Krieg und Trauer

Generix

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Erinnerst Du Dich?

Ich öffne die Tür meines Zimmers und trete langsam in die Ruine meines alten Ichs, als wäre ich ein Unbekannter in fremden Gebiet. Doch ein mir bekannter Geruch durchströmt mich und lässt mich tief einatmen. Ich spüre die Verbundenheit, die mich all die Jahre begleitet hat. Wie sehr habe ich den Geruch meiner Bücher, meines Bettes, des Holzes meines Schreibtisches vermisst. Ich wurde vor zwei Monaten im Krieg verwundet, ich bin jung und ich bin glücklicher den je und doch erfüllt mich eine Trauer. Aber auch ein gewisses Schuldgefühl meiner Kameraden und meines guten Freundes Johann wegen, die ich an der Front im Stich gelassen habe, lässt mich nicht in Frieden.
Ich schleiche tiefer in mein aufgeräumtes Zimmer hinein und schaue mich um. Alles liegt an seinem Platz. Und obwohl es albern klingt, solch einen Vergleich zu starten, erkenne ich in meinem Zimmer keine Anzeichen für einen Krieg. Wie soll ein aufgeräumtes Zimmer in Verbindung mit dem Krieg gebracht werden? Ja, es ist albern, aber im Moment erinnert mich alles an den Krieg. Aber dies wird sich bestimmt ändern, wenn ich mich eingelebt habe; eingelebt, in ein warmes Haus, in dem keine Gefahr lauert und in dem ich keine Angst um mein Leben haben muss.
Nun bin ich Zuhause und doch sind meine Gedanken bei meinen Freunden. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas unternehmen muss und da fällt mir urplötzlich etwas ein. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich setze mich an meinen Schreibtisch, hole Papier und Stift aus meiner, seit Monaten ungeöffneten, Schublade und beginne an meinen Freund Johann zu schreiben:

