkt neben seinem Haus. Um sicher zu gehen, dass in der näheren Umgebung alle raus wären, sei das Ordnungsamt von Tür zu Tür gegangen. Man habe einen alten Mann gefunden, der tagelang auf dem Boden seines Wohnzimmers gelegen habe und dem Tode nahe gewesen sei. Seine Katze habe man vorübergehend in einem Pflegeheim untergebracht. Der Zünder sei zu stark gerostet und hätte daher nicht entfernt werden können. Man habe die Bombe sprengen müssen. Das Haus des Alten gäbe es nicht mehr, nur noch einen großen Krater. Die Trümmer würden derzeit beseitigt.
„Heinrich!“, Hans ließ die Zeitung fallen. „Martha!“
Es schmerzte furchtbar! Sicher war sein Handgelenk gebrochen, ebenso ein Hüftkochen. Hans würde niemals alleine aufstehen können; er brauchte Hilfe. „Schrei!“, dachte Hans, „schrei so laut du kannst!“. Wenn Hans doch bloß gekonnt hätte! Jahrzehnte hatte er in der Lackiererei gearbeitet, hatte giftige Dämpfe eingeatmet. Arbeitsschutz gab es damals nicht. Nun waren seine Lungen hin, nur flach konnte er noch atmen. Hans schrie nicht, er wimmerte. Niemand würde ihn hören. Die halb taube Nachbarin Hildebrandt merkte nichtmal das Getöse der Bagger und Presslufthämmer nebenan. Der Kanal wurde ausgeschachtet, doch seit vorgestern war es still. „Ungewöhnlich“, dachte Hans. Auch die anderen Nachbarn würden ihn nicht hören, die wohnten im Nebengebäude. Er wusste: seine Klopfzeichen verhallten unbemerkt, sein Ende naht.
„Was wird nur aus dir, Paule?“, sorgte sich Hans. Sein Kater saß neben ihm und maunzte. Einen Arm konnte Hans ja noch bewegen, und Paule schnurrte, schmiegte sich an ihn und ließ sich kraulen. Der arme Kerl hungerte sicher. Hans hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen; und Zeit zum Nachdenken. Schon bald fragte er sich, was Paule machen wird, wenn sein Herrchen erst gestorben ist. Wird Paule ihn vor lauter Hunger anfressen? Jeden Tag ein bisschen, eine Futterschale voll Hans, bis sein Kadaver so stinkt, dass selbst die alte Hildebrandt die Lage kapiert?
Hans lag bereits in seinem Urin und Schlimmeren. Der Kater konnte trinken wie er wollte, der Klodeckel stand offen. Aber er, er hatte Durst, so großen Durst. Der Hunger ging noch, in seinem Alter aß man nicht mehr viel. „Aber Wasser, mein Gott, Wasser!“, flehte Hans. Seine Zunge war Schleifpapier. Er hätte aus dem Klo gesoffen! Auf dem Couchtisch stand eine Wasserflasche, zu weit. Daneben lag Hans, ein Haufen aus krummen Gliedern, fossiliengleich. Das alte Männlein weinte. Es stirbt sich nicht leicht, und der Durst lag wie Blei auf seinem Körper.
Die Zeiger gingen, und Hans ging mit. „Es kann nicht mehr lange dauern, bald hab ichs geschafft“, wusste er. Dann würde er sie wiedersehen, Martha, seine liebe Frau. Lange vor ihm war sie gestorben. „Schon komisch, wie das Leben so spielt“, dachte er. „Hier ward ich geboren, hier sollt ich sterben.“ Sein ganzes Leben hatte er hier gewohnt, in seinem Elternhaus, seinem Geburtshaus, seinem Sterbenshaus. Als Junge tollte er mit Heinrich durch die Gärten, und was hatten sie für Flausen im Kopf! Durch dick und dünn sind sie gegangen und hatten sich sogar das Versprechen der Apachen gegeben, besiegelt mit Blut. Doch als die Bomber der Alliierten kamen, konnte Hans seinem besten Freund nicht helfen. In den Kellern ihrer Elternhäuser hatten sie sich versteckt, jeder in seinem. Als Hans sich wieder vor die Tür gewagt hatte, klaffte zwischen seinem Haus und der Straße ein dunkles, zylindriges Loch. Als Hans nach Heinrich schauen gegangen war, klaffte ein Krater, wo vorher sein Freund gewohnt hatte. Trümmer überall.
Noch einmal wachte Hans auf. Er fühlte kaum noch Schmerz, fühlte kaum noch die Luft beim Atmen. Alles dröhnte und drehte sich, von weit her kam ein dumpfes Rauschen; Hans fiel wieder in tiefen Schlaf und lag, als wolle er sich nie mehr regen...
Von weitem her kam ein dumpfes Rauschen, alles dröhnte und drehte sich. Hans fühlte den Kampf des Einatmens, und es schmerzte. Er wachte auf. Irgendwann nahm er eine Silhouette wahr, dann Konturen, und schließlich merkte Hans, dass er an Apparaten hing. Eine Krankenschwester war im Begriffe, ihn ins Diesseits zurück zu sprechen. Hans lebte! Er liege im Krankenhaus und hätte nur noch wenige Stunden gehabt, erklärte ihm die Schwester.
Schon bald ging es ihm besser, er konnte sogar etwas frühstücken. Beim Tee blätterte er in der Wochenzeitung, doch im Lokalteil blieb er abrupt stehen. Hans las dort von seiner Wohnung, seinen Nachbarn, die alle evakuiert werden mussten wegen des Blindgängers, einer Fliegerbombe. Man habe sie bei Kanalarbeiten entdeckt, direkt neben seinem Haus. Um sicher zu gehen, dass in der näheren Umgebung alle raus wären, sei das Ordnungsamt von Tür zu Tür gegangen. Man habe einen alten Mann gefunden, der tagelang auf dem Boden seines Wohnzimmers gelegen habe und dem Tode nahe gewesen sei. Seine Katze habe man vorübergehend in einem Pflegeheim untergebracht. Der Zünder sei zu stark gerostet und hätte daher nicht entfernt werden können. Man habe die Bombe sprengen müssen. Das Haus des Alten gäbe es nicht mehr, nur noch einen großen Krater. Die Trümmer würden derzeit beseitigt.
„Heinrich!“, Hans ließ die Zeitung fallen. „Martha!“