Lieber Johann,
Erinnerst Du dich an unser Versprechen? Wir wollten einander nie im Stich lassen... Nun bin ich hier und Du dort. Und ich habe das Gefühl Dich im Stich gelassen zu haben. Wie Du immer sagtest: Mit einem Arm lässt es sich schwer kämpfen. Ich kann dir sagen, dass das mit einem Bein auch nicht leichter ist. Aber ich will mich nicht dafür entschuldigen, weil ich denke, dass du mich verstehst mein Freund.
Gestern Abend kam ich nach Hause. Das Taxi brachte mich direkt vor die Haustür. Der Fahrer schien noch irgendwas zu sagen, doch ich hörte schon nicht mehr hin. Ich war wie in Trance. Ich öffnete die Tür des Autos und bewegte mich wie in einem Traum auf unser Haus zu. War das alles Realität? Bin ich wirklich auf dem Weg nach Hause? Der Weg fühlte sich so richtig an und ich war so in Gedanken, dass ich ihn ohne Krücken ging. Doch der Sturz in die Pfütze aus Dreck ließ mich aus der Vorstellung, alles wäre okay, erwachen. Ich fühlte mich wieder im Krieg und so presste ich mich tiefer in die Pfütze. Es war eine unkontrollierbare Reaktion. Ich wollte zugleich schreien und weinen, doch der Dreck hinderte mich daran. Ich erinnerte mich an den Augenblick, als wir das Zischen über uns hörten, uns gegenseitig in den Erdtrichter vor uns drückten und einander festhielten bis die Gefahr vorüber schien.
Erst als mein Vater mich aus der Pfütze zog, gingen meine Gedanken wieder einen normalen Weg. Und obwohl ich am ganzen Körper verdreckt und schmutzig war, umarmte er mich - so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Als wir uns losließen hätte ich schwören können, dass er weinte, doch ich kann nichts Genaues sagen, denn er lotste mich mit einer Handbewegung ins Haus, um mir dann den Rücken zu kehren. Ich humpelte ins Haus, mein Blick fest auf meinen Vater gerichtet. Er zeigte mir immer noch die kalte Schulter. Ich vermute, es war ihm peinlich zu weinen. Er war immer mein Vorbild gewesen und obwohl er nicht im Krieg gewesen war, sah ich ihn an den Folgen zusammenbrechen. Es war ein seltsames Gefühl. Du kennst meinen Vater mindestens genauso lange wie ich und deshalb weißt du wovon ich rede.
Ich kam also an unserer Haustür an und schon wurde die Tür aufgerissen. Meine Schwester Jana steht mit strahlenden Augen vor mir und warf sich mir um den Hals. Zum ersten Mal seit ich aus dem Krieg gekommen war, muss ich auflachen, doch das einzige Wort, das ich von mir geben konnte, war >Schwesterherz<. Und obwohl ich wusste, dass ich sie nicht ewig festhalten kann, wollte ich mich nicht von ihr lösen. Und sie schien es zu merken, und ließ mich nicht los. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, als sie zu mir sagte, dass sie mich lieb hat. Wie oft habe ich Dir diese Worte vorgelesen, wenn wir uns gegenseitig unsere Briefe von Zuhause vorlasen? Es waren Worte, die mich zu einem anderen Menschen werden ließen, denn man wusste, dass jemand Zuhause war und sich Sorgen machte. Doch werden sie einem gesagt, haben sie eine völlig andere Wirkung, als das Geschriebene. Mit diesen Worten kam die Wärme und die Geborgenheit und ich fühlte mich mit einem Mal sicherer.
Doch ich spürte auch, dass Jana weinte. Ihr ganzer Körper bebte und doch war der Moment so still und erleichternd.
Im Nachhinein frage ich mich, wie meine Schwester und mein Vater die Zeit überstanden hatten, in der ich weg gewesen war. Sie hatten Wochenlang Angst, dass ihr Bruder bzw. Sohn nicht mehr zurück kommen würde. Unsere Aufgabe war es lediglich, ihre Angst zu mildern, indem wir überlebten. Wir nehmen das Leben als selbstverständlich hin und gehen davon aus, dass es dann endet, wenn wir es wollen. Der Krieg hat uns etwas anderes gelehrt und ich bin froh über jeden neuen Tag mit meiner Familie.
Ich löste mich nach einer langen Zeit von meiner Schwester und so standen wir uns gegenüber. Sie hatte ihre Hand auf meiner Wange. In dem Moment stellte ich mir die Frage, wieso ich ihre Berührung nicht spürte? Doch ich blieb mit den Gedanken bei mir,neigte meinen Kopf und küsste ihr auf die Handfläche. Sie war entzückt und verbeugte sich. Ich hatte sie sehr vermisst, und doch hatte mich die Zeit nicht gelehrt für ihr Leben dankbar zu sein. Es klingt schlimm, so zu denken und ich machte mir Vorwürfe, dass ich solche Gedanken hatte, doch sie schien es nicht zu merken und so brauchte ich zumindest vor ihr keine Erklärung in Worte zu fassen. Hatte mich der Krieg vielleicht zu etwas gemacht dass ich nicht bin? Zu einem Soldaten allemal. Ich habe Menschen getötet, die genauso wie ich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren waren. Hat mich dieses sinnlose Töten abgehärtet? Doch ich weiß, dass Du keine Antwort auf meine Fragen kennst.
Erinnerst Du dich an unsere Zeit als Kinder. Wir waren schon damals unzertrennlich. Einmal haben wir der alten Dame vom Gemüsehaus Hundescheiße vor die Tür gelegt. Es klingt dumm, aber es war einfach fantastisch damals. Mit 13 Jahren hast du dich total in Jennifer verknallt und dann seid ihr doch tatsächlich miteinander gegangen. Unglaublich!
Ich musste dich trösten, weil sie Dich versetzt hat. Weißt du noch?
Ich sagte Dir, dass wir genug Zeit haben werden, um das Herz einer Frau zu gewinnen.
Ich schweife vom Thema ab. Ist doch komisch, oder? Obwohl ich nie Briefe schrieb, geht mir dieser so leicht von der Feder, dass man hätte glauben können, ich hätte die Worte einstudiert.
Ich kann Dir eins sagen, es ist nicht leicht. Man denkt, dass alles besser wird, wenn man wieder zu Hause ist. Doch so ist es nicht. Man ist zu Hause und doch ist das wirkliche Heim ferner denn je. Gefühle, die man schon vergessen hat, überfallen mich und lassen mich in die Vergangenheit schauen. Du weißt, die Zeit in der wir nicht zum Töten verurteilt waren. Doch es war auch eine Zeit in der wir es noch vor uns hatten - das Leiden - Zuhause hat man die Zeit, die einem im Krieg fehlt, um zu überlegen. Ich habe versucht zu verstehen, wieso alles so gekommen ist, wie es kam, und doch fand ich keine Antwort. Ich fühle die Ungerechtigkeit, die uns angetan wurde und doch bin ich auf niemanden sauer. Ich fühle den Willen nach Liebe, der mir über Monate geraubt wurde. Ich sehe bestürzte Gesichter von Menschen, die jemanden verloren haben. Ich spüre deren Schmerz, und doch kann ich sie nicht trösten, weil ich mit den Lücken in meiner Seele zu kämpfen habe...


Mit meinen Worten, meinen Gefühlen, meiner Trauer, meiner Wut schreibe ich den Brief weiter und beende ihn, gebe ihn in einen Briefumschlag und lege ihn neben mich auf den Tisch. Es wird Zeit. Ich ziehe mich an und stecke den Brief in die Seitentasche meines Anzugs.
Von unten ruft Jana zu mir empor, ich solle runter kommen. Ich tue es. Zusammen mit Vater und ihr begebe ich mich nach draußen und wir laufen zusammen auf dem schmalen Bürgersteig.
Gedanken an Johann verfolgt jeden meiner Schritte und schon bald zeichnen Tränen tiefe Kerben in mein Gesicht. Wir sind da. Ich schließe meine Augen, schaue dem Himmel empor und werfe den Brief in das Grab meines besten Freundes Johann.


… Eines dieser Lücken hast Du hinterlassen. Und obwohl ich weiß, dass Du diesen Brief niemals lesen wirst, schreibe ich ihn. Weil Du ein Mensch bist, den ich nicht aus meinem Gedächtnis löschen kann. So sehr ich Dein Gesicht vergessen will, es erscheint mir vor meinen Augen. In Deinem Gesicht sehe ich die Schmerzen, die der Tod Dich gekostet hat. Jenen Tag nach dem Angriff wachte ich im Lazarett auf. Die ersten Worte waren die meines besten Freundes. Dem Menschen, der neben mir stehen sollte, doch er war nicht da. Und ohne zu wissen, was mit Dir passiert war, weinte ich. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass wir nicht getrennt wurden. In meinen Gedanken lebst du weiter. Es ist ein Ort, wo Du eine Zukunft hast. Ein Ort in dem Du leben und lieben darfst, wie es jeder Mensch tut. An diesem Ort sitzen wir zusammen und reden über die guten alten Zeiten. Es ist ein Ort, der Dir im richtigen Leben gestohlen wurde, durch einen Krieg, dem sein Leid uns auf die Schulter geschnürt wurde. Wir wollten leben, wir wollten alt werden, wir wollten eine hübsche Frau heiraten und wir wollten Kinder mit ihnen kriegen. Ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich Dich im Stich gelassen habe. Der Krieg hat mich verändert. Er ändert uns alle. Wir sind sein Spielzeug, das man in die Ecke wirft und auf dem man herumtrampelt. Doch diese Zeit ist vorbei, denn der Krieg hat gesiegt und hinterlässt in uns eine Leere, die mit nichts zu füllen ist. Sie hinterlässt in mir eine Leere, in der du verschwunden bist. Aber ich werde Dich niemals vergessen, denn du bist mein Freund, erinnerst du Dich?

In Liebe Stefan
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Generix, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Generix

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Erinnerst Du Dich?

Ich öffne die Tür meines Zimmers und trete langsam in die Ruine meines alten Ichs, als wäre ich ein Unbekannter in fremden Gebiet. Doch ein mir bekannter Geruch durchströmt mich und lässt mich tief einatmen. Ich spüre die Verbundenheit, die mich all die Jahre begleitet hat. Wie sehr habe ich den Geruch meiner Bücher, meines Bettes, des Holzes meines Schreibtisches vermisst. Ich wurde vor zwei Monaten im Krieg verwundet, ich bin jung und ich bin glücklicher den je und doch erfüllt mich eine Trauer. Aber auch ein gewisses Schuldgefühl meiner Kameraden und meines guten Freundes Johann wegen, die ich an der Front im Stich gelassen habe, lässt mich nicht in Frieden.
Ich schleiche tiefer in mein aufgeräumtes Zimmer hinein und schaue mich um. Alles liegt an seinem Platz. Und obwohl es albern klingt, solch einen Vergleich zu starten, erkenne ich in meinem Zimmer keine Anzeichen für einen Krieg. Wie soll ein aufgeräumtes Zimmer in Verbindung mit dem Krieg gebracht werden? Ja, es ist albern, aber im Moment erinnert mich alles an den Krieg. Aber dies wird sich bestimmt ändern, wenn ich mich eingelebt habe; eingelebt, in ein warmes Haus, in dem keine Gefahr lauert und in dem ich keine Angst um mein Leben haben muss.
Nun bin ich Zuhause und doch sind meine Gedanken bei meinen Freunden. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas unternehmen muss und da fällt mir urplötzlich etwas ein. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich setze mich an meinen Schreibtisch, hole Papier und Stift aus meiner, seit Monaten ungeöffneten, Schublade und beginne an meinen Freund Johann zu schreiben:

Lieber Johann,
Erinnerst Du dich an unser Versprechen? Wir wollten einander nie im Stich lassen... Nun bin ich hier und Du dort. Und ich habe das Gefühl Dich im Stich gelassen zu haben. Wie Du immer sagtest: Mit einem Arm lässt es sich schwer kämpfen. Ich kann dir sagen, dass das mit einem Bein auch nicht leichter ist. Aber ich will mich nicht dafür entschuldigen, weil ich denke, dass du mich verstehst mein Freund.
Gestern Abend kam ich nach Hause. Das Taxi brachte mich direkt vor die Haustür. Der Fahrer schien noch irgendwas zu sagen, doch ich hörte schon nicht mehr hin. Ich war wie in Trance. Ich öffnete die Tür des Autos und bewegte mich wie in einem Traum auf unser Haus zu. War das alles Realität? Bin ich wirklich auf dem Weg nach Hause? Der Weg fühlte sich so richtig an und ich war so in Gedanken, dass ich ihn ohne Krücken ging. Doch der Sturz in die Pfütze aus Dreck ließ mich aus der Vorstellung, alles wäre okay, erwachen. Ich fühlte mich wieder im Krieg und so presste ich mich tiefer in die Pfütze. Es war eine unkontrollierbare Reaktion. Ich wollte zugleich schreien und weinen, doch der Dreck hinderte mich daran. Ich erinnerte mich an den Augenblick, als wir das Zischen über uns hörten, uns gegenseitig in den Erdtrichter vor uns drückten und einander festhielten bis die Gefahr vorüber schien.
Erst als mein Vater mich aus der Pfütze zog, gingen meine Gedanken wieder einen normalen Weg. Und obwohl ich am ganzen Körper verdreckt und schmutzig war, umarmte er mich - so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Als wir uns losließen hätte ich schwören können, dass er weinte, doch ich kann nichts Genaues sagen, denn er lotste mich mit einer Handbewegung ins Haus, um mir dann den Rücken zu kehren. Ich humpelte ins Haus, mein Blick fest auf meinen Vater gerichtet. Er zeigte mir immer noch die kalte Schulter. Ich vermute, es war ihm peinlich zu weinen. Er war immer mein Vorbild gewesen und obwohl er nicht im Krieg gewesen war, sah ich ihn an den Folgen zusammenbrechen. Es war ein seltsames Gefühl. Du kennst meinen Vater mindestens genauso lange wie ich und deshalb weißt du wovon ich rede.
Ich kam also an unserer Haustür an und schon wurde die Tür aufgerissen. Meine Schwester Jana steht mit strahlenden Augen vor mir und warf sich mir um den Hals. Zum ersten Mal seit ich aus dem Krieg gekommen war, muss ich auflachen, doch das einzige Wort, das ich von mir geben konnte, war >Schwesterherz<. Und obwohl ich wusste, dass ich sie nicht ewig festhalten kann, wollte ich mich nicht von ihr lösen. Und sie schien es zu merken, und ließ mich nicht los. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, als sie zu mir sagte, dass sie mich lieb hat. Wie oft habe ich Dir diese Worte vorgelesen, wenn wir uns gegenseitig unsere Briefe von Zuhause vorlasen? Es waren Worte, die mich zu einem anderen Menschen werden ließen, denn man wusste, dass jemand Zuhause war und sich Sorgen machte. Doch werden sie einem gesagt, haben sie eine völlig andere Wirkung, als das Geschriebene. Mit diesen Worten kam die Wärme und die Geborgenheit und ich fühlte mich mit einem Mal sicherer.
Doch ich spürte auch, dass Jana weinte. Ihr ganzer Körper bebte und doch war der Moment so still und erleichternd.
Im Nachhinein frage ich mich, wie meine Schwester und mein Vater die Zeit überstanden hatten, in der ich weg gewesen war. Sie hatten Wochenlang Angst, dass ihr Bruder bzw. Sohn nicht mehr zurück kommen würde. Unsere Aufgabe war es lediglich, ihre Angst zu mildern, indem wir überlebten. Wir nehmen das Leben als selbstverständlich hin und gehen davon aus, dass es dann endet, wenn wir es wollen. Der Krieg hat uns etwas anderes gelehrt und ich bin froh über jeden neuen Tag mit meiner Familie.
Ich löste mich nach einer langen Zeit von meiner Schwester und so standen wir uns gegenüber. Sie hatte ihre Hand auf meiner Wange. In dem Moment stellte ich mir die Frage, wieso ich ihre Berührung nicht spürte? Doch ich blieb mit den Gedanken bei mir,neigte meinen Kopf und küsste ihr auf die Handfläche. Sie war entzückt und verbeugte sich. Ich hatte sie sehr vermisst, und doch hatte mich die Zeit nicht gelehrt für ihr Leben dankbar zu sein. Es klingt schlimm, so zu denken und ich machte mir Vorwürfe, dass ich solche Gedanken hatte, doch sie schien es nicht zu merken und so brauchte ich zumindest vor ihr keine Erklärung in Worte zu fassen. Hatte mich der Krieg vielleicht zu etwas gemacht dass ich nicht bin? Zu einem Soldaten allemal. Ich habe Menschen getötet, die genauso wie ich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren waren. Hat mich dieses sinnlose Töten abgehärtet? Doch ich weiß, dass Du keine Antwort auf meine Fragen kennst.
Erinnerst Du dich an unsere Zeit als Kinder. Wir waren schon damals unzertrennlich. Einmal haben wir der alten Dame vom Gemüsehaus Hundescheiße vor die Tür gelegt. Es klingt dumm, aber es war einfach fantastisch damals. Mit 13 Jahren hast du dich total in Jennifer verknallt und dann seid ihr doch tatsächlich miteinander gegangen. Unglaublich!
Ich musste dich trösten, weil sie Dich versetzt hat. Weißt du noch?
Ich sagte Dir, dass wir genug Zeit haben werden, um das Herz einer Frau zu gewinnen.
Ich schweife vom Thema ab. Ist doch komisch, oder? Obwohl ich nie Briefe schrieb, geht mir dieser so leicht von der Feder, dass man hätte glauben können, ich hätte die Worte einstudiert.
Ich kann Dir eins sagen, es ist nicht leicht. Man denkt, dass alles besser wird, wenn man wieder zu Hause ist. Doch so ist es nicht. Man ist zu Hause und doch ist das wirkliche Heim ferner denn je. Gefühle, die man schon vergessen hat, überfallen mich und lassen mich in die Vergangenheit schauen. Du weißt, die Zeit in der wir nicht zum Töten verurteilt waren. Doch es war auch eine Zeit in der wir es noch vor uns hatten - das Leiden - Zuhause hat man die Zeit, die einem im Krieg fehlt, um zu überlegen. Ich habe versucht zu verstehen, wieso alles so gekommen ist, wie es kam, und doch fand ich keine Antwort. Ich fühle die Ungerechtigkeit, die uns angetan wurde und doch bin ich auf niemanden sauer. Ich fühle den Willen nach Liebe, der mir über Monate geraubt wurde. Ich sehe bestürzte Gesichter von Menschen, die jemanden verloren haben. Ich spüre deren Schmerz, und doch kann ich sie nicht trösten, weil ich mit den Lücken in meiner Seele zu kämpfen habe...


Mit meinen Worten, meinen Gefühlen, meiner Trauer, meiner Wut schreibe ich den Brief weiter und beende ihn, gebe ihn in einen Briefumschlag und lege ihn neben mich auf den Tisch. Es wird Zeit. Ich ziehe mich an und stecke den Brief in die Seitentasche meines Anzugs.
Von unten ruft Jana zu mir empor, ich solle runter kommen. Ich tue es. Zusammen mit Vater und ihr begebe ich mich nach draußen und wir laufen zusammen auf dem schmalen Bürgersteig.
Gedanken an Johann verfolgt jeden meiner Schritte und schon bald zeichnen Tränen tiefe Kerben in mein Gesicht. Wir sind da. Ich schließe meine Augen, schaue dem Himmel empor und werfe den Brief in das Grab meines besten Freundes Johann.


… Eines dieser Lücken hast Du hinterlassen. Und obwohl ich weiß, dass Du diesen Brief niemals lesen wirst, schreibe ich ihn. Weil Du ein Mensch bist, den ich nicht aus meinem Gedächtnis löschen kann. So sehr ich Dein Gesicht vergessen will, es erscheint mir vor meinen Augen. In Deinem Gesicht sehe ich die Schmerzen, die der Tod Dich gekostet hat. Jenen Tag nach dem Angriff wachte ich im Lazarett auf. Die ersten Worte waren die meines besten Freundes. Dem Menschen, der neben mir stehen sollte, doch er war nicht da. Und ohne zu wissen, was mit Dir passiert war, weinte ich. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass wir nicht getrennt wurden. In meinen Gedanken lebst du weiter. Es ist ein Ort, wo Du eine Zukunft hast. Ein Ort in dem Du leben und lieben darfst, wie es jeder Mensch tut. An diesem Ort sitzen wir zusammen und reden über die guten alten Zeiten. Es ist ein Ort, der Dir im richtigen Leben gestohlen wurde, durch einen Krieg, dem sein Leid uns auf die Schulter geschnürt wurde. Wir wollten leben, wir wollten alt werden, wir wollten eine hübsche Frau heiraten und wir wollten Kinder mit ihnen kriegen. Ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich Dich im Stich gelassen habe. Der Krieg hat mich verändert. Er ändert uns alle. Wir sind sein Spielzeug, das man in die Ecke wirft und auf dem man herumtrampelt. Doch diese Zeit ist vorbei, denn der Krieg hat gesiegt und hinterlässt in uns eine Leere, die mit nichts zu füllen ist. Sie hinterlässt in mir eine Leere, in der du verschwunden bist. Aber ich werde Dich niemals vergessen, denn du bist mein Freund, erinnerst du Dich?

In Liebe Stefan
 



 
